5. Kapitel
Das war also ihre kleine Hütte. Zumindest vorläufig. Eigentlich gehörte sie einem Benjamin, der zurzeit in Australien studierte. Aber in den nächsten zwei Jahren würde sie schon eine andere Unterkunft finden. Vivien und Robert hatten ihre wenigen Sachen, die sie fast ausnahmslos von Vivien bekommen hatte, herübergetragen. Zuvor hatte Diana, eine der Frauen aus dem Dorf, die Hütte komplett geputzt und Benjamins persönliche Sachen in einem Schrank verstaut. Das Bett war frisch bezogen und in dem kleinen Wohnzimmer standen mehrere Kartons und Körbe.
»Die anderen aus dem Rudel haben dir ein paar Sachen geschenkt. Wenn du sonst noch etwas brauchen solltest, sagst du mir einfach bescheid.« Vivien hatte traurig ausgesehen, als sie mit ihr zusammen den Kleiderschrank eingeräumt hatte. Snow hatte sie beim Abschied fest umarmt und ihr zugeflüstert, dass sie ihr für alles dankte und sie sehr gern hatte. Jetzt saß sie hier, ganz allein und ihre Gedanken drehten sich um die Frage, was am nächsten Tag passieren würde.
Es stand ein großes Fest an, bei dem alle halfen. Es war der Jahrestag der Rudelgründung und die Aufgaben waren schon größtenteils vergeben. Also blieb für Snow nur die Hilfe bei den Dekoarbeiten und vielleicht beim Kochen, wenn man sie mitmachen ließ. Ob die anderen im Rudel sie gut aufnehmen würden? Oder ob sie sie ausgrenzen, weil sie eine Fremde war? Die Kommentare, die einige Männer bei ihrem Spaziergang mit Vivien hatten verlauten lassen, waren ermutigend. Aber ob die Frauen auch so reagieren würden? Vielleicht sahen sie in Snow eine Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Männer.
Als sie versuchte, sich an die vielen Gesichter der Rudelmitglieder zu erinnern, schweiften ihre Gedanken immer wieder zu Robert. Wie er ausgesehen hatte, als er sie im Schnee fand. Wie er sie die ganze Zeit immer hin und her getragen hatte.
Ihr Herz begann schneller zu schlagen und sie überlegte sich, wie eine Zukunft mit ihm aussehen könnte. Ob sie viele Kinder hätten. Ob sie ihn glücklich machen könnte. Sie dachte an seinen Körper. Durch die vielen Jagden war er durchtrainiert und trotzdem umgänglich und nett. Niedlich und sexy. Wie würde er wohl im Bett sein? Wäre der Sex mit ihm gut? Moment! Sie riss erschrocken die Augen auf. Er war der Mann von Vivien. Wie kam sie plötzlich dazu, sich ihn nackt vorzustellen? Nackt und mit ihr im Bett? Sie schüttelte den Kopf, mit der Absicht, alle Gedanken an Robert zu verscheuchen. Als das nicht funktionierte, stand sie auf und bereitete sich in der Küche einen kleinen Snack zu. Danach machte sie sich bettfertig und ließ sich auf die weiche Matratze sinken. Sie vermisste Vivien, aber noch mehr vermisste sie Robert. Und das war aus ihrer Sicht nicht gut.
Greg hämmerte an Roberts Tür und rief nervös dessen Namen.
»Was ist denn?« Robert trug nur seine Pyjamahose, die er eilig übergezogen hatte.
»Du musst schnell kommen. Snow ...«
»Was ist mit ihr?« Greg scharrte mit den Füßen auf dem Boden.
»Ich glaube, sie ist eine Schlafwandlerin.« Robert ging zurück ins Zimmer und holte seinen Mantel.
»Wo ist sie?«
»Sie ist in den Wald gelaufen.« Robert fuhr Greg wütend an: »Warum hat sie niemand aufgehalten?« Greg wurde rot.
»Sie ist nicht als sie selbst in den Wald gelaufen.« Er schlug die Tür hinter sich zu.
»Wie meinst du das?« Greg sah ihm fest in die Augen.
»Sie hat sich in einen weißen Wolf verwandelt und ist dann in den Wald gelaufen.« Robert blieb stehen.
»Das ist doch nicht dein ernst?« Greg nickte eifrig.
»Doch, doch. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.« Robert zog seine Stiefel an und folgte Greg nach draußen. Er konnte es einfach nicht glauben. Greg musste sich versehen haben. Es war seit Jahrhunderten kein richtiger Wolf mehr gesehen worden. Und ausgerechnet Snow sollte einer sein? Als er vor ihrer Hütte war, zeigte Greg ihm die Spuren.
»Hier sind ihre Fußspuren.« Sie folgten ihnen ein Stück. Plötzlich wurden aus den menschlichen Spuren nach und nach Wolfsabdrücke.
»Das gibt es doch nicht!« Als sie ein Knirschen im Unterholz hörten, sahen beide Männer auf. Ein riesiger, weißer Wolf kam auf sie zu. Ohne langsamer zu werden oder die Männer zu beachten, ging er an ihnen vorbei. Etwa zwanzig Meter vor Snows Hütte verjüngte sich der Wolf und Snow stand nackt vor der Tür. Sie öffnete sie und ging hinein. Robert stand wie gelähmt da und konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Sie hatte sich in einen echten Wolf verwandelt. Das konnte doch nicht wahr sein! Dann wandte er sich Greg zu.
»Du bleibst hier und hältst wache. Wenn wieder so etwas passiert, rufst du mich sofort.« Greg nickte und bezog vor Snows Hütte Stellung. Robert ging zu seiner Eigenen und blieb, immer noch verwirrt, in der Tür stehen. Vivien hatte sich in der Zwischenzeit ein Nachthemd und einen Morgenmantel übergeworfen und kam nun auf ihren Mann zu.
»Was ist denn passiert? Geht es Snow gut? Wir hätten sie doch noch etwas hier behalten sollen.« Robert schüttelte den Kopf.
»Sie ist ein Wolf.« Vivien zog ihre Augenbrauen hoch.
»So wie wir.«
»Nein. Sie ist ein richtiger Wolf. Sie kann sich verwandeln.« Vivien ging zurück zum Bett und setzte sich.
»Dann würde ihr Gedächtnisverlust auch einen Sinn ergeben. Stell dir vor, Odin hat sie erschaffen. Wie könnte sie sich an etwas erinnern, was nie gewesen war?« Das leuchtete Robert ein.
»Dann muss der Mann, der sie vergewaltigt hat, es direkt nach ihrer Erschaffung getan haben. Und sie verdrängt es.« Er nickte zustimmend. Wenn Viviens Theorie stimmte, war die Kleine von Hekate und Odin begünstigt. Und sie war wirklich göttinnengleich. Dieser Körper ... Dann schüttelte er wieder den Kopf.
»Sie hat diese Träume. Das könnten Erinnerungen sein. Woher sollten sie sonst kommen?«
Für den darauffolgenden Samstag war ein großes Fest geplant, um den Jahrestag der Rudelgründung zu feiern. Snow half Vivien und den anderen Frauen bei der Vorbereitung und war immer wieder über ihre eigene Kraft erstaunt. Ohne Probleme konnte sie schwere Holztische anheben und an einen anderen Platz räumen. Auch schwere Getränkekisten hob sie an wie einen leeren Tragekorb.
»Schau mal, Vivien!« Die kleine Brünette schmunzelte und stimmte ein fröhliches Gelächter ein.
»Übernimm dich nicht. Du bist zwar wieder gesund, aber dein Körper muss sich erst wieder an die Belastung gewöhnen.« Die anderen Frauen kicherten ebenfalls und schienen Snow sehr zu mögen. Zumindest feindeten sie sie nicht an.
Vivien hatte am Abend zuvor extra alle Frauen des Rudels angerufen, um sie zu bitte, nachsichtig mit Snow umzugehen. Sie konnte noch nicht so stark zupacken und würde wohl nur leichte Aufgaben zugeteilt bekommen.
Aber die Anrufe waren wohl gar nicht nötig gewesen. Snow freundete sich schnell mit allen an und schien gut angenommen worden zu sein. Aber das konnte auch daran liegen, dass alle Mitleid mit ihr hatten. Jeder im Rudel wusste, wie sie im Wald aufgefunden wurde und sie hatten auch die bangen Tage ihrer langsamen Genesung verfolgen können.
Als Snow in ihre eigene Hütte gezogen war, hatten die anderen Frauen sogar verschiedene Sachen aus ihren eigenen Haushalten beigetragen, damit sie es etwas wohnlicher hatte.
Und Vivien war aufgefallen, dass Snow ein Männermagnet zu sein schien. Auch schon vor der Entdeckung ihrer besonderen Fähigkeiten. Jetzt würde sie sich vor Verehrern kaum noch retten können, wenn sich denn mal einer traute, sie anzusprechen.
Bei ihr und Robert war es damals ähnlich gewesen. Sie war in ihn verliebt und er in sie, aber keiner der beiden wollte es zugeben. Erst als sie den Antrag eines anderen Wolfes bekommen hatte, war Robert über seinen Schatten gesprungen und hatte um ihre Hand angehalten. Und seine Werbung war wirklich süß gewesen. Wobei er auch den Vorteil hatte, dass er sie schon eine Weile gekannt hatte und sie seinen Avancen nicht gleichgültig entgegen stand. Sonst wäre sie wohl jetzt nicht mit ihm verheiratet. Sie seufzte.
Eigentlich würde jetzt nur noch ein Kind zu ihrem vollkommenen Glück fehlen. Aber das würde wohl ein Wunschtraum bleiben. Selbst jüngere Pärchen, die erst seit kurzem zusammen war, hatten schon ein Kind. Nur bei ihr wollte es einfach nicht funktionieren.
Snow hing eben eine Girlande auf, als ein Schatten auf sie fiel. Als sie nicht angesprochen wurde, drehte sie sich schließlich neugierig um und sah einen dunkelhaarigen Mann, der verlegen auf den Boden sah. Wie hieß er noch gleich?
»Hallo Snow. Ich ... Äh ... Willst du ... Hast du Lust ...« Irgendwie, war es richtig niedlich. Jordan hielt den Blick weiterhin gesenkt und seine Wangen glühten förmlich, als er sie stotternd fragte, ob sie mit ihm auf das Fest gehen wollte.
»Gerne. Treffen wir uns hier oder holst du mich ab?« Völlig perplex, dass sie wirklich zugesagt hatte, sah er ihr in die Augen und sagte: »Ich hol dich ab.« Er schien nett zu sein, sonst hätte sie nicht zugestimmt. Und dieser erwachsene Mann freute sich wie ein Schneekönig über ihre Zusage.
Vielleicht konnte sie Robert mit ihm eifersüchtig machen. Einen Versuch war es wert. Und wenn es nicht klappen sollte, würde sie trotzdem einen netten Abend mit Jordan verbringen. Er schien ihr noch der harmloseste von den ganzen Männern zu sein, obwohl alle Männer des Rudels sehr gut aussehend waren und sich sehr um sie bemühten.
Jedes Mal, wenn sie über den Platz ging, tauchte einer neben ihr auf und half ihr. Egal ob sie ein Buch oder eine schwere Kiste trug. Es war immer mindestens ein Mann in der Nähe, der ihr unter die Arme griff. Mit den Charmeuren hatte sie geflirtet, mit den schüchternen hatte sie einen kleinen Plausch gehalten. Alles ganz unverfänglich und freundschaftlich. Ihr Herz schlug immerhin nur für Einen.
Als Jordan wieder gegangen war, tauchte Vivien neben ihr auf und zwinkerte verschwörerisch.
»Die Männer sind ganz verrückt nach dir.« Snow sah sich um. Tatsächlich starrten sie alle Männer verliebt an. Als es um die Hütte ging, hatten Vivien und Robert auch schon erwähnt, dass sie sowieso nicht lange brauchen würde, bis sie einen Partner bekäme.
Die kleine Brünette legte ihr beruhigend die Hand auf den Rücken.
»Du musst natürlich nicht mit einem von ihnen etwas anfangen, wenn du das nicht willst. Robert hat ihnen außerdem gesagt, dass jeder, der dir etwas antut, es mit ihm zu tun bekommt.« Robert. Ihre Gedanken verabschiedeten sich wieder in die Traumwelt.
Sie hatte es vor ihrem Einzug in die kleine Hütte überhaupt nicht bemerkt. Aber nun, da sie allein war, vermisste sie Robert. Vivien vermisste sie natürlich auch, aber auf eine andere Art und Weise wie Robert.
Über ihn dachte sie die meiste Zeit nach. Über seinen Charakter. Wie er mit ihr umgegangen war. Wie er sie umsorgt hatte. Auch sein Körper interessierte sie plötzlich.
Und genau das war der ausschlaggebende Punkt, als ihr klar wurde, dass sie ihn liebte.