1. Kapitel
Als sie das nächste Mal zu sich kam, drang ein aufgeregtes Murmeln zu ihr durch und sie spürte zarte Hände auf ihrem nackten Körper. In ihrem Gesicht und ihrem Haar. Überall.
»Robert! Das arme Ding ist ja halb erfroren und schmutzig!« Robert. War das der hübsche Mann? Ihr Retter? Die Frau nahm die wohlige Wärme und zog scharf Luft ein. Sie hätte das auch gern getan, aber sie hatte keine Kontrolle über ihren Körper. Nicht einmal einen Finger konnte sie rühren. Am liebsten hätte sie geschrien: Mir ist kalt! Gebt mir diese Wärme zurück!
»Sie ... Weißt du, wer das war?« Sie klang zornig. Es kam keine Antwort. Oder hatte sie schon wieder das Bewusstsein verloren? Nein. Dafür war ihr eindeutig zu kalt. Ihre Hände und ihre Füße brannten wie Feuer und kribbelten unangenehm. Das gleiche spürte sie an Ohren und Nase.
»Ich hasse Männer, die einer jungen Frau so etwas antun und sie dann halb tot einfach irgendwo liegen lassen!«
»Wenn sie es schafft zu überleben, werden wir wissen, wer es war.« Redeten die beiden von ihr? Was hatten Männer ihr angetan? Schmerzte deswegen ihr ganzer Körper? Ihr Kopf dröhnte außerdem, als wäre sie von einem Lastwagen überfahren worden.
Sie spürte, wie sie auf etwas Weiches gelegt wurde. War das ein Bett? Sofort wurde ihr wärmer und sie spürte ein leichtes Gewicht auf ihrem Körper. Eine Decke. Herrlich. Doch nun begann ihr ganzer Körper unangenehm zu kribbeln und auch die Schmerzen verstärkten sich. Sie hätte zu gern aufgestöhnt und jemanden gesagt, dass ihr alles weh tat.
»Der Arzt ist da!« Der Mann, Robert, kam wieder ins Zimmer. Die Wärme verschwand wieder, was bedeutete, dass man ihr die Decke wieder genommen hatte. Große, starke Hände begannen, zuerst ihren Kopf abzutasten.
»Sie hat eine Platzwunde an der Stirn und eine große Beule am Hinterkopf. Gib mir bitte den Verband.« Sie spürte, wie jemand die Wunde abtupfte und dann verband.
»Wie lange ist sie schon bewusstlos?«
»Sie war nur einmal kurz wach, als wir sie gefunden haben.« Der Mann brummte kurz.
»Hat sie etwas gesagt, als sie wach war?«
»Nein. Sie hat mich kurz angesehen und ist dann wieder bewusstlos geworden.« Als der Mann ihren Hals und dann ihren Oberkörper abtastete, hätte sie am liebsten laut geschrien. Wie er dann ihren Arm anhob und die Schulter berührte, würgte sie aus ihrer trockenen Kehle einen heißeren Schrei heraus. Wollte er ihr den Arm abreißen?
»Ich glaube, das Schlüsselbein ist gebrochen.«
Wieder senkte sich ein dichter Nebelschleier über ihre Gedanken und sie war froh, den Schmerzen zu entrinnen.
Eine blondes, junges Mädchen stand in einem schäbigen Wohnwagen und sah auf eine am Boden sitzende Frau. Diese hatte nur ein übergroßes T-Shirt an und sah mit ihren fettigen, dunkelblonden Haaren sehr ungepflegt aus.
»Mama, wir haben nichts mehr zu essen da. Gib mir bitte Geld zum Einkaufen.« Die ältere Frau zündete sich eine Zigarette an und sah grimmig zu ihrer Tochter auf.
»Du bist alt genug, dein Geld selbst zu verdienen.« Das Mädchen wurde knallrot im Gesicht und schrie ihre Mutter an:
»Willst du damit sagen, dass ich wie du für ein paar Dollar die Beine breitmachen soll?« Mit einiger Mühe stand die Frau vom Boden auf und brachte sich vor ihrer Tochter in Position.
»Du bist alt genug. In deinem Alter hatte ich schon längst einen festen Kundenstamm. Und tu nicht immer so arrogant. Du bist genau wie ich und keinen Deut besser.«
»Hast du dir nur ein Mal meine Zeugnisse angesehen?« Das Mädchen stieß resigniert Luft aus. »Nein, hast du nie. Ich bin eine Einser-Schülerin. Ich könnte ein Stipendium an einer angesehenen Uni bekommen.« Ihre Mutter winkte lässig ab und blies ihr dann Zigarettenqualm ins Gesicht.
»Von unserer Familie war noch nie jemand auf dem Collage. Und ich werde dich nicht weiter durchfüttern. Du bist eine Last.« Sie ging zum Kühlschrank und holte sich eine Flasche Schnaps heraus. Mit der Zigarette im Mund, goss sie sich eine Kaffeetasse voll ein und stellte die Flasche wieder zurück. »Entweder du verdienst dein eigenes Geld oder du verschwindest.« Das Mädchen war sprachlos.
»Du bist meine Mutter!« Die Frau trank einen Schluck und sah dann auf den Boden.
»Ich hätte dich damals wegmachen lassen sollen. Aber ich hab das Geld von deinem Erzeuger für andere Sachen ausgegeben.« War das Mädchen erst rot vor Wut gewesen, so war es nun weiß wie ein Betttuch. Tränen schossen ihr in die Augen und sie erwiderte zornig: »Dann geh ich lieber, statt dir weiter auf der Tasche zu liegen.«
Sie schnappte sich ihren Schulrucksack und eine Sporttasche in die sie ein paar Klamotten stopfte. Danach holte sie ihre Bibel unter der schmalen Matratze hervor, auf der sie bis jetzt geschlafen hatte, und packte diese ebenfalls ein.
An der Tür drehte sie sich nicht noch einmal um, sondern sagte nur: »Lebe wohl!« Sie tauchte kurz aus der Traumwelt auf, aber gleich darauf wurde sie wieder von tiefem Schwarz umfangen. Es war, als würde sie unter Wasser gedrückt und hätte nur kurz Gelegenheit, Luft zu schnappen.
»Mit wem aus dem Rudel treibst du es? Oder machst du für alle die Beine breit?« Bei dieser hässlichen, männlichen Stimme zuckte sie ängstlich zusammen und ihr Körper verkrampfte sich. Um sie herum war immer noch alles dunkel und sie konnte nichts und niemanden erkennen.
Ein Schlag traf sie ins Gesicht, der sie ein ganzes Stück zurücktaumeln ließ. Wer war dieser Mann? Warum schlug er sie? Ohne etwas zu sehen, drehte sie sich um und rannte weg. Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Ihre Beine schmerzten und ihr war kalt, aber sie rannte. Immer schneller. Dann erschien ein greller Blitz am Himmel, der die Dunkelheit vor ihr brach. Ein Abgrund! Sie konnte nicht schnell genug stehen bleiben und fiel.
»Schhh. Ist ja gut. Hier bist du sicher. Beruhige dich!« Sie kam zu sich. In den Armen einer kleinen, brünetten Frau. Noch immer entrang sich ihrer Kehle ein lauter Schrei. Als sie es bemerkte, entspannte sie ihren Hals und der Schrei verklang im Zimmer. Anschließend begann sie fürchterlich zu zittern und eine Sturzflut von Tränen brach aus ihr heraus. Sie wusste noch nicht einmal, warum sie weinte. War es wegen des Mannes, der sie geschlagen hatte? Die Frau wich in der ganzen Zeit keinen Zentimeter von ihrer Seite.
»Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Wir beschützen dich.« Als das Zittern schließlich nachließ und auch die Sturzfluten wieder gebändigt waren, lehnte sich die kleine Frau zurück und sagte: »Ich bin Vivien, die Alpha des Rudels. Wie heißt du?« Sie öffnete automatisch den Mund, um zu antworten, aber da war nichts. Absolute Leere. Wieder schossen ihr Tränen in die Augen und sie schlug die Hände vors Gesicht.
»Ich weiß es nicht. Mein Kopf ist so leer.« Vivien reichte ihr ein Glas Wasser, dass sie dankend annahm. Ihr Hals brannte, wahrscheinlich vom Schreien, und ihre Lippen fühlten sich rissig und spröde an. Wie lange war sie schon hier? Und was meine Vivien mit Alpha des Rudels? Was hatte das alles zu bedeuten? Aber viel schlimmer wog die Tatsache, dass ihr Kopf wie leer gefegt war.
»Danke.« Vivien ließ das Mädchen erst trinken, bevor sie weitere Fragen stellte.
»Weißt du noch, wie du hier hergekommen bist? Oder wer dich verletzt hat?«
»Nein. Ich ... Ich erinnere mich an einen Hasen. Und das ich gerannt bin. Dann wird alles dunkel.« Vivien tätschelte ihr die Schulter und drückte sie wieder in die Kissen.
»Ruh dich noch etwas aus. Vielleicht kommt die Erinnerung wieder, wenn du dich erholt hast.« Damit stand sie vom Bett auf und verließ den Raum. Warum hatte Vivien so ein trauriges Gesicht gemacht? Und von welchen Verletzungen hatte sie gesprochen? Als sie im Geist ihrem Körper kontrollierte, konnte sie nun ein Pochen in der Schulter feststellen.
Schwarze Punkte tanzten vor ihrem Blickfeld und sie fragte sich, ob man ihr etwas gegen die Schmerzen gegeben hatte. Vielleicht war ja alles gar nicht so schlimm? Sie schloss ihre Augen, und als sie diese gleich darauf wieder öffnen wollte, konnte sie nicht die nötige Kraft dazu aufbringen. Also schlief sie weiter. Schlafen war immer gut.
Vor der Tür wartete Robert, Viviens Ehemann und Alpha des Rudels. Er sah sie fragend an, doch sie zuckte nur niedergeschlagen mit den Schultern. Das bedeutete, dass sie keine guten Nachrichten hatte. Immerhin war die Kleine nach fast einer Woche komaähnlicher Bewusstlosigkeit wieder aufgewacht.
Auch wenn sie ihnen einen höllischen Schrecken eingejagt hatte. Robert und Vivien hatten eben beim Abendessen gesessen und sich über die kommenden Tage unterhalten. Robert musste in einer Woche wegen einer geschäftlichen Angelegenheit für ein oder zwei Tage verreisen und er wollte die Unbekannte vorher in ein Krankenhaus schaffen lassen. Vivien hatte sich geweigert und gesagt, dass sie die Kleine ebenso gesund pflegen konnte, wie die Krankenschwestern im Krankenhaus.
Gerade als eine neue Diskussion auszubrechen drohte, ertönte der Schrei aus dem Gästezimmer. Er war vorsichtshalber nicht mit ins Zimmer gegangen, sondern an der Tür stehen geblieben. Er wollte ihr nicht noch mehr Angst einjagen, als sie sowieso schon haben musste.
»Sie erinnert sich an nichts. Weder, wie sie hierher gekommen ist, noch wer ihr diese Verletzungen zugefügt hat.« Seiner Frau schien das ernsthaft an die Nieren zu gehen.
»Verdrängt sie es?« Vivien schüttelte den Kopf und sah ihn mit tränenfeuchten Augen an.
»Sie erinnert sich an überhaupt nichts. Nicht einmal an ihren Namen.« Dann zuckte sie wieder mit den Schultern und lehnte sich mit ihrem Körper gegen ihren Mann. Er mochte es, wenn sie das tat. Die Wärme, die der Körperkontakt brachte, ließ jedes Mal sein Herz schneller schlagen. Und es schlug nur für sie. Deswegen versuchte er auch, ihre Betroffenheit zu vertreiben.
»Vielleicht kommen die Erinnerungen mit der Zeit wieder.« Dann schüttelte sie leicht den Kopf.
»Gleichwohl es für sie wahrscheinlich besser wäre, wenn sie nicht zurückkommen.« Robert legte tröstend einen Arm um sie. Er wusste, dass die Erinnerungen an ihre jüngere Schwester durch dieses Mädchen herauf beschworen wurden. Und er mochte es überhaupt nicht, wenn seine Vivien leiden musste.
Er hatte sie damals mit neunzehn kennengelernt, als sie bei seinem Vater um Hilfe gebeten hatte. Sie hatte ihre tote, kleine Schwester eigenhändig zum Haus seiner Familie getragen und war flehend auf die Knie gefallen. »Bitte geben sie meiner Schwester die Chance auf ein anständiges Begräbnis. Ich arbeite als Dienstmädchen oder Gouvernante alles ab. Bitte. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden kann.« Sein Vater hatte genau wie Robert ihre Willensstärke und ihren Familiensinn bewundert. Jeder andere hätte das tote Mädchen liegen lassen und sich um seine eigene Haut gekümmert.
Sein Vater hatte Vivien als Gast willkommen geheißen und ihr verboten, auch nur einen Finger zu rühren. Aber Robert hatte schnell gemerkt, dass sie kein verwöhntes Püppchen war. Am Morgen war sie oft vor den Dienstboten wach und half der Köchin in der Küche. Sie war auch beim gesamten Personal sehr beliebt. Und obwohl er damals schon mehrere Beziehungen mit hübschen Frauen gehabt hatte, reizte sie ihn. Nicht, dass er es ihr gezeigt oder sie gar bedrängt hätte. Er genoss ihre Schönheit und ihren Liebreiz aus der Ferne.
Erst als er später ein Gespräch seines Vaters mit einem Bekannten aufgeschnappt hatte, der um Viviens Hand anhielt, wusste er, dass er handeln musste. Er sprach noch am selben Abend mit seinem Vater und die folgenden Tage umwarb er eine schnell errötende und furchtbar schüchterne Vivien, bis sie schließlich zustimmte, ihn zu heiraten. Und er hatte es nie bereut.
»Vielleicht war es jemand, den sie kannte. Das würde den Schock und den Gedächtnisverlust erklären.« Robert schüttelte den Kopf. Das passte nicht.
»Aber nicht die Verletzungen. Sie deuten auf einen Sturz hin. Vielleicht ist sie den Berg herunter gefallen und hat sich dabei den Kopf gestoßen.« Ihm ging das Bild des nackten und bewusstlosen Mädchens im Schnee einfach nicht mehr aus dem Kopf.
»Oder ihr Vergewaltiger hat sie den Berg herunter gestoßen.« Wieder schüttelte er den Kopf.
»Der Arzt hat gesagt, dass die Vergewaltigung schon mindestens drei Tage oder sogar länger zurückgelegen hatte. Was ist in der Zwischenzeit passiert?« Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie die ganze Zeit traumatisiert und allein im Wald umher geirrt war. Vivien zitterte in seinen Armen und er spürte, dass sein Hemd nass war.
»Vielleicht ist sie ihrem Vergewaltiger entkommen, durch den Wald geirrt und schließlich den Berg herunter gefallen.« Das würde schon eher passen. Aber wie konnte sie die Zeit in der Kälte überleben? Es waren locker minus zehn Grad in der Nacht. Und die Kleine war nackt gewesen. Außerdem konnten sie noch nicht einmal ihr Alter bestimmen, um zu wissen, ob sie unsterblich war oder nicht.
»Komm. Lass uns einen Wein trinken.« Ablenkung war für seine Frau und ihn selbst wahrscheinlich das Beste.
Jetzt, da die Fremde erwacht war, würde die Zeit alle Antworten bringen.