James

Mit dem Wohnheim verband mich eine Art Hassliebe. Es bedeutete Unabhängigkeit: die Freiheit, seinen Krempel auf dem Boden liegen zu lassen und drei Tage hintereinander Oreo-Kekse zum Frühstück zu essen (was keine so gute Idee ist – man hat dann während der ersten Unterrichtsstunden immer schwarze Krümel zwischen den Zähnen). Es bedeutete auch Kameradschaft: Fünfundsiebzig Jungs zusammen in einem Gebäude hieß, dass man keinen Stein schmeißen konnte, ohne einen Musiker zu treffen.

Aber es war außerdem brutal, klaustrophobisch, ermüdend. Es gab keinen Ort, an den man sich zurückziehen, an dem man für sich sein konnte. Keinen Platz, an dem man der sein konnte, der man nur war, wenn einen niemand beobachtete, und wo man der Person entkommen konnte, als die einen die Masse wahrnahm.

An diesem Nachmittag regnete es, was das Allerschlimmste war – niemand war im Unterricht und niemand draußen. Das Wohnheim bebte vor Lärm. Unser Zimmer war voller Menschen.

»Ich will nach Hause«, sagte Eric.

»Du wohnst keine acht Kilometer von hier entfernt. Du hast keinerlei Anspruch auf Heimweh«, entgegnete ich im Multitasking-Betrieb. Ich unterhielt mich mit Paul und Eric, las Hamlet und erledigte dabei meine Geometriehausaufgaben. Eric übte sich im Nulltasking: Bäuchlings lag er auf dem Boden und lenkte uns von den Aufgaben ab. Die Hilfslehrer wohnten auf dem Campus und waren auch für die Aufsicht der Schüler verantwortlich. Sich Eric als Autoritätsfigur vorstellen zu wollen war allerdings ein ziemlicher Witz. Er war kein bisschen verantwortungsbewusster als der Rest von uns.

»Zu Hause sind noch Mikrowellen-Makkaroni«, widersprach Eric. »Aber wenn ich die holen will, muss ich erst tanken.«

»Leute wie du haben es verdient, zu verhungern.« Ich blätterte die Seite in Hamlet um. »Mikrowellen-Makkaroni sind noch zu gut für Faulpelze wie dich.« Ich vermisste Moms Makkaroniauflauf. Sie rieb ungefähr acht Pfund Käse hinein und legte ein halbes Schwein in Speckstreifen obendrauf. Zwar wusste ich, dass das vermutlich ein durchtriebener Plan war, um meine Arterien schon in meinem jungen Alter der Verkalkung anheimfallen zu lassen. Trotzdem vermisste ich den Auflauf.

»Steht das da drin?«, fragte Paul vom Bett aus. Auch er kämpfte mit Hamlet. »Das klingt sehr nach Hamlet. Du weißt schon: ›Ihr seid nicht wohl, Mylord, und so weiter, und Ihr seid nichts als ein Faulpelz.‹«

»Hamlet ist cool«, meinte Eric.

»Deine Mom ist cool«, erklärte ich. Durch unsere offene Zimmertür sah ich einen Haufen Jungs in Badehosen brüllend den Flur entlangrennen. Ich wollte den Grund dafür gar nicht wissen.

»Mann, warum können die nicht einfach sagen, was sie meinen?«, klagte Paul. Er las eine Passage laut vor. »Was zum Teufel soll das heißen?« Dann fügte er voller Mitgefühl hinzu: »Das Einzige, was ich verstehe, ist das mit ›diesem furchtbaren Gesichte, das wir zweymal gesehen haben‹. Genauso geht es mir, wenn ich meine Schwägerin anschauen muss.«

»Der Teil ist gar nicht übel«, gab ich zurück. »Zumindest merkt man da, was sie eigentlich meinen: ›Horatio sagt, wir hätten Pilze geraucht, aber er wird es sich anders überlegen, wenn er sich selber in die Hose scheißt, weil er den Geist gesehen hat.‹ Das ist nicht wie dieses ›ohne einen andern Beystand als diesen Traum eines eingebildeten Vortheils über uns, sich hat zu Sinne kommen lassen‹-Zeug hier. Ich meine, der labert ewig, oder nicht? Da kann man es Ophelia wirklich kaum verdenken, dass sie sich nach fünf Akten von diesem Mist umgebracht hat. Sie wollte nur endlich diese Stimmen nicht mehr hören.«

In Wahrheit wollte ich diese Stimmen nicht mehr hören. Die Jungs in Badehosen zogen ihre Bahnen den Flur auf und ab, und im Stockwerk über uns stampfte jemand im Takt unhörbarer Musik mit den Füßen. Ein paar Zimmer weiter übte irgendein Idiot auf seiner Geige. Sehr hohe Töne. Grässliche Katzenmusik. Mir tat schon der Kopf weh davon.

Paul stöhnte. »Mann, ich hasse dieses Buch. Dieses Stück. Was auch immer. Warum hat Sullivan uns nicht Die Früchte des Zorns oder so zu lesen gegeben, irgendwas in normaler Sprache?«

Ich schüttelte den Kopf und ließ meinen dicken Hamlet-Band auf den Boden knallen. Aus dem Stockwerk unter uns war ein dumpfer Ruf zu hören, und ich spürte den Aufprall unter meinen Füßen, als jemand etwas an seine Zimmerdecke warf. »Hamlet ist wenigstens kurz. Ich gehe schnell runter in die Lobby. Bin gleich wieder da.«

Als ich das Zimmer verließ, starrte Paul finster in sein Buch und Eric finster zu Boden. Ich ging nach unten. In der Eingangshalle war es immer noch laut – irgendein Idiot, der noch schlechter Klavier spielte als ich, hämmerte auf dem Instrument hier unten herum –, also schob ich die Hintertür auf. An der Rückseite des Wohnheims zog sich eine Art Veranda entlang, ein hoher Vorbau mit mächtigen cremeweißen Säulen. Es regnete in Strömen, aber nicht so heftig, dass die Tropfen bis unter dieses Dach geweht wurden.

Eiskalt war es. Ich zog mir die Ärmel über die Hände und hielt sie zwischen den Fingern zu, damit die Kälte nicht hereinkroch. Eine Weile starrte ich zu den Hügeln hinter dem Wohnheim hinüber. Der Regen hatte aus allem die Farben gewaschen, die Tälchen zwischen den Hügeln mit Nebel gefüllt und so den Himmel auf die Erde herabgeholt. Die Landschaft vor mir wirkte urtümlich, ewig und schön, und der Anblick war auf eine Art schmerzlich, dass ich wünschte, ich hätte meinen Dudelsack in den Händen.

Ich fragte mich, ob Nuala mich beobachtete. Ganz in der Nähe, unsichtbar und gefährlich. Am Bibliothekscomputer hatte ich im Internet nach einem stärkeren Schutz gegen Feen gesucht als Eisen – und ich hatte einen gefunden, den ich auf meiner Hand notiert hatte, gleich am Ansatz des kleinen Fingers: Dornen, Esche, Eiche, Rot. Dieser Schutz würde leider so lange nur aus nutzlosen Worten bestehen, bis ich herausfand, wie zum Teufel eine Esche aussah.

Ich trat von der Tür weg und ging an das Ende des Vorbaus, an dem die Tropfen nur einen schmalen Streifen des Backsteinbodens dunkel färbten. Mist. Verfluchter Mist. So viel zum Alleinsein.

Eine kleine, dunkle Gestalt hockte mit dem Rücken an der Wand des Wohnheims, hatte die Arme um den Körper geschlungen und eine Kapuze auf dem Kopf. Ich hätte mich einfach umgedreht und wäre wieder reingegangen. Die Hand vor dem verborgenen Gesicht deutete jedoch auf Tränen hin, und der Umriss der Gestalt ließ vage darauf schließen, dass es sich um ein weibliches Wesen handelte. Das sahen wir hier in Seward, dem Jungenwohnheim, nicht allzu oft.

Das Mädchen blickte nicht auf, als ich näher kam, aber ich erkannte die Schuhe. Zerschrammte Doc Martens. Ich kniete mich neben sie und hob den Rand der Kapuze mit dem Zeigefinger an. Dee sah mich an und ließ die Hand sinken. Ich entdeckte keine Tränen auf ihrem Gesicht, aber deutliche Spuren davon: ihre roten Augen.

»Psycho-Babe«, sagte ich leise, »was machst du denn hier in diesem furchterregenden Land, das man das Jungenwohnheim nennt?«

Dee hob die Finger wieder, als wollte sie eine Träne aufhalten, die ich nicht sehen konnte. Sie rieb das Auge und streckte mir dann den Zeigefinger hin. »Willst du eine Wimper?«

Ich betrachtete die einsame kleine Wimper, die am Rand ihrer Fingerspitze klebte. »Ich habe mal gelesen, dass man nur eine begrenzte Anzahl von Wimpern im Leben hat. Wenn du sie jetzt schon alle ausreißt, hast du später keine mehr.«

Stirnrunzelnd musterte sie das Härchen. »Ich glaube, das hast du dir nur ausgedacht.«

Rücklings lehnte ich mich an die Wand, ließ mich neben ihr nieder und schlang die Arme um die Beine. Der Backsteinboden unter meinem Hintern fühlte sich kalt an. »Wenn ich mir etwas ausdenken würde, dann sicher etwas wesentlich Interessanteres als das. Die haben echt davor gewarnt, weißt du: ›Junge Mädchen reißen sich die Wimpern aus, um Stress abzubauen, und jetzt sind sie potthässlich und kahl.‹ So etwas würde ich mir doch nicht ausdenken.«

»Ich stecke sie wieder rein, wenn du dich dann besser fühlst«, erbot sich Dee. Sie fummelte an ihrem Auge herum, was mich daran erinnerte, wie rot es war. Ich fand es schrecklich, dass sie geweint hatte. »Meine Harfenlehrerin ist ein Ungeheuer. Wie ist dein Dudelsackmensch?«

»Ich habe ihn getötet und aufgegessen. Zur Strafe zwingen sie mich jetzt, Klavier spielen zu lernen.«

Auf ihre niedlich-besorgte Art zog Dee die Brauen zusammen. »Ich kann mir dich nicht an einem Klavier vorstellen.«

Ich musste an vorhin denken, an Nualas Finger auf meinen und die Klaviertasten darunter. »Und ich kann mir keine Harfenlehrerin als Ungeheuer vorstellen. Ich dachte, ihr Harfenistinnen wäret alle so, ich weiß nicht, ephemer

»Dreißig-Punkte-Wort.«

»Vierzig, mindestens. Hast du schon mal versucht, das zu buchstabieren?«

Dee schüttelte den Kopf. »Aber sie ist wirklich ein Ungeheuer. Sie sagt ständig, ich solle die Ellbogen rausstrecken, und das will ich nicht. Und dann redet sie endlos davon, dass ich alles ganz falsch mache und offensichtlich von dämlichen Folk-Harfenisten gelernt habe. Was, wenn ich gar nicht klassische Harfe spielen will? Was, wenn ich nur irischen Folk spielen möchte? Ich glaube nicht, dass man die Ellbogen rausstrecken muss, um eine gute Harfenistin zu sein.« Ihr Mund verzog sich schrecklich, sie war den Tränen ganz nah. Aber es war unmöglich, dass so etwas wie eine fiese Lehrerin Dee zum Weinen brachte: Sie war sehr viel stärker, als sie aussah. Es musste irgendetwas anderes sein.

Dee biss sich auf die Unterlippe, als wollte sie ihren Mund zur Ordnung zwingen. »Und in dem dämlichen Wohnheim ist es so grässlich, wenn es regnet, weißt du? Man hat nirgendwo seine Ruhe.«

Ich konnte sie nicht fragen, was wirklich los war. Seltsam – wenn ich so darüber nachdachte, ging mir auf, dass ich das nie gekonnt hatte. Also seufzte ich nur und streckte als Einladung einen Arm über ihren Kopf. Sie zögerte keinen Augenblick, ehe sie näher rückte und die Wange an meine Brust legte. Ich schlang die Arme um ihre Schultern und lehnte meinen Kopf an die Wand. Dee in meinen Armen zu halten gab mir ein warmes Gefühl, greifbar, surreal. Es kam mir vor, als wären tausend Jahre vergangen, seit ich sie zuletzt umarmt hatte.

Ich schloss die Augen und dachte nach. Wenn jetzt jemand herauskam und uns sah, was würde derjenige denken? Dass wir ein Pärchen waren? Dass Dee mich liebte und sich aus ihrem Wohnheim herübergeschlichen hatte, um sich hinter meinem Wohnheim mit mir zu treffen? Oder würde derjenige die Wahrheit erkennen – dass es nichts bedeutete? Ich hatte geglaubt, dass uns etwas Besonderes miteinander verband, dass da etwas zwischen uns war. Bis zu diesem Sommer, bis zu Luke. Aber das war dumm von mir gewesen.

Es brachte mich um, mich so stark zu sehnen. Mich danach zu sehnen, dass dies hier – sie in meinen Armen, ihre Tränen auf meinem T-Shirt – das Gleiche für sie bedeutete wie für mich. Wenn es das hätte, wenn sie wirklich meine Freundin gewesen wäre, hätte ich sie gefragt, warum sie weinte. Warum sie auf der Veranda meines und nicht ihres Wohnheims saß. Ob sie Nuala gesehen hatte. Ob es ihre Schuld war, dass Nuala überhaupt hier war.

Aber ich konnte sie gar nichts fragen. Stattdessen schwieg ich und schloss die Augen.

»Rede«, sagte Dee gedämpft an meinem T-Shirt.

Ich dachte, ich hätte sie falsch verstanden. Ich öffnete die Augen und sah zu, wie die grauen Wolken sich über die Erde ergossen. »Wie bitte?«

»Sag irgendetwas, James. Ich will dich nur reden hören. Sei witzig. Rede einfach.«

Mir war nicht danach zumute, witzig zu sein. »Ich bin immer witzig.«

»Dann sei so wie immer.«

»Warum weinst du?«, wollte ich wissen.

Doch sie antwortete nicht, weil ich die Frage nicht laut ausgesprochen hatte.

In Wahrheit war ich viel zu dankbar dafür, dass sie überhaupt hier war. Da konnte ich unmöglich mein Glück herausfordern, indem ich Fragen stellte, die sie verscheuchen könnten. Also plapperte ich einfach drauflos, erzählte ihr etwas über meine Kurse, über die Schwächen von Paul und über Chips als Wecker. Ich war total locker und witzig, wie sie es sich gewünscht hatte, und während sie zu lachen begann, starb ich vor Sehnsucht.