15.


Falls Zeit noch eine Rolle spielte, wenn man seinen Körper aufgab, war sie für Luke nicht greifbar. Jetzt, wo er aus seinem physischen Leib aufstieg, erkannte er, dass Augenblicke und Jahre dasselbe waren. Ein Herzschlag währte eine Woche, ein Leben zischte im Nu vorüber. Doch Luke Skywalker existierte weiter - als eine Manifestation von Machtenergie, die die Essenz seines Leibes und seines Geistes gleichermaßen verkörperte. Und diese Essenz war jetzt realer und konkreter als die Hülle aus Fleisch und Blut, die er in der behelfsmäßigen Meditationskammer zwischen den violett gefleckten Körpern schwebend zurückgelassen hatte.

»Fünf...« Irgendwo unterhalb von Luke ertönte die kratzige Stimme des totenschädelartigen Givin hinter ihm. »Es gibt kein Leben, es gibt nur die Macht.«

Das war eine Verdrehung des Jedi-Kodex, doch Luke wiederholte den Satz pflichtschuldig, als er ausatmete, und ließ zu, dass er ihn akzeptierte, ja, sogar daran glaubte. Er dachte nicht, dass die »Geistwandler«, wie die Bewohner der Raumstation sich selbst nannten, die Redewendung als Hohn oder Beleidigung meinten. Sie brachten einfach die Wahrheit über das Universum zum Ausdruck, wie sie es sahen, und er wusste genug über Meditation, um zu wissen, dass die präzise Wiedergabe eines Mantras der Code war, der die Tür zu diesem bestimmten Bereich des Bewusstseins entriegelte.

Ein weiteres Jahr verstrich. Oder vielleicht war es auch bloß eine Sekunde. Luke atmete langsam ein, malte sich im Geiste eine große, gelbe Fünf aus und konzentrierte sich auf nichts anderes als auf dieses Bild.

»Ihr steigt höher«, sagte die betagte Stimme von Seek Ryontarr. Der gehörnte Gotal schwebte vor Luke - oder möglicherweise über ihm - und sprach mit der sanften Stimme eines Meditationslehrers zu ihm, um ihn zu einem höheren Bewusstsein zu leiten. »Ihr seid kaum noch mit Eurem Körper verbunden. Ihr fühlt den Kontakt jetzt bloß noch an Euren Fersen, jetzt an den Schultern, jetzt am Hinterkopf.«

Und das stimmte. Luke fühlte sich bloß an diesen Stellen mit seinem Leib verbunden. Überall sonst schwebte er frei dahin, eins mit der Macht.

»Sechs.«, rasselte der Givin.

Das Bild in Lukes Geist wechselte zu einer großen roten Sechs. Er begann, seinen Atem entweichen zu lassen, spürte, dass er sich leichter und. losgelöst fühlte. Jedes Mal, wenn er ausatmete, schien es länger zu dauern, und diesmal hatte er das Gefühl, als würde eine Woche vergehen, während er seine Lunge leerte.

»Es gibt kein Leben«, sagte der Givin. »Es gibt nur die Macht.«

Luke wiederholte das Mantra. Er spürte, wie sich seine Schultern vom Körper lösten und in die Höhe schwebten, sodass er bloß noch mit Fersen und Kopf mit seinem Leib verbunden war.

»Ihr seid jetzt beinahe frei«, erklärte Ryontarr ihm. »Wenn Feryl >Sieben< sagt, werden sich die letzten Bande lösen. Dann seid Ihr nicht länger mit Eurem Körper verbunden. Ihr werdet aus den Schatten in den reinen Glanz der Macht aufsteigen.«

Ryontarr verharrte, als würde er darauf warten, dass Luke es sich anders überlegte. Und vielleicht hätte er das auch getan, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte herauszufinden, was Jacen hier widerfahren war - um ins Herz seines Neffen zu blicken, wie die Geistwandler es ihm versprochen hatten, und zu sehen, warum sie glaubten, dass Jacen dem Dunkel nicht anheimgefallen sein konnte.

Der schädelgesichtige Givin - Feryl - rasselte: »Sieben.«

Luke spürte, wie sein Körper unter ihm wegfiel, und dann schwebte er in einer Wölke violetten Leuchtens, blickte in den lila Schein im Herzen der Kammer empor und vibrierte vor kühlem Vergnügen. Er hob seine echte Hand und stellte fest, dass sie ganz genauso aussah wie immer, dann hob er die künstliche und sah an ihrer Stelle bloß einen Schatten. Er versuchte, ihn zu berühren. Seine Finger verschwanden in der Dunkelheit, genauso, wie sie in jeden Schatten eingetaucht wären.

»Ihr könnt nicht anfassen, was nicht wirklich ist. Eure kybernetische Hand ist bloß eine Illusion, ebenso sehr ein Schatten wie Fleisch und Knochen.« Ryontarr streckte die Hand aus. um gegen Lukes Brust zu tippen. »Das ist wirklich!«

»Was genau ist denn wirklich?«, fragte Luke. »Mein Geist?«

»Eure Machtpräsenz. Sie ist Euer wahres Selbst, ein Wirbel in der lebendigen Macht, die Euren physischen Körper antreibt.« Ryontarr tippte Luke abermals gegen die Brust. »Das hier ist das, was wahrhaftig existiert.« Er deutete auf Lukes Schultern. »Es verleiht dem da seine Gestalt.«

»Das da ist mein Körper«, stellte Luke klar.

Als Ryontarr zustimmend die langen Hörner senkte, drehte sich Luke langsam herum und sah seinen Körper inmitten eines Dutzends anderer schweben. Obwohl er nicht annähernd so ausgezehrt und hohlwangig wirkte wie einige um ihn herum, waren die Augen eingesunken, und sein Gesicht wirkte trocken und blass. Zu seiner Überraschung wirkte sein Schutzanzug wie ein bloßer Schatten, ebenso wie alle anderen Kleidungsstücke, die er ausmachen konnte. Selbst die Wände der Meditationskammer - das wenige, was er davon durch die Menge schwebender Geistwandler erhaschen konnte -schienen nichts weiter als Schatten zu sein.

»Unsere Leiber wirken realer als das leblose Material«, stellte Luke fest. »Liegt das daran, dass unsere Körper von der lebendigen Macht erfüllt sind?«

Ryontarr schüttelte den Kopf. »Wir Geistwandler können uns auf viele großartige Lehren berufen: auf die Jünger Ragnos', auf die Fallanassi, auf die Jensaarai, auf die Potentium-Häretiker, auf die Neugeborenen, auf die Fernen Sucher, auf die Seher des Innern und auf zehn Dutzend andere. Wir alle haben unser eigenes Verständnis der Macht mit eingebracht - dass die Macht ein Regenbogen ist, dass sie ihre helle Seite und ihre dunkle Seite besitzt; dass sie aus drei Perspektiven betrachtet werden kann oder auch aus vieren; dass sie zwei Seiten und zwei Perspektiven hat.«

Ryontarr ließ den Satz abklingen. Seine Stimme war zu einem Niveau solchen Abscheus angestiegen, dass Luke glaubte, er würde gleich losschreien. Stattdessen seufzte der Gotal und schüttelte den Kopf.

»Doch das ist alles Unsinn«, fuhr er fort. »Es gibt bloß eine Macht, die Macht. und viele Wege, sie zu sehen.«

Luke schaute zu seinem Körper zurück. »Dann ist mein Leib realer als meine Kleidung, weil.?«

»Ist er nicht.« Ryontarr wies auf seinen Körper. »Berührt ihn.«

Luke gehorchte - oder versuchte es. Als er die Hand gegen das Gesicht seines Körpers presste, sank sie einfach durch die Wange. Die Augen des Körpers weiteten sich in vorübergehen - der Beunruhigung, wurden dann jedoch sofort wieder leer

und glasig.

»Ihr habt Euren Schattenkörper noch nicht aufgegeben«. sagte Ryontarr. »Ein winziger Teil von Euch ist immer noch darin, weil Ihr noch nicht bereit seid, ihm vollends zu entsagen.«

»Und dieser Teil verleiht ihm seine Gestalt«, vermutete Luke. Er nahm nicht alles für bare Münze, was Ryontarr behauptete, doch er war hier, um dahinterzukommen, warum Jacen der Dunklen Seite anheimgefallen war - nicht, um über Machttheorien zu streiten. Er zog die Hand aus dem Gesicht seines Körpers, ehe er angesichts der eingesunkenen Augen und der trockenen Haut die Stirn runzelte. »Wird dieser Überrest von mir auch dafür sorgen, dass mein Körper weiterhin mit genügend Wasser und Nahrung versorgt wird?«

»In dem Sinne, den Ihr meint. ja«, antwortete Ryontarr, der Lukes Blick ein wenig zu gleichmütig standhielt. »Die Macht wird Euren Körper so lange mit allem versorgen, wie Ihr damit verbunden bleibt.«

Luke wölbte eine Augenbraue und schaute sich in der Kammer um. »Hier gibt es eine Menge verhungernder Leiber.«

»Was soll ich dazu sagen? Viele von uns haben ihre Verbindung zur Schattenwelt verloren.« Ryontarr betrachtete Lukes Körper. »Ihr seid gerade erst eingetroffen, und Eure Bande sind noch stark.«

»Dann ist mein Körper also sicher?«

Es war der Givin - Feryl -, der antwortete. »Falls Ihr Angst habt, könnt Ihr jederzeit zu Eurem Körper zurückkehren, einfach indem Ihr Euch vorstellt, darin zu sein.« Er schwebte vor Luke herum, die Augen in den Tiefen seines totenschädelartigen Gesichts glommen orange. »Am schwierigsten ist es, ihn zu verlassen.«

Luke entging nicht, dass Feryl nicht tatsächlich gesagt hatte, dass sein Körper in Sicherheit war, und er war sich ziemlich sicher, dass Ryontarr ein bisschen zu angestrengt versucht hatte, aufrichtig zu wirken, als er behauptet hatte, die Macht würde seinen Körper auch weiterhin bewahren.

»Falls Ihr mir nicht glaubt, versucht es einfach«, drängte Feryl. »Was habt Ihr schon zu verlieren?«

»Nicht das Geringste«, stimmte Ryontarr zu. »Jetzt, wo wir Euch gezeigt haben, wie es geht, könnt Ihr hinter die Schatten zurückkehren, wann immer Ihr wünscht.«

»Aber dann werdet ihr nicht hier sein, um mich zu führen«, vermutete Luke. »Dann müsste ich Jacens Schritte ohne eure Hilfe nachvollziehen.«

Ryontarr schüttelte den Kopf. »Ihr müsst uns einfach bloß rufen, bevor Ihr anfangt.«

»Wir werden hier warten.« Feryl wandte sich ab und stieg in die Kugel aus violettem Licht auf. »Denkt so lange darüber nach, wie Ihr möchtet, Meister Skywalker!«

»Es gibt keinen Grund zur Eile«, stimmte Ryontarr zu und folgte ihm. »Zeit ist nur eine Illusion.«

Luke grübelte und blickte auf die eingesunkenen Augen seines Körpers hinab. Er konnte spüren, dass die Geistwandler ihm nicht die ganze Geschichte erzählten, aber es kam ihm nicht so vor, als würden sie ihm Schlechtes wünschen. Und sie wollten ihm offensichtlich zugestehen, sich zu vergewissern, dass sein Körper in Sicherheit war, bevor sie weitermachten. Allerdings spielte Zeit für Valin und all die anderen jungen Jedi, die ihren Verstand verloren hatten, nach wie rar eine Rolle, und je eher er in Erfahrung bringen konnte, ob Jacens Besuch hier irgendetwas mit ihren Wahnvorstellungen zu tun hatte oder nicht, desto besser. Außerdem waren da diese geheimnisvollen Alarmsignale, die im Kontrollraum blinkten und plärrten.

Wann immer irgendein Alarm losging, konnte er sich nicht des Gefühls erwehren, dass Zeit sehr wohl von Belang war.

»Wartet!« Luke nutzte die Macht, um den Trinkschlauch seines Schutzanzugs aus dem Halteclip zu lösen, damit er das Saugröhrchen zwischen den Lippen seines Körpers platzieren konnte, ehe er sich wieder in Bewegung setzte, um sich den Geistwandlern anzuschließen. »Wo wollen wir hin?«

Ryontarr drehte sich herum, wandte sich ihm halb zu und deutete in Richtung des lila Leuchtens, das im Zentrum der Kammer knisterte. »Wir gehen in das Licht, Meister Skywalker.«

Luke lächelte. »In das Licht?«, wiederholte er. »Das klingt ein wenig beunruhigend.«

»Überhaupt nicht«, erwiderte Ryontarr, der ebenfalls innehielt, um zu warten. »Ihr seid bereits ins Licht gegangen -genauso wie Ihr immer noch in Eurem Körper verweilt, drauf und dran, mit der Loslösemeditation zu beginnen.«

»Alles ist von Dauer«, fügte Feryl hinzu. »Alle Dinge, die passieren werden, sind bereits passiert. Alle Dinge, die bereits passiert sind, werden noch passieren.«

»Die Zeit vergeht in uns, Meister Skywalker«, erklärte Ryontarr. »Es ist allein unsere beschränkte Natur, die die Galaxis in Sekunden und Äonen einteilt.«

»Das habe ich schon mal gehört«, meinte Luke, der einige der unterschwelligen philosophischen Implikationen dieser Behauptung wiedererkannte. Der Einfluss der Aing-Tii war eindeutig, vermengt mit ein bisschen von der Potentium-Einheitslehre und möglicherweise sogar mit einem Schuss häresiarchischem Determinismus. Er ertappte sich dabei, dass er sich fragte, wie die Geistwandler so viele unterschiedliche Machttraditionen miteinander verschmolzen hatten. »Ein begrenzter Verstand kann die grenzenlose Galaxis nicht erfassen.«

»Ihr aber schon.« Feryl bedeutete Luke, ihm zu folgen, bevor er sich wieder auf das lila Leuchten zubewegte. »Kommt mit uns ins Licht!«

Als Luke den beiden auf das knisternde Leuchten weiter oben zu folgte, fing er an, die Ursprünge des Begriffs Geistwandeln zu verstehen. Jedes Mal, wenn er sich nur anschickte, einen Fuß nach vorn zu bewegen, war er plötzlich einfach einen Schritt weiter als noch einen Moment zuvor, so als würde er einen Schritt nach dem anderen vorwärts teleportiert. Schließlich wurde ihm bewusst, dass er bloß daran denken musste, sich zu bewegen, und schon hatte er es bereits getan.

Das Trio war noch immer drei Meter von dem lila Leuchten entfernt, als sich knisternd ein Lichttentakel nach unten senkte und Lukes Brust berührte. Schlagartig wurde seine gesamte Präsenz so lila wie die Lichtkugel selbst, und er wurde von einer durchdringenden Freude erfüllt, die tausendmal intensiver war als alles, was er je zuvor erlebt hatte. Er fühlte sich, als wäre er zur Macht geworden und die Macht zu ihm, und eine beruhigende Seligkeit durchflutete ihn, die so tief wie das All zu sein schien. Schmerz, Furcht, Kummer - selbst die Erinnerung an diese Leiden - schwanden dahin. Er kannte bloß noch die reine, ewige Freude der Existenz, ein Zustand, der so unermesslich und alterslos war wie das Universum selbst.

Luke verweilte über ein Jahr in diesem Zustand - und weniger als eine Sekunde. Wie lange genau, daran konnte er sich nicht erinnern, weil die Vergangenheit noch bevorstand.

Er hatte keine Wünsche, weil die Zukunft bereits vergangen war. Er sah die Galaxis, das Universum, die Macht selbst in ihrer wunderschönen grenzenlosen Ganzheit, eine Sache, die sowohl nach innen als auch nach außen strahlte, unendlich und außergewöhnlich und vollkommen jenseits allen Begreifens.

Eine rasselnde Stimme sagte: »Geht!«

Dann stand Luke in einem schattigen Bogengang und blickte auf einen uralten Innenhof, der von Baumfarnen. Keulenmoos und Lamellenpilzsäulen überwuchert war. In der Mitte des Hofs thronte das geschwungene Becken eines prächtigen Brunnens. Der Wasserstrahl gurgelte irgendwo im Innern einer Dampfglocke, die so voller Schwefel war, dass das Wasser mehr braun als gelb wirkte.

»Der Quell der Kraft«, sagte die rasselnde Stimme.

Luke wandte dem Sprecher den Kopf zu. Er sah neben sich einen Givin mit totenschädelartigem Gesicht - Feryl, entsann er sich -. und er fing an, sich daran zu erinnern, wo er war. oder vielmehr, er erinnerte sich an die Aufgabe, die ihn hierhergeführt hatte, da er keine Ahnung hatte, wo hier eigentlich genau war. Luke befand sich auf einer Mission. Er musste herausfinden, warum Jacen der Dunklen Seite verfallen war. Er musste in Erfahrung bringen, ob der Aufenthalt seines Neffen hier irgendetwas mit den Psychosen zu tun hatte, die so vielen jungen Jedi-Rittern zu schaffen machten.

Luke war immer noch dabei, sich neu zu orientieren, als eine zweite Stimme - diesmal tief und kultiviert - sagte: »Wenn Ihr den Mut habt, davon zu trinken, verschafft Euch das die Macht, alles zu erreichen.«

»Alles?« Luke schaute neben sich und stellte fest, dass der flachgesichtige Gotal, Ryontarr, auf seiner anderen Seite stand.

»Das sind große Worte.«

»Die Stärke, die einem der Quell der Kraft verleiht, kennt keine Grenzen«, entgegnete Ryontarr. »Ihr könnt so viel davon trinken, wie Ihr wünscht.«

»Kann ich das?«

Luke wandte sich wieder dem Innenhof zu. Die Farnbäume, die durch die lädierten Pflastersteine in die Höhe stießen, wirkten so greifbar und gewöhnlich wie seine eigene Gestalt. genauso wie die übrige Pflanzenwelt, die Moose, die von den Säulen der Arkaden hingen, und das Spalier der Pilze, die das Becken des Brunnens umringten. Gleichwohl, genau wie die Wände in der Meditationskammer der Raumstation war auch das verschnörkelte Mauerwerk schemenhaft und immateriell, mit Kanten, die gerade ausgeprägt genug waren, um Verzierungen anzudeuten, die gleichermaßen elegant und grotesk waren.

»Seek. bevor wir die Station verließen, hast du mir gesagt, dass mein Körper nicht deshalb immer noch materiell wirkt, weil er von der lebendigen Macht erfüllt ist, sondern bloß, weil ich noch damit verbunden bin.« Luke wies auf eine haarige gelbe Mooskeule, die so groß war wie er. »Allerdings wirkt das Pflanzenleben hier ebenfalls sehr greifbar - und damit bin ich nicht im Mindesten verbunden.«

»Aber eine andere Präsenz schon«, gab ihm Ryontarr zu verstehen. »Geht weiter! Ihr werdet sehen.«

Luke trat aus dem Bogengang ins harsche Licht einer blauen Sonne hinaus. Nachdem sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah er, dass sich der Hof am Grunde einer tiefen Dschungelschlucht befand, mit steilen, von fremdartigen Pflanzen bedeckten Felswänden, die sich zu allen Seiten erhoben. Die höchste Wand, am anderen Ende des

Innenhofs, stieg mehr als einen Kilometer zum geschwungenen Rand eines Vulkankraters hin an.

Luke rückte weiter vor. und allmählich wurde ihm klar, dass der ganze Hof vom beißenden Gestank von Schwefel erfüllt war. Die Dämpfe brannten ihm nicht in der Kehle oder in der Nase, da er sie überhaupt nicht richtig einzuatmen schien. Allerdings bescherten sie ihm ein flaues Gefühl, und als er sich dem Brunnen weiter näherte, protestierte etwas in seinem Innern mit solchem Nachdruck, dass er das Gefühl hatte, würgen zu müssen.

Als er das Becken erreichte, konnte Luke durch den Vorhang aus Wasserdampf schließlich den Quell selbst seilen. Es handelte sich um einen Wasserstrahl von der Dicke seines Beins, so voller Schwefel und Eisen, dass er so braun wie ein Baumstamm war - und so durchdrungen von Machtenergie, dass er buchstäblich nach hinten taumelte; sein Kopf drehte sich, und der Magen drehte sich ihm um. Diese Fontäne war nicht bloß von der Energie der Dunklen Seite befleckt, sie war damit getränkt - als würde sie aus einem tief vergrabenen Reservoir dunkler Machtenergie emporsteigen, das sich nicht bloß über Jahrtausende hinweg, sondern seit Anbeginn der Zeit selbst angesammelt hatte, bereit, eines Tages zu explodieren.

Luke widerstand der Versuchung, Anschuldigungen auszustoßen. Der Quell der Kraft war eindeutig ein Nexus der Dunklen Seite, und zumindest Ryontarr musste wissen, was das bedeutete. Solche Knotenpunkte entstanden als Resultat einer ganzen Reihe von Ereignissen - und keins davon war gut. Vielleicht hatte einst ein mächtiger Machtnutzer der Dunklen Seite in der Schlucht gelebt - oder war dort auch bloß getötet worden. Das Tal der Dunklen Lords auf Korriban war zu einem

Knotenpunkt der dunklen Seite geworden, weil dort so lange Sith-Lords zu Hause gewesen waren, und im Orbit über Endor hatte sich ein Nexus gebildet, nachdem Palpatine dort gestorben war.

Was auch immer hier vorgefallen sein mochte, als ehemaliger Jedi-Ritter hätte Ryontarr eigentlich klüger sein müssen, als zu glauben, dass Luke tatsächlich von dem Brunnen trinken würde, ohne den Nexus zu bemerken. Der Gotal musste ihn aus einem anderen Grund hierhergebracht haben - um ihn einer nicht so offensichtlichen Form der Korrumpierung auszusetzen oder möglicherweise auch nur. um ihn auf die Probe zu stellen.

Als Luke sich schließlich hinreichend beruhigt hatte, wandte er sich an Ryontarr und fragte: »Was ist hier geschehen?«

Ryontarr breitete die Hände aus, um deutlich zu machen, dass er das nicht wusste. »Das ist ebenso ein Geheimnis wie der Schlund selbst«, antwortete er. »Aber spielt das überhaupt eine Rolle? Wenn Ihr von dem Quell trinkt, werdet Ihr die Macht besitzen, den Jedi-Orden vor der Auslöschung zu bewahren.«

»Vor der Auslöschung?« Luke hatte das Gefühl, als wäre er von einem Stokhli-Sprühstock in den Magen getroffen worden. Liefen ihre Probleme mit Daala letzten Endes darauf hinaus? Oder würden die Wahnvorstellungen sie in den Untergang treiben? »Hast du das gesehen?«

Ryontarr nickte. »Es tut mir leid.«

Luke wandte sich dem Brunnen zu und fragte sich, ob der einzige Weg, den Jedi-Orden zu retten, tatsächlich darin bestand, von seinem Wasser zu trinken - ob das genügt hatte, um Jacen davon zu überzeugen.

»Wie passiert es?«, fragte Luke. »Die Auslöschung, meine

ich.«

»Es ist bereits passiert«, sagte Feryl. Er wies mit einem knochigen Finger an Luke vorbei, auf den Brunnen. »Trinkt! Das ist die einzige Möglichkeit, Euren Orden zu retten.«

Luke runzelte verwirrt die Stirn - bis er sich daran erinnerte, dass Zeit jenseits der Schatten nicht existierte. Natürlich bedeutete das nicht, dass die Jedi in Sicherheit waren. Ganz im Gegenteil, wenn man bedachte, dass junge Jedi durchdrehten und Daala entschlossen war, den Orden selbst unter ihre Knute zu zwingen. Angesichts all dessen wirkte die Auslöschung wie eine echte Möglichkeit, die eher früher als später eintreten konnte.

Luke wandte sich dem Brunnen zu, um ihn zu mustern. Er konnte seine dunkle Kraft spüren, die um ihn herumwirbelte und ihn einlud, sie sich zunutze zu machen, um das zu retten, was er sein heben lang aufgebaut hatte, das, was er mehr liebte als das Leben selbst. Und er war in großer Versuchung, so wie jeder Mann, der einen einfachen Ausweg aus einer verzweifelten Lage sah. Alles, was er tun musste, war, zu dem Becken zurückzukehren, seinen Kopf in die dunkle Fontäne zu stecken und von diesem giftigen Wasser zu trinken.

Doch selbst, wenn Luke bereit war, sich korrumpieren zu lassen, würde er den Orden damit nicht retten. Damit würde er bloß dafür sorgen, dass die Jedi von seiner eigenen Stärke abhängig waren, und das war ebenso wenig eine Formel zum Aufbau einer starken Organisation wie zum Großziehen eines gesunden Kindes. Wenn er wollte, dass der Orden ihn überlebte, musste er ihn aus eigener Kraft stärker werden lassen, indem er diesen Kampf ohne ihn meisterte - genauso, wie er Ben seine eigenen Fehler machen lassen musste, wenn Ben die Weisheit erlangen sollte, die nötig war, um den Orden

zu führen, wenn Luke nicht mehr war.

Als Luke nicht zum Brunnen zurückkehrte, fragte Ryontarr: »Worauf wartet Ihr. Meister Skywalker? Ihr wollt den Jedi-Orden doch gewiss retten?«

»Natürlich will ich das«, antwortete Luke, der zu dem Gotal herumwirbelte. »Aber ihr wisst genauso gut wie ich, dass ich das nicht tun werde, indem ich von diesem Quell trinke.«

»Wie wollt Ihr ihn dann retten?«, drängte Feryl.

»Das werde ich nicht tun«, sagte Luke. »Der Orden ist stark genug, um sich selbst zu retten.«

Ryontarr und Feryl wechselten Blicke, offensichtlich enttäuscht von Lukes Entscheidung.

»Hört auf. Spielchen mit mir zu spielen!«, wies Luke sie an. Er sah Ryontarr durchdringend an. »Du weißt, dass ich niemals von diesem Wasser trinken werde. Also, warum hast du mich hierhergebracht?«

»Ja, in der Tat, warum?« Ein schmales Lächeln trat auf Ryontarrs Lippen, ehe sein Blick von Luke zurück zum gelben Dunst der Fontäne wanderte. »Weil Ihr uns darum gebeten habt.«

»Es besteht kein Anlass, wütend auf uns zu sein, Meister Skywalker«, fügte Feryl hinzu. »Wenn Ihr Angst davor habt zu sehen, wonach Ihr gesucht habt, ist das nicht unsere Schuld.«

Luke gab sich überrascht. »Weshalb sollte ich davor Angst haben?«

Er drehte sich wieder zum Quell der Kraft um - und spürte, wie das kalte Frösteln drohender Gefahr seinen Rücken hinunterjagte.

Ein Dutzend Augenpaare starrten aus dem gelben Nebel, einige zu schmal und zu weit auseinander, um zu irgendeiner Spezies zu gehören, die Luke kannte, andere runder und menschenartig, und in allen brannte der goldene Zorn der Dunklen Seite. Sie saßen in Schwaden schwarzen Dampfs, die wie Köpfe geformt waren; mehr als die Hälfte erinnerten an die großen, keilförmigen Schädel, die Luke und Ben noch immer eingeschlossen in den Inhaftierungszellen an Bord der Raumstation gesehen hatte.

Die Form der anderen Köpfe wirkte vertrauter. Einer war riesig und hatte eine wulstige Stirn, mit den langen Kopftentakeln eines Twi'lek. Ein anderer war eher dreieckig, mit der langen Schnauze und den drei Stielaugen eines Gran. Die übrigen waren Menschen, die durch die eingesunkenen Wangen und die knochigen Kieferlinien jedoch so schwer entstellt waren, dass es schwierig war. sie als solche zu erkennen.

Als Luke sich daran erinnerte, was Feryl ihm in der Meditationskammer versprochen hatte - dass Luke imstande sein würde, in Jacens Herz, zu schauen -, begann er zu verstehen, warum die Geistwandler ihn hierhergebracht hatten: Womöglich halte Jacen von dem Quell getrunken. Er setzte sich in Bewegung, um zum Wasserbecken zurückzukehren, während er nach dem Kopfsuchte, der die größte Ähnlichkeit mit dem seines Neffen aufwies.

Als Luke näher kam, bildete sich im Wasserdampf ein neuer Schemen aus dunklem Dunst. Er ging geradewegs darauf zu und fragte sich, ob er imstande sein würde, damit zu sprechen - auch wenn er nicht sicher war, was er ihn als Erstes fragen sollte: Warum hast du dich der Dunklen Seite zugewandt? Wie konntest du nur meine Frau ermorden? Was habe ich falsch gemacht?

Als Luke schließlich den Rand des Beckens erreicht hatte, war die dunkle Wolke auf die Größe eines Menschenkopfes angewachsen. Allerdings wies das Haupt eine Kaskade langen, goldfarbenen Haars auf, das in das blubbernde Wasser des Brunnens fiel und darin verschwand, und seine Augen waren winzig, silbern und tief eingesunken, wie zwei Sterne, die aus zwei dunklen Quellen hervorleuchteten. Ein Tentakel aus kaltem, feuchtem Nichts streckte sich Luke entgegen, schlang sich um sein Bein, sank dann tiefer in sein Fleisch und begann, sich in seinem Innern nach oben zu winden.

Luke keuchte und versuchte zurückzuweichen, bloß um festzustellen, dass er das dampfförmige Ding mit sich zog. Zu seinem Erstaunen schien es weiblich zu sein, mit einem großen Mund mit vollen Lippen, der so breit war, dass er von einem Ohr zum anderen reichte. Ihre stummelartigen Arme ragten nicht mehr als zehn Zentimeter aus ihren Schultern hervor, und anstelle von Fingern wiesen ihre Hände sich windende Tentakel auf, die so lang waren, dass sie über den Rand des Beckens nach unten hingen.

Luke!

Die Stimme klang kalt und vertraut und wie etwas, woran sich Lukes Geist halb erinnerte, wie das Flüstern einer Traumgeliebten. Die Wolke lächelte, offenbarte einen Mund voller geschwungener, nadelspitzer Zähne und streckte einen dunklen Tentakel zu ihm aus.

Komm!

Das war das Letzte, was Luke zu tun beabsichtigte. Was auch immer dieses Ding sonst sein mochte, es war weiblich - und das bedeutete, dass es nicht Jacen war. Luke trat einen Schritt zurück, und mit einem Mal befand er sich wieder im Bogengang und stand zwischen Ryontarr und Feryl. Als er auf seine Hände hinunterblickte, war er überrascht zu sehen, dass diese weder zitterten noch schwitzten - auch wenn er sich ziemlich sicher war, dass sein gesamter Körper andernorts vor Furcht bebte.

Luke drehte sich zur Seite und starrte in die Untiefen von Feryls bodenlosen Augenhöhlen. »Das... war. nicht...Jacen!«

»Natürlich nicht«, antwortete der Givin. »Jacen wurde nicht einmal in Versuchung geführt.«

Ryontarr legte Luke eine Hand auf die Schulter. »Aber fühlt Euch nicht schlecht deswegen, Meister Skywalker. Letzten Endes habt auch Ihr das Richtige getan. Das ist alles, worauf es ankommt.«