3. Kapitel
»Vivien?« Robert stellte die Reisetasche in den Flur seiner Hütte und horchte, von wo eine Antwort kam. Alles blieb ruhig. Er ging erst ins Wohnzimmer, dann ins Schlafzimmer, und als sie auch nicht in der Küche zu finden war, klopfte er ans Gästezimmer.
»Herein.« Als er die Tür öffnete, sah er zuerst seine Frau, die am Fenster stand und nach draußen sah und dann das Mädchen, das wie immer im Bett lag.
Aber die Kleine sah wenigstens nicht mehr ganz so mitgenommen aus. Die Wunden in ihrem Gesicht waren schon größtenteils verheilt und die Bandage um ihren Kopf war verschwunden. Als Vivien ihn sah, ging sie freudestrahlend zu ihm und umarmte ihn liebevoll.
»Schön, dass du wieder da bist. Ich hab dich vermisst.« Robert schmunzelte.
»Ich hab dich auch vermisst.« Dann fing er den forschenden Blick von dem Mädchen im Bett auf. Als er sich von seiner Frau gelöst hatte, ging er zum Fußende des Bettes und fragte: »Wie geht es dir? Du siehst auf jeden Fall schon mal besser aus als vor zwei Tagen.« Das zauberte ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht.
»Danke. Es geht mir wirklich besser.«
»Kannst du dich schon wieder an etwas erinnern?« Das Lächeln verschwand.
»Nein, leider nicht.« Dann kam ihm ein anderer Gedanke.
»Wie sollen wir dich eigentlich nennen?« Vivien sah zu Robert, dann wieder zu dem Mädchen. Diese zuckte nur niedergeschlagen mit den Schultern.
»Keine Ahnung.« Robert legte seiner Frau die Hand auf die Schulter und sagte zögernd: »Wir haben sie im Schnee gefunden. Wie wäre es also mit Snow?« Das Mädchen sah mit großen Augen zu Robert.
»Das gefällt mir. Snow.« Und plötzlich erhielt er das umwerfendste Lächeln, das er je gesehen hatte. Ein seltsam warmes Gefühl bemächtigte sich seines Herzens und er drückte Vivien etwas stärker an sich.
Kinder. Er musste einfach daran denken, wie seine eigenen Kinder ihn so anstrahlen würden. Irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, würden ihm und Vivien auch Kinder geschenkt werden und dann würde alles perfekt sein.
Snow war jetzt schon wie eine Tochter für ihn, obwohl Vivien sie eher wie eine Schwester betrachtete. Das konnte er eindeutig an Viviens gebaren sehen. Sie kümmerte sich so um dieses Mädchen, wie sie sich auch um ihre kleine Schwester gekümmert hätte, wäre sie nicht gestorben.
Das blonde Mädchen betrat eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung und sah sich um.
»Die nehm ich.« Die brünette Maklerin in dem teuer aussehenden, giftgrünen Kostüm nickte und reichte ihr einen Vertrag.
»Ich brauche eine Kaution. Da sie Schülerin sind, kann ich ihnen einen kleinen Rabatt einräumen. Der Vermieter hat außerdem zugestimmt, dass sie den ersten Monat mietfrei hier wohnen können. Nur die Nebenkosten müssen sie bezahlen.« Sie nickte und griff nach ihrer abgewetzten Tasche. Statt einen Geldbeutel herauszuholen, nahm sie ihre Bibel in die Hand. Als sie diese aufschlug, erschien Geld. Als die Maklerin fragend und etwas amüsiert die Augenbrauen hob, lächelte das Mädchen und zuckte mit den Schultern.
»Ist unauffälliger als eine Sparbüchse. Außerdem wird sich ein Dieb wohl kaum die Mühe machen und eine Bibel lesen.«
Der Traum endete abrupt in tiefer Schwärze, nur um im nächsten Moment von einem anderen abgelöst zu werden. Die Blondine stand zusammen mit anderen Schülern auf dem Podium und nahm ihren Abschluss entgegen. Ihre Haare waren deutlich kürzer als in den früheren Träumen und sie hatte auch einiges an Gewicht verloren.
Als sie zu den Stuhlreihen sah, wo so viele andere Eltern voller stolz zu ihren Kindern aufsahen und Fotos und Videos machten, wurde ihr Herz schwer.
Wie gerne hätte sie eine normale Familie in einem normalen Zuhause gehabt, aber das Schicksal hatte ihr eine gefühllose Hure zur Mutter gegeben und einen alten Wohnwagen als Zuhause.
Sie würde alles anders machen. Ihren Kindern würde sie eine tolle Mutter sein, die eine Arbeit hatte und ein tolles Haus. Vielleicht auch noch einen Hund. Das blonde Mädchen schmunzelte.
Als Snow ihre Augen öffnete, lag sie in dem Gästebett von Robert und Vivien. Ihre Schulter schmerzte, aber sie wollte nicht schon wieder nach Vivien rufen. Diese nette Frau hatte ihr in den letzten Tagen und Wochen in jeder freien Minute beigestanden, sich mit ihr unterhalten und ihre Verbände gewechselt. Sie brauchte auch etwas Freiraum.
Snow setzte sich im Bett auf und schlug die Bettdecke zurück. Sie trug einen Pyjama, der ihr etwas zu groß war. Es war einer von Vivien. Noch etwas, wofür sie ihr dankbar war. Ohne Rücksicht auf Verluste teilte sie mit einer völlig Fremden ihre Kleidung.
Sie schob sich vorsichtig zum Bettrand und ließ ihre Beine über die Kante baumeln. So weit, so gut. Das war das erste Mal, dass sie das Bett allein verließ, ohne die helfende Hand von Vivien oder Robert, der es sich zum Hobby gemacht hatte, sie durch den ganzen Raum bis zur Toilette zu tragen.
Am Anfang war es ihr sehr peinlich gewesen, doch Vivien hatte über ihre Bedenken gelacht. Ihre Zehen berührten den Boden, als sie wieder an ihr Vorhaben dachte. Die Schmerzmittel waren im Bad auf dem Ablagebrett über dem Waschbecken.
Robert sah von der Karte in seiner Hand auf und wandte sich an seine Frau.
»Wir haben von Joshua eine Einladung zur Hochzeit bekommen.« Vivien bekam große Augen und legte ihr Buch zur Seite. Sie sah einfach hinreißend aus in ihren gelben Nachthemdchen. Es war durchsichtig und die passenden Shorts dazu trug sie nie. Und er wusste auch, was sie damit bezweckte.
Sie versuchten schon seit Jahren ein Kind zu bekommen, hatten aber noch nie die fruchtbare Phase erwischt. Im Gegensatz zu anderen Mythenwesen und Dämonen waren Wölfe nur einmal im Jahr und nur für eine sehr kurze Zeit in der Lage, schwanger zu werden. Und bei Vivien hatte die lange Warterei und die vielen Fehlversuche Spuren hinterlassen. Er konnte noch nicht einmal sagen, dass ihm die Übungen etwas ausmachten. Er war gern mit ihr im Bett. Über ihr, unter ihr, hinter ihr ... Sie war seine Traumfrau und sie zögerte auch nicht, seinen Wünschen nachzugeben. Ganz im Gegenteil. Sie schien eine gewisse Region an seinem Körper besonders gern zu küssen und zu schmecken. Schon, wenn er daran dachte und seine Frau in diesem dünnen Stück Stoff vor sich sah, wurde seine Erektion unerträglich.
»Joshua aus Alexandria? Ich habe immer angenommen, er bleibt lebenslang ein Junggeselle.« Robert grinste. Seine Frau hatte Joshua nur ein einziges Mal gesehen und trotzdem war ihr dieser Wesenszug an ihm aufgefallen und in Erinnerung geblieben. Typisch.
»Irgendwann musste er ja mal einer Frau ins Netz gehen. Wollen wir hinfahren?« Vivien sah nachdenklich zu der Verbindungstür zum Gästezimmer.
»Ich weiß nicht. Ich hätte kein gutes Gefühl dabei, die Kleine hier allein zu lassen. Sie erholt sich eben erst von dem Trauma und hat etwas Vertrauen in uns gefunden.« Und er verstand sie. In seinem Inneren regte sich ebenfalls ein Beschützerinstinkt, den er nur einmal in seinem Leben gespürt hatte. Als er Vivien kennenlernte. Aber an Snow war er nicht körperlich interessiert, auch wenn sie sehr hübsch war. Er fühlte sich wie ihr Bruder oder ihr Vater. Als wäre er für sie verantwortlich. Deswegen war er mit Viviens Entscheidung auch ganz zufrieden.
»Ich rufe ihn morgen früh gleich an, dass es bei uns aus familiären Gründen nichts wird.« Sie nickte zustimmend.
»Ich schau mal, was wir ihnen als Hochzeitsgeschenk schicken können, wenn wir schon nicht hinfahren.« Sie dachte wirklich an alles. Plötzlich hörten sie ein Scheppern und das Zerspringen von Glas aus dem Gästezimmer. Robert war schon an der Tür, als Vivien das Bett hinter sich ließ. Wie sie nach einer gefühlten Ewigkeit die Tür des Gästezimmers erreichten, sahen sie auf den ersten Blick nichts.
»Sie ist nicht in ihrem Bett!« Robert ging zum Fenster um es zu überprüfen, als er Vivien scharf Luft einatmen hörte.
»Snow! Was ist passiert?« Noch während er sich umdrehte, nahm er den Blutgeruch wahr. Sie hatte sich verletzt. Vivien stand in der Tür des kleinen Gästebades und sah ungläubig in den Raum. Snow hatte den Spiegel zertrümmert und saß nun mit angezogenen Knien und den Händen über den Ohren auf dem kalten Boden in der äußersten Ecke des Bades. Ihre Augen waren vom Weinen rot gerendert und ihre Lippen hatte sie fest aufeinander gepresst. Ein leises Murmeln drang an sein Ohr: »Das bin ich nicht ... das bin ich nicht ... Nein ... Der Spiegel lügt ... Das bin ich nicht ...« Vivien redete auf sie ein, doch Snow reagierte nicht. Er ließ sich kurzerhand neben die apathisch vor sich hinmurmelnde Blondine auf die Knie sinken und gab ihr eine leichte Ohrfeige.
»Robert!« Viviens entrüsteter Ausruf blieb ungehört, da Snow in der nächsten Sekunde wieder zu sich kam und sich in Roberts Arme sinken ließ. Dann brachen alle Dämme und Snow weinte ihren ganzen Kummer aus sich heraus. Robert hob sie hoch und trug sie zum Bett, wo Vivien schon Verbandsmaterial bereitlegte.
»Es ist alles gut. Beruhige dich.« Aber erst nach einer gefühlten Ewigkeit verklangen die Schluchzer und Snow brachte ein paar wenige Worte heraus, während Vivien ihre Hand verband.
»Ich habe von einem Mädchen geträumt. Aber das waren keine Träume. Das Mädchen bin ich und es waren Erinnerungen.«
»Das ist doch gut. Du beginnst, dich zu erinnern.« Snow schüttelte den Kopf.
»Ich bin allein. Meine Mutter hat mich weggeschickt. Ich bin ganz allein.«
»Erinnerst du dich an noch etwas? Einen Namen? Einen Ort? Irgendetwas?«
»Ein Mann hat mich geschlagen und dann bin ich gerannt. Ich dachte, das wäre nur ein Alptraum gewesen. Aber es war real.« Vivien sah ihn traurig an. Er verstand sie auch ohne Worte.
»Du kannst hier bei uns bleiben. Das Rudel wird sich freuen, endlich mal eine junge Frau bei uns begrüßen zu können.« Vivien legte ihre Hand auf Snows Schulter.
»Wir werden ab jetzt deine Familie sein.« Wieder begann Snow zu weinen, aber dieses Mal vor Freude. Sie brauchte dieses Mal nicht ganz so lange um sich zu beruhigen.
»Was meint ihr eigentlich, wenn ihr Rudel sagt? Ist das ein anderes Wort für Familie?« Vivien und Robert sahen sich verwundert an.
»Richtig. Wenn sie ihr Gedächtnis verloren hat, weiß sie auch nichts mehr über die Wölfe.« An Snow gewandt sagte Robert: »Wir sind von Odin erschaffene Wesen. Es gibt eine alte Überlieferung etwa um fünftausend vor Christus, dass ein mutiger Schäfer Odins Wölfe derart beeindruckte, dass der Gott ihn selbst in einen verwandelte.
Mit der Zeit baute sich Odin so eine ganze Heerschar von treuen Wölfen auf, die in verschiedenen Kriegen für ihn kämpften. Wenn ein Wolf in Rage geriet, konnte er sich in einen richtigen Wolf verwandeln. Die Menschen nannten sie dann Berserker.
Im Laufe der Jahrhunderte und den selten werdenden Kriegen verloren wir die Fähigkeit, uns zu verwandeln. Jetzt können wir maximal unsere Wolfsaura erscheinen lassen und das auch nur, wenn wir uns mental stark konzentrieren.«
»Und ich bin auch ein Wolf?« Vivien und Robert nickten.
»Du bist wahrscheinlich unsterblich. Du kannst nur durch Enthauptung und Silber in deinem Herzen getötet werden. Und von Explosionen solltest du dich fernhalten.«
»Warum sagst du, nur wahrscheinlich unsterblich?«
»Wir wissen nicht, wie alt du bist. Wir werden erst nach unserem 25. Lebensjahr unsterblich. Aber da du den Sturz und die Verletzungen überlebt hast, musst du schon älter sein.«
»Das mit der Enthauptung ist mir schon klar, aber warum kann Silber und Feuer mich töten?«
»Feuer allein reicht nicht. Du würdest dich zwar verbrennen, aber das heilt wieder. Es geht um die Explosion. Sie entwickelt so starke Kräfte, dass sie dich in tausend Stücke zerreißt. Und das Silber gab es bei der Erschaffung des ersten Wolfes auch noch nicht. Deswegen sind wir gegen diese beiden Sachen nicht immun.« Vivien stand auf und nahm Robert an die Hand.
»Wir reden morgen weiter. Und keine Ausflüge mehr allein ins Bad.« Snow nickte.
»Gute Nacht und Danke für alles.«