16. Kapitel
»Wo bist du?« Josh schwieg, doch Sylvester konnte Straßenlärm im Hintergrund hören. Und das weit entfernte Geräusch von vielen redenden Menschen.
»Du verfolgst doch nicht etwa Cassandra bis zu ihrem Weiberabend, oder?« Josh seufzte. Sylvester hatte immer gedacht, er würde seinen Bruder gut kennen. Aber seit Cassandra in sein Leben getreten war, verhielt er sich völlig untypisch. Er war häuslich geworden. Und wenn es nicht so abwegig wäre, hätte er darüber gelacht.
»Da kann sonst etwas passieren. Ich will sie im Blick haben, wenn sie schon nicht im Herrenhaus bleibt.« Oder sich weigerte, einen Sicherheitsmann mit dorthin zu nehmen.
»Du weißt aber schon, dass das krank ist, oder?« Josh knurrte leise.
»Was willst du?« Er klang etwas barsch, aber Sylvester konnte sich trotzdem ein Grinsen nicht verkneifen. Allerdings war er selbst auch nicht viel besser als sein großer Bruder.
»Hast du Snow im Blick?« Josh lachte kurz auf.
»Und mir wirfst du meine Sorge vor?«
»Hast du sie im Blick?«
»Ja. Sie freundet sich eben mit Annika an.« Die Art, wie er Annikas Namen aussprach, verhieß nichts Gutes.
»Wer ist Annika?« Sein Bruder schnaufte abwertend und knurrte noch einmal.
»Cassandras beste Freundin und eine Hexe. Sie mag mich nicht sonderlich.« Ach, diese Annika. Er hatte schon von den anderen gehört, dass sie Josh gerne ärgerte. Aber dass er eine Hexe in Cassandras Nähe tolerierte, war ihm unverständlich.
»Cassandras Freundin ist eine Hexe?«
»Keine Angst. Sie ist oft bei uns, also stehen die Chancen gut, dass du sie früher oder später kennenlernst.« Hexen waren nicht sehr beliebt. Sie galten als geldgierige Huren, die alles Mögliche für ihren eigenen Vorteil taten. Und als überirdisch schön.
Sylvester hatte auch schon die eine oder andere kennengelernt und war mit ihnen im Bett gelandet. Aber diese Hexen waren nett gewesen. Und süß.
Hier in Amerika war er auch schon einer Hexe über den Weg gelaufen, die war allerdings alles andere als nett. Aber dafür umso schöner.
»Tu mir bitte einen Gefallen und wirf ab und zu ein Auge auf Snow.«
»Klar. Kein Problem.« Damit legte Josh auf.
Sylvester hatte es sich den ganzen Abend im Salon, der gleich gegenüber vom Eingang lag, verschanzt und wartete auf die beiden Frauen. Aber es wurde immer später und seine Hoffnung, dass Snow den Abend grässlich gefunden hatte, wurde immer geringer.
Konnte sie sich wirklich charakterlich so stark ändern, dass sie Dinge, die sie früher gehasst hatte, jetzt mochte? Oder hatte sie einfach nur Spaß und wollte all ihre Sorgen vergessen? Ihn vergessen? Vielleicht war er wirklich zu aufdringlich und sollte sich etwas zurückziehen. Ein neues Projekt wäre keine schlechte Idee. Die Arbeit mit seinen Händen und anderen Handwerkern würde ihn wieder auf andere Gedanken bringen.
Vor dem Haus hörte er die Geräusche eines Autos und war schon auf den Beinen, als eine leicht angesäuerte Cassandra herein gestürmt kam.
»Ich fasse es nicht, dass du mich selbst bei meinem Weiberabend bewachen musst! Du bist paranoid!« Ein ziemlich geknickter Josh kam hinter ihr herein.
»Ich mach mir doch nur Sorgen um dich.« Sie verdrehte die Augen und blieb sofort stehen, als sie Sylvester an der Tür zum Salon erblickte.
»Hallo Sylvester. Ist was passiert?« Wie kam sie darauf? Machte er ein so besorgtes Gesicht? Aber ganz wohl war ihm auch nicht. Immerhin waren sie nur zu zweit gekommen.
»Wo ist Snow?« Cass sah ihn fragend an und ihm wurde klar, dass sie auf Snows Seite stand und seine Kontrollsucht nicht zu hundert Prozent unterstützte. Und das Josh momentan so übertrieb, machte seine Situation ihr gegenüber auch nicht besser.
»Sie wollte noch etwas mit Annika trinken.« Sylvester zuckte zusammen.
»Heißt das, sie ist ganz allein unterwegs?« Cass zog seelenruhig ihre Schuhe aus.
»Sie gehen danach zu Annika. Ich hab irgendwas von Initiationsritus gehört.« Dann kicherte sie wie ein kleines Kind. »Keine Angst. Snow wird auf ihre Kosten kommen.« Sylvester verdrehte die Augen. Und die Sorge um Snow wuchs. Als Cass die Treppe in den ersten Stock nahm, zog er sein Handy heraus und schrieb Snow eine SMS.
Josephine hasste Flugzeuge. Deswegen war sie auch nie gern mit ihrem Vater auf Geschäftsreise gegangen. Obwohl er und ihre Brüder Wölfe waren, die wirklich gar nichts in der Luft verloren hatten, lachten sie jedes Mal über ihre unbegründeten Ängste.
»Du bist doch ein Rabe!« Aber zwischen selbst fliegen und in einer Blechbüchse sitzen, aus der man nur schwer, bis überhaupt nicht herauskam, wenn etwas passierte, war sehr wohl ein großer Unterschied. Und auch der Luxus der first class änderte nicht viel daran, dass sie verkrampft im Sitz saß und seit Russland nicht ein einziges Mal den Gurt gelöst hatte.
Die zwei Flugbegleiterinnen, die für die erste Klasse verantwortlich waren, behandelten sie wie ein kleines Kind, dass das erste Mal alleine flog. Sie wurde verhätschelt und bemuttert, hier eine Decke, da ein Kissen. Einen extra Nachtisch. Auf die Frage, ob sie gerne mal das Cockpit anschauen würde, hatte sie vehement den Kopf geschüttelt und gesagt, dass sie diesen Gurt erst nach der Landung ablegen würde.
Nun, kurz vor der Landung in Washington, krallte sie ihre Finger in die Armlehnen und eine der Flugbegleiterinnen lächelte ihr aufmunternd zu.
»Keine Sorge, Schätzchen. Unser Pilot ist einer der Besten. Du wirst die Landung überhaupt nicht spüren.« Als das Zeichen für die Landung ertönte, für die man den Gurt anlegen musste, kniff sie die Augen zusammen. Wäre der Weg nicht so weit gewesen, wäre sie als Rabe geflogen. Aber die Strecke von Russland bis Amerika war eindeutig nicht machbar.
Sie vermisste Russland. Schon bevor sie ins Flugzeug gestiegen war, hatte sie starkes Heimweh verspürt. Und mittlerweile mussten ihr Vater und ihre Brüder auch ihr Verschwinden bemerkt haben. Sie biss sich auf die Unterlippe. Das schlechte Gewissen marterte ihr Herz, wenn sie an ihren Vater dachte. Er hatte sie immer vor allem und jeden beschützen wollen, hatte ihr verboten allein irgendwo hinzugehen und Männer waren sowieso tabu gewesen.
Also hatte sie nur ihre Computer, die doppelt und dreifach gegen den Zugriff ihrer Brüder geschützt waren. Ihr Vater durfte nie, wirklich niemals, mitbekommen, was sie im Internet trieb. Die einschlägigen Seiten, auf der sie ihre Neugier nach nackten Männern und Sex befriedigte. Die diversen Online-Casinos, in denen sie schon ein kleines Vermögen gewonnen hatte. Ihr Online-Konto, auf dem sie das kleine Vermögen verwaltete. Der Online-Hexenzirkel, dem sie vor ein paar Jahren beigetreten war, weil sie mehr über sich selbst erfahren wollte. Die Recherche-Daten nach ihrer Familie. Und jetzt auch noch Erik.
Der Zufall hatte es gewollt, dass sie ihn damals in Alexandria kennen gelernt hatte. Als sie von einem Detektiv, den sie beauftragt hatte, die lang ersehnten Daten über ihren Todfeind erhalten hatte, war sie aus allen Wolken gefallen. Er war in Alexandria. Sie hatte sofort nach Erik gesucht und konnte sich in seine Rechner hacken. Zum Glück war er nicht nachtragend.
Sie musste über die vielen Stunden, die sie einfach nur geredet und gelacht hatten, schmunzeln. Er war ihr sehr sympathisch. Vielleicht könnte sich nach ihrer Rache mehr zwischen den ihnen werden. Sie verdrängte diesen Gedanken schnell wieder, als sie an ihren Vater dachte. Er würde es nie zulassen, dass sie nach Amerika zog. Seine Kontrollsucht drängte ihn förmlich dazu, sie immer in seiner Nähe haben zu wollen. Und sie liebte ihn wirklich abgöttisch. Deswegen konnte sie ihn einfach nicht verletzen. Wie lange es wohl dauern wird, bis er hier ankommt? Eine zierliche Hand legte sich auf ihre Schulter und sie öffnete blinzelnd die Augen.
»Wir sind da, Schätzchen. Du musst jetzt aussteigen.« Josi sah aus dem Fenster. Tatsächlich. Das Flugzeug stand auf dem Boden und bewegte sich keinen Zentimeter mehr. Sie atmete hörbar erleichtert aus.
»Ich hab dir doch gesagt, dass unser Pilot spitze ist.« Mit einem Lächeln bedankte sie sich bei der Flugbegleiterin und öffnete ihren Gurt. Als sie aufstehen wollte, erkannte sie, dass ihre Beine und Arme völlig steif waren. Sie hätte sich vielleicht doch etwas bewegen sollen. Wenn sie mit ihren Brüdern und ihrem Vater flog, scheuchten sie Josi immer im Flugzeug umher um sie von ihrer Angst abzulenken. Das war ihr erster Ausflug, den sie ganz allein unternahm.
Trotz der Schmerzen stand sie auf und streckte sich. Dann begab sie sich mit den anderen Passagieren zum Ausgang. Sie hatte nur einen Rucksack dabei, weil mehr Gepäck einfach unhandlich und viel zu auffällig war. Am Schalter zeigte sie ihre Papiere und ihr Rucksack wurde durchleuchtet. Aber bis auf ihr Notizbuch, ein paar Klamotten und ihr Blackberry war nichts darin, was sie hätte in Schwierigkeiten bringen können. Ihre geliebten Messer hatte sie zuhause lassen müssen. Aber im Land der unbegrenzten Möglichkeiten würde es sicher kein Problem darstellen, an ein paar silberne Dolche zu kommen.
Die Ausweispapiere verdankte sie ihrem Vater, der sie alle fünf Jahre erneuern ließ. Und dann stand sie endlich vor dem Flughafen. An einem Geldautomaten in der Nähe besorgte sie sich ein paar Dollar und winkte sich dann ein Taxi ran. Das hatte sie schon so oft bei ihren Brüdern gesehen, dass es kein Problem für sie war. Sie nannte dem Taxifahrer die Adresse des Hotels in Alexandria und lehnte sich beruhigt an.
Wenn sie daran dachte, warum sie diese lange Reise auf sich genommen hatte, ballten sich ihre Hände zu Fäusten. Sie erinnerte sich nicht mehr genau an ihre Kindheit, aber dieser eine Name, der Name ihres Erzfeindes, hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Selbst als sie kurz davor war zu sterben, hatte sie sich gezwungen, weiter zu machen, damit sie sich an ihm rächen konnte. Diese Rache war damals ihr einziges Lebensziel gewesen.
Ihre Familie wusste nicht, wie düster und brutal ihre Rachegedanken waren. Sie würden sich von ihr abwenden. Aber die Begegnung mit dem Fenriswolf hatte ihr deutlich gezeigt, dass sie nicht mehr lange Zeit hatte, um ihre Rache durchzuführen. Ragnarök stand kurz bevor. Wenn ihr Vater sie verstieß, würde sie die Leere in ihrem Leben nicht all zu lange ertragen müssen.
»Hey Miss. Wir sind da.« Josi sah auf und erkannte den Eingang des Hotels.
»Danke.« Sie bezahlte ihn und stieg dann aus. Nun war sie hier. In Alexandria. In der Stadt, in der sie ihre Rache finden würde.