10. Kapitel
Cass nahm Charlott hoch und setzte sie auf ihren Schoß. Sie roch immer noch herrlich nach Baby und Sonne. Wie sie diesen Duft vermisst hatte.
»Wo ist denn Carla?« Richard bückte sich eben nach einem von Charlotts Plüschtieren und sie konnte ein sanftes Lächeln um seine Mundwinkel sehen.
»Sie telefoniert oben mit irgendeinem Wohlfahrtskomitee. Frag mich lieber nicht. Ich hab ihr gesagt, dass das Geld zu ihrer freien Verfügung steht und sie sich neue Sachen kaufen kann, aber keine fünf Minuten später unterhielten wir uns schon darüber, welche Hilfsprojekte sie in der Stadt unterstützen könnte.« Er schüttelte amüsiert den Kopf.
»Sie ist unglaublich.« Susan hatte ihr nach Dereks Flucht schon über Carlas Kunstliebhaberei erzählt. Und das Kloster hatte diese Liebhaberei wohl in Nächstenliebe umgewandelt. Besser, als wenn sie sich jetzt in ein hochnäsiges Modepüppchen verwandeln würde.
»Geh ruhig hoch. Sie war schon den ganzen Morgen völlig aus dem Häuschen, dass du mit ihr zusammen das Brautkleid aussuchst.« Er nahm ihr Charlott ab, die sich sofort an ihn schmiegte und ein zufriedenes Gurren von sich gab. Das war neu. Aber so, wie sich Richard und Carla um die Kleine bemühten, war es kein Wunder, dass Charlott sie als ihre Eltern adoptiert hatte. Sie legte ihre Hand auf ihren Bauch, eine Geste, die sie in letzter Zeit immer unbewusster machte, und freute sich insgeheim, dass sie bald ihr eigenes Kind im Arm halten konnte.
»Also gut. Dann schau ich mal, wo sie bleibt.« »Nimm ihr am besten das Telefon weg, wenn sie immer noch telefoniert.« Carla war eine richtige Quasseltante. Immerhin hatte sie über dreißig Jahre stilles Klosterleben abzuarbeiten.
William hatte ihr vor ein paar Monaten gesagt, dass Carla früher sehr quirlig und sehr neugierig gewesen war. Seit ihrer Hochzeit mit Derek hatte sie sich in eine stille und zurückhaltende Person verwandelt.
Aber jetzt schien sie sich mit Richard sehr wohl zu fühlen. Das spürte sie schon bei den ersten Telefonaten. Er tat ihr gut. Er liebte sie über alles und würde für sie den Mond vom Himmel holen.
Als Cass das Schlafzimmer von Carla und Richard betrat, hörte sie Carla im Bad. Und ja, sie telefonierte immer noch.
»Auf jeden Fall. Die Gartenanlage in dem Kloster wäre perfekt für das Titelbild. Und die Oberin ist eine sehr nette Frau. Sie unterstützen das Obdachlosenheim und helfen, wo sie können.« In einem roten Rollkragenpullover und mit schwarzen Jeans kam Carla heraus und lächelte strahlend, als sie Cass sah. Sie hob den Zeigefinger, um ihr zu signalisieren, dass es noch eine Minute dauern würde.
Cass sah sich in der Zwischenzeit um. Auch hier lagen überall Spielzeuge und Plüschtiere herum. Neben dem Bett war ein Stapel mit Bilderbüchern und Cass konnte sich richtig vorstellen, wie die Drei abends auf dem großen Bett saßen und gemeinsam Bücher ansahen. Ein hübsches, kleines Familienidyll.
Bei ihren Adoptiveltern war es auch so gewesen. Selbst im Teenager alter waren Carmen und sie mit jedem Problem zu ihren Eltern gegangen. Sie wusste noch genau, wie ihre Mutter in die Luft gegangen war, als Cass von dem Gerücht in der Schule erzählt hatte. Zwar konnten sie es nicht aus der Welt schaffen, aber es hatte sie unheimlich aufgebaut, dass sie ihr geglaubt hatte.
Sogar bei ihrer Einschätzung gegenüber Rick hatte sie recht behalten. Er hatte sie in ihrer schweren Zeit einfach verlassen. Als sie ihn vor ein paar Monaten getroffen hatte, schien er zwar wieder an ihr interessiert zu sein, aber damals hatte sie schon ihren Josh. Sie hatte einen netten kleinen Plausch mit ihm gemacht und war dann wieder zu Annika gegangen.
Auch was Annika anging, hatte ihre Mutter recht behalten. Schon im Kindergarten hatte sie gesagt, dass die hübsche Blondine eine sehr gute Freundin war, auf die man sich verlassen konnte. Auch wenn sie etwas aufgekratzt und laut war. In jeder Lebenslage hatte sie bis jetzt zu Cass gehalten, egal worum es ging.
»Hallo Schatz. Wir können los.« Carla riss sie damit aus ihren Gedanken.
Seit der Schwangerschaft war ihre Beziehung von etwas befremdlich zu freundschaftlich geworden. Cassandra sah in ihr nicht unbedingt die Mutter, sondern viel mehr eine Freundin oder Schwester. Das entspannte die Situation um einiges. Auch Carlas Jugend bzw. ihr jugendliches Aussehen trugen viel dazu bei, dass Cass sich mit ihr zusammen wohl fühlte. Carla und Cass telefonierten mindestens zweimal in der Woche miteinander und trafen sich am Wochenende oft zum Shoppen.
Da Derek immer noch auf freiem Fuß war und beide Rudel bedroht waren, wurden die Frauen immer von mindestens einem Wachmann begleitet, was manchmal ziemlich nervtötend sein konnte, vor allem, wenn man mal etwas expliziter in den Ausführungen über einen Mann oder ein Erlebnis werden wollte.
Cass hörte das Rascheln des Stoffes und sah wieder auf. Carla sah wirklich bezaubernd aus. Und jedes Mal war es, als würde sie in einen Spiegel schauen, wenn sie sich mit ihrer Mutter traf. Wie heute zur Brautkleidanprobe.
»Und? Was sagst du?« Das Kleid war reinweiß mit dunkelroten Blütenaplikationen, die sich über das ganze Kleid verteilten wie Ranken. Sie selbst hasste alle Rottöne, aber sowohl ihre Mutter als auch ihre verstorbene Zwillingsschwester hatten ein richtiggehendes Faible für Weinrot und rosa. Wobei es ihrer Mutter auch stand. Es wirkte nicht billig und überladen durch die roten Haare. Es war einfach nur hübsch.
»Sehr schön. Nimmst du noch einen Schleier oder nur ein Diadem?« In der Auslage des Brautgeschäftes lagen viele schöne Stücke vom ansässigen Juwelier. Auch Cassandra hatte hier ihre komplette Brautausstattung gekauft.
»Ein Diadem. Bei meiner Hochzeit mit Derek hatte ich einen Schleier. Das würde nur schlechte Erinnerungen wecken.« Cass wusste, dass Carla nicht gern über ihre Zeit mit Derek sprach. Immer wieder lenkte sie das Gespräch in Richtung Richard, wie sie sich kennengelernt hatten und schließlich ein Liebespaar wurden. Von den Jahren im Kloster gab es auch nicht viel zu erzählen, also beließen es die beiden Frauen meistens auf Gespräche über die gegenwärtigen Geschehnisse. Wie zum Beispiel Carlas Hochzeit.
»Und deine Schuhe?« Carla grinste.
»Ich hab mir letztens welche von Louboutin gekauft. Sehr hübsch und sehr teuer.« Da sie bis jetzt im Kloster gelebt hatte, und vorher mehr am Studium als am Einkaufen interessiert gewesen war, eröffnete sich ihr ein ganz neues Terrain. Kleider, Schuhe und Handtaschen. Und Richard bestand darauf, dass sie sich von allem nur das Beste kaufen sollte. Er verwöhnte sie sowieso recht stark und trug sie auf Händen. Aber wenn man seine große Liebe, die man bereits seit dreißig Jahren tot geglaubt hatte, plötzlich wieder fand, war das wahrscheinlich normal.
»Du Biest!« Erik sprang von seinem Stuhl und knallte die Tastatur auf den Schreibtisch. »Nein!« Wieder sah er auf den Bildschirm, der ihn eindeutig als Tod auswies. Dieser neue Spieler hatte ihn innerhalb von zwei Minuten getötet. Das hatte bisher noch keiner geschafft.
Plötzlich wurde ein DOS-Fenster auf dem Bildschirm geöffnet und wie von Geisterhand erschien:
Hallo Erik. Ich hoffe, du bist kein schlechter Verlierer.
Er setzte sich sofort wieder hin und fuhr nebenbei seinen gesicherten Rechner hoch. Sein Sicherheitssystem war eigentlich zu gut, um einen Hacker vorbei zu lassen. Als sein gesicherter Rechner hochgefahren war, tippte er eine Reihe befehle ein und hackte sich auf der Spieleplattform in die Mitgliederliste. Für ihn war es ein Leichtes, da er jahrelang Computertechnik und Informatik studiert hatte. Plötzlich wurde der Bildschirm schwarz und er sah wieder zu seinem Spielrechner.
Es ist unhöflich, einfach an einen anderen Computer zu gehen, wenn ich mit dir rede.
Er zog die Augenbrauen hoch. Schließlich tippte er seine Nachricht.
Wer bist du?
Ein neues Fenster öffnete sich und das Licht seiner Webcam ging an. Nach wenigen Augenblicken des Verbindungsaufbaus sah er ein schwarzhaariges Mädchen. Das Mädchen, das seit ein paar Wochen in seinen Träumen herumgeisterte.
»Josephine!?« Sie grinste in die Kamera und hob die Hand zum Gruß.
»Ah. Ich sehe, du erinnerst dich an mich.« Ihm blieb der Mund offen stehen.
»Wie hast du meine Computer gehackt? Der eine war hoch gesichert!« Sie grinste, aber er fand das gar nicht lustig. Es war etwas völlig anderes, wenn er sich irgendwo auf einen gesicherten Rechner hackte. Aber das dieses kleine Mädchen seine Barrieren einfach so überwinden konnte, war ihm rätselhaft.
»Ich sitze seit Jahren fast ausschließlich an meinem Rechner. Und irgendwann weiß man alles.« Sie zuckte mit den Schultern, grinste aber immer noch.
»Sei nicht eingeschnappt. Außerdem hast du bedeutend länger überlebt, als meine bisherigen Gegner.« Als er nun fragend die Brauen hob, wurde ihr Grinsen noch breiter. »Das Spiel. Ich hab dich besiegt.«
»Das war nur Glück.« Er führte sich wie ein kleines, trotziges Kind auf, aber das störte ihn im Moment weniger.
»Wir können es ja gern noch einmal wiederholen. Ich hab massenhaft Zeit.« Das hätte er auch gern, aber gleich war eine Versammlung im Speisesaal.
»Tut mir leid, aber ich muss gleich weg.« Sie zog einen süßen Schmollmund.
»Schade.«
»Wie wäre es heute Abend? Ich gehe gegen neun Uhr wieder online.« Diese Aussage erhellte das Gesicht der kleinen Schwarzhaarigen wieder.
»Super. Mal sehen, wie ich die Zeit bis dahin totschlage.« Da würden wohl noch ein paar animierte Köpfe fallen, bis er wieder an den Rechner konnte. Er sah, wie das Licht der Kamera erlosch, und nahm sich vor, ab jetzt entweder die Kamera abzudecken oder seine kleinen Entspannungsübungen ins Badezimmer zu verlegen.
Als Erik den Speisesaal betrat, saß Sylvester schon an seinem angestammten Platz und spielte mit seinem Handy. Er war wirklich sehr erleichtert gewesen, als diese Snow ihn wieder zu Verstand gebracht hatte. Auch wenn er jetzt davon überzeugt war, dass sie seine ehemalige Menschenfreundin war. Er hatte seinen Bruder noch nie so haltlos und aufgebracht erlebt. Er hatte sogar Josh bedroht. Und das wollte etwas heißen. Sylvester liebte Josh mehr als alle anderen Geschwister. Apropos Geschwister. Hatte Josh schon ihrer Mutter Bescheid gesagt? Sie war bei der Hochzeit von Cass und Josh etwas durch den Wind gewesen, nachdem sie Sylvester im Keller gesehen hatte. Das musste er ihn später unbedingt noch fragen.
»Hey Bruder. Wie geht’s dir?« Er zuckte nur mit den Schultern.
»Ich gehe wieder auf zwei Beinen und kann reden.« Immerhin hatte er noch etwas Humor behalten. Nichts war schlimmer als ein viel zu ernster Sylvester.
»Konntest du das vorher auch schon?« Sylvester stieß ihn spielerisch an der Schulter und blickte dann wieder auf sein Handy. Als Erik einen Blick darauf warf, sah er verschiedene Fotos von der kleinen Blondine. Zusammen mit Sylvester. Also musste doch etwas an seiner Geschichte dran sein.
»Wie lange kanntest du Snow schon, bevor das in der Fabrik passierte?«
»Maya! Sie heißt Maya.« Er legte das Handy beiseite und sah dann zur Decke.
»Ich kannte sie zu lange, um über ihren Tod hinwegsehen zu können, als wäre sie nie da gewesen. Das klappt einfach nicht bei mir.«
»Wusste sie alles über dich?« Er nickte.
»Sie wusste, dass du ein Wolf bist?« Sylvester sah schuldbewusst zu Boden.
»Als wir das erste Mal miteinander geschlafen haben, hab ich wohl irgendwie die Beherrschung verloren und meine Aura kam zum Vorschein.« Das überraschte Erik. Sein Bruder war normalerweise ein besonnener und kontrollierter Mann. Wie das Mädchen wohl reagiert hatte?
»Und sie ist daraufhin nicht schreiend weggerannt?« Sylvester lachte.
»Nein. Sie war eher fasziniert und wollte alles über die Wölfe wissen.« In diesen Moment ging die Tür auf und Josh trat zusammen mit den anderen ein. Nach einem kurzen Blick zu Sylvester sagte er in die Runde: »Robert ist vor einer halben Stunde zum Flughafen gefahren.« Alle sahen zu Sylvester. Niemandem war die offene Rivalität der beiden entgangen. Obwohl Robert mehr an Snows Sicherheit interessiert gewesen war, als an ihr Selbst. Sylvester hingegen würde wahrscheinlich mit jedem um sie kämpfen und keiner im Rudel war so dumm, es auch nur bei ihr zu versuchen. Erik klopfte ihm brüderlich auf die Schulter und konzentrierte sich dann wieder auf Josh, der seinen Platz am Ende des langen Tisches einnahm.