James
H erzlich willkommen, meine Damen und Herren. Ich bin Ian Everett Johan Campbell, der dritte und letzte. Ich hoffe, Ihre Aufmerksamkeit eine Weile fesseln zu können. Ich muss Ihnen sagen, dass das, was Sie heute Abend sehen werden, absolut real ist. Es mag nicht erstaunlich sein, es mag nicht schockierend oder skandalös sein, aber ich kann Ihnen ohne jeden Anflug von Zweifel versichern: Es ist wahr. Und das … tut mir aufrichtig leid.
Die Brigid Hall war voll. Auf jedem einzelnen Stuhl saß ein Hintern. Auf manchem Schoß saß eine weitere Person. Ganz hinten bei der Tür stand eine Reihe von Leuten. Die rote Tür war offen, damit sich noch ein paar mehr hereinlehnen und zuschauen konnten.
Und diesmal fühlte es sich noch wirklicher an als sonst, denn wegen dicker Wolken war es früher dunkel geworden. Das Publikum saß also in pechschwarzer Finsternis. Die Bühne war der einzige feste Boden auf der Welt und wir die einzigen Menschen darauf. Das Leben dort draußen war die Metapher, und wir waren die Wirklichkeit.
Ich stand als Ian Everett Johan Campbell vor dem Publikum und ließ Eric/Francis verschwinden. Die Zuschauer schnappten nach Luft. Das war nur ein Trick der Bühnenbeleuchtung, aber sehr wirkungsvoll. Immerhin war es real. Sie alle wussten, dass es Magie tatsächlich gab.
Paul spielte Nualas Melodie auf der Oboe, als Wesley/Blakeley mich zur Rede stellte.
»Du hast deine Seele verkauft«, sagte Wesley.
Ich lächelte ihn an. »Das vermutest du.«
»Du bist der Teufel.«
»Du schmeichelst mir«, erwiderte ich.
»Welcher Mensch kann tun, was du tust? Welcher Mensch, der noch eine Seele besitzt?«, fügte Wesley hinzu. »Menschen verschwinden lassen? Blumen aus einem Felsen wachsen, Tränen von Gemälden tropfen lassen?«
Ich ging um Wesley herum. Sullivan hatte mir gesagt, dass ich das tun sollte, als wir mit ihm in der Rolle des Blakeley geprobt hatten. Er hatte gemeint, es ließe mich arrogant und rastlos wirken, und genau das war Campbell. Pauls Oboe wand sich ebenso unruhig bis hin zu dem Stichwort, das er jedes Mal unweigerlich verpasste, obwohl Nuala gesagt hatte, dass die Stelle furchtbar wichtig sei.
»Du kennst die Antwort. Du willst es nur nicht sagen«, höhnte ich. »Es macht dir zu viel Angst. Niemand will es wissen. Dabei liegt es vor eurer aller Augen.«
Dee saß an ihrem üblichen Platz an der Wand. Ich hatte sie dazu überredet, nicht nach Hause zu gehen – und der Thornking-Ash eine echte Chance zu geben. Sie hatte noch einen sehr weiten Weg vor sich, aber Paul und ich halfen ihr, so gut wir konnten. Und wie hätte ich sie allein heimgehen lassen können, wenn ich wusste, dass die Feen sie immer noch beobachteten?
»Du verhöhnst mich«, entgegnete Wesley. Sein Blick huschte von mir weg ins Publikum, nur ganz kurz. Das gehörte nicht zur Aufführung, und er sah mich rasch wieder an. »Was kann diese Dinge bewirken? Was soll so offensichtlich sein, dass ich es vor Augen hätte? Wer …«
Nuala gab Paul einen verzweifelten Wink, damit er aufhörte. Die Oboe verstummte so haargenau aufs Stichwort, dass ich meinen Einsatz beinahe verpasste.
»Jeder«, sagte ich hastig.
Mit einer Hand machte Wesley eine gereizte Geste. »Und ich dachte, du würdest mir die Wahrheit sagen. Als hättest du die Bürde der Wahrheit einen einzigen Tag deines Lebens tragen müssen.«
»Das ist die Wahrheit, Blakeley! Das magischste, finsterste, tödlichste, fabelhafteste Geschöpf, das auf dieser Erde lebt, ist ein …« Ich verstummte. Eine Bewegung an der Tür am anderen Ende des Saals hatte meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nur ein weiterer Zuschauer, der sich hereinbeugte und das Stück sehen wollte.
Allerdings hatte dieser neue Zuschauer gewaltige schwarze Schwingen, die hinter den beiden Türflügeln verschwanden. Und niemand außer mir schien ihn zu bemerken, was auch gut war, denn er soufflierte mir stumm meinen Text – »ein Mensch« – und sah mich mit einem Blick an, als wollte er sagen: Du machst dich gerade zum Narren.
Das Publikum beobachtete mich gespannt, und ich stand nur da und starrte Sullivan mit einem halben Lächeln auf dem Gesicht an.
Ich bekam eine Gänsehaut an den Armen.
»Wir werden uns wiedersehen«, sagte Sullivan, und auch das schien niemand sonst zu hören. »Das tut mir leid. Sei bereit.«
Wesley half mir auf die Sprünge. »… ist ein was?«
»Ein Mensch«, sagte ich. »Das gefährlichste und wunderbarste Geschöpf der Welt ist ein Mensch.«