James

Washington D.C. war tausend Kilometer von der Thornking-Ash entfernt. Okay, nicht in echten Kilometern. Aber es fühlte sich so an. Der Bus, in dem wir zum Marion Theater gefahren wurden, kam mir vor wie ein Raumschiff – und es hatte uns von einem abgelegenen Planeten voller Herbstlaub zu einem betonierten Mond geflogen, dessen Oberfläche nur hier und da von gezielt plazierten Bäumen aufgelockert wurde und gänzlich von Aliens in Anzug und Krawatte bevölkert war.

Paul saß neben mir auf dem Fensterplatz, damit ihm nicht speiübel wurde, während ich Kugelschreiber auseinandernahm und die Einzelteile auf einem Notizbuch auf meinem Schoß balancierte. Irgendwo weit vorn im Bus saß Dee. Der Großteil meines Verstandes war bei ihr.

Draußen fiel die Nachmittagssonne schräg zwischen die Gebäude der Hauptstadt und schaffte es hier und da, einen schmalen Streifen bis auf den Boden zu werfen. Dort wo sie die Spitzen der Hochhäuser küsste, glühte das Licht blutrot. Hunderte von Menschen bewegten sich auf den Gehsteigen – Touristen, Geschäftsleute, arme Leute, die hungrig oder missgünstig oder erschöpft in den Bus zu schauen schienen. Sie alle wirkten auf mich sehr einsam. Ganz allein in einem Meer von Menschen.

Neben mir erklärte Paul mit rauher Stimme: »Ich will endlich mal besoffen sein.« Er sagte alles Mögliche auf diese nachdenkliche Art, aber das war mal eine Abwechslung vom üblichen Repertoire. Wenn man an der Schnur im Rücken zog, sagte die Paul-Puppe normalerweise so etwas wie »Ich verstehe nicht, was er damit meint«, während sie in ein offenes Schulbuch oder auf einen Notizblock schaute. Oder »Ich habe es satt, dass niemand die Nuancen der Oboe bemerkt, Mann«. Es gibt auch nur sehr wenige Menschen, die die Feinheiten des Dudelsacks erkennen, und wir hätten durchaus eine mitfühlende Unterhaltung führen können, wenn die Oboe nicht so ein beschissenes Instrument wäre.

Ich wandte den Blick von den Leuten draußen den Stiften auf meinem Notizbuch zu. Die parallel geparkten Stiftteile wackelten ein bisschen, als der Bus an einer Ampel anfuhr. »Besoffen klingt so krass. ›Angeheitert‹ oder ›trunken‹ ist romantischer.«

»Mann, wenn ich mich nicht bald besaufe, habe ich vielleicht nie mehr die Chance dazu.« Paul musterte meinen Schoß. Er reichte mir einen Kugelschreiber aus seinem Rucksack, und ich nahm auch den auseinander und fügte die Bestandteile der Sammlung hinzu. »Wann bekomme ich denn je wieder so eine Gelegenheit? Keine Eltern? Ein kaum überwachtes Wohnheim?«

»Äh, ich weiß nicht, vielleicht bei diesem kleinen Ausflug, den man College nennt. Soweit ich gehört habe, kommt das für privilegierte weiße Jugendliche wie uns direkt nach der Highschool.« Ich begann, die Kulis wieder zusammenzusetzen, und vermischte dabei die Teile, so dass drei Frankenstifte entstanden.

»Ich könnte vorher sterben. Und dann, ich meine, dann bin ich tot und war nie betrunken? Soll ich etwa als nüchterne Jungfrau an die Himmelspforte klopfen?«

Das berührte eine Saite in mir. Ich schrieb mit einem der Kulis geheiligt auf meinen Handrücken. »Ich glaube, eine Menge Leute würden behaupten, das sei die einzige Möglichkeit, überhaupt an die Himmelspforte zu gelangen. Warum hast du es plötzlich so eilig, dir einen anzusaufen?«

Paul zuckte mit den Schultern und schaute aus dem Fenster. »Weiß auch nicht.«

Wenn ich ein verantwortungsbewusster Erwachsener gewesen wäre, hätte ich ihm vermutlich gesagt, dass er sich nicht zu betrinken brauchte, um sich selbst zu verwirklichen oder so. Aber ich war gelangweilt und generell unverantwortlich – ob nun von Natur aus oder aus eigener Entscheidung. Daher sagte ich: »Ich beschaffe dir was.«

»Was denn?«

»Bier, Paul. Konzentrier dich. Das ist doch das, was du willst, oder? Alkohol?«

Pauls Augen wurden hinter der Brille noch runder. »Ist das dein Ernst? Wie …«

»Psst, zerbrich dir nicht den Kopf über meine geheimnisvollen Methoden. Deshalb bin ich ja ich. Hast du schon mal Bier getrunken?« Ich schrieb Bier auf die Seite meines Zeigefingers, weil auf dem Handrücken kein Platz mehr war.

Paul lachte. »Ha. Ha. Ha. Meine Eltern sagen, dass Bier die Seele besudelt.«

Ich grinste ihn an. Noch besser. Das hier würde wahnsinnig unterhaltsam werden. Die Aussichten waren glänzend.

»Worüber grinst du, James?« Sullivan, der ein paar Reihen vor uns saß, hatte sich umgedreht und beäugte mich argwöhnisch. »Es sieht irgendwie böse aus.«

Ich schloss die Lippen, lächelte ihn aber weiterhin an. Ich fragte mich, wie lange er schon zugehört hatte. Nicht dass das eine Rolle spielte. Schließlich konnte ich meine finsteren Pläne weiterverfolgen, ob er nun davon wusste oder nicht.

Sullivan betrachtete mein etwas gepresstes Lächeln mit hochgezogener Augenbraue. Er musste laut sprechen, um sich über den Lärm des Busses hinweg verständlich zu machen. »Das ist besser, aber immer noch unheilverkündend. Ich werde das Gefühl nicht los, dass du irgendetwas planst, das moralisch nicht ganz einwandfrei ist. So etwas wie die Machtübernahme in einem kleinen lateinamerikanischen Land.«

Erneut grinste ich ihn an. Von all unseren Lehrern sprach Sullivan am ehesten meine Sprache. »Nicht diese Woche.«

Mit verzerrtem Gesicht musterte Sullivan Paul und sah dann wieder mich an. »Also, ich hoffe nur, es ist legal.«

Paul blinzelte hastig, doch ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. »In den meisten Ländern.«

Sullivan lächelte schief und gequält. »In diesem Land?« Er durchschaute mich besser als sonst irgendwer, den ich kannte, was so unpraktisch wie tröstlich war.

»Verehrter Herr Lehrer, derartige Schlussfolgerungen stellen eine Vergeudung Ihrer Fähigkeiten dar. Haben Sie nicht irgendwelche englischen Gedichte dabei, die Sie dringend lesen sollten?«

Zunächst schien er seine Befragung fortsetzen zu wollen, zeigte dann aber nur mit dem Finger auf mich. »Ich beobachte Sie, Mr.Morgan.« Er senkte den Zeigefinger in Richtung meiner bekritzelten Hände und sagte: »Notieren Sie sich das, damit Sie es nicht vergessen.« Dann drehte er sich in seinem Sitz wieder nach vorn.

Aber ich hatte keinen Platz mehr auf der Haut, also ließ ich es sein. Um mich herum wurden die Stimmen der Schüler vor Aufregung immer lauter, als der Bus auf einen riesigen grauen Parkplatz einbog.

»Was hören wir uns noch mal an?«, fragte Megan von einem Platz irgendwo in Sullivans Nähe.

»Das Raleigh-Botts-Ensemble«, antwortete er. Schon wieder so ein Doppelname. Ich betrachtete das als böses Omen und beschloss, die Augen nach dem blutigen Regen und den Heuschrecken offen zu halten, die wohl als Nächstes kommen würden. Sullivan fügte hinzu: »Ein ganz hervorragendes Kammerorchester. Sie spielen heute eine breitgefächerte Auswahl an Stücken, über die Mrs.Thieves euch mit Sicherheit noch dieses Jahr prüfen wird.«

»Allerdings!«, rief Mrs.Thieves von vorne. »Also behaltet ja euer Programmheft!«

Der Bus hielt, und Sullivan und Mrs.Thieves führten die Busladung Schüler über den Parkplatz auf das Theater zu. Ich sah, wie Sullivans Lippen sich lautlos bewegten, während er die aufgeregt durcheinanderlaufenden Schüler zählte.

»Sechsundvierzig. Vierunddreißig«, sagte ich ohne großen Enthusiasmus zu ihm.

»Halt den Mund, James«, entgegnete er freundlich. »Das funktioniert nicht.«

Durch irgendeinen magischen Trick von Sullivan und Mrs.Thieves schafften wir es alle in die Lobby. Sie war eiskalt, roch nach Tannen und war mit einem dicken, burgunderroten Teppichboden ausgelegt. Die hölzernen Verkleidungen waren blendend weiß und mit eingeschnitzten Schnörkeln verziert. Eine weitere Gruppe ging bereits den Flur entlang. College-Studenten. Neben denen sahen wir aus wie Babys. Die College-Mädchen warfen das Haar zurück und kicherten hiii hiii hiii – sie waren zwei Jahre näher an Minivan, Fußballtraining und Botox als die Mädchen aus meinem Bus. Ich wünschte, ich wäre nicht mitgefahren.

»Hallo«, sagte Dee. Sie lächelte zu mir auf, ein Mundwinkel ein wenig höher als der andere, und hielt das Notizbuch an die Brust gedrückt. Eine Studie in Rot, Schwarz und Weiß: der Teppich, ihr Haar, ihr Gesicht. »Wollen wir Freunde sein?«

»Nein, ich finde dich ziemlich unsympathisch«, erwiderte ich.

Dee grinste und hakte sich bei mir unter. Dann lehnte sie den Kopf an meinen Oberarm. »Gut. Setz dich neben mich. Ist das erlaubt?«

Sullivan war nicht in der Nähe, um es mir zu verbieten. Ich schob mich durch die Gruppe nach vorn auf den dunklen Saal zu. Niemand würde mehr erkennen, wer wer war, wenn wir erst drinnen waren. Von hier draußen konnte ich sehen, dass nur die kleine Bühne ganz vorn beleuchtet war. »Wir werden es uns erlauben. Wir sind junge, unabhängige Amerikaner. Niemand sagt uns, was wir zu tun und zu lassen haben.«

»Natürlich.« Dee lachte und kniff mich in den Ellbogen. Ich schluckte, als sie mich berührte.

In dem kleinen Theatersaal setzten wir uns so weit wie möglich von der College-Gruppe weg. Wir waren umgeben vom Raunen vieler Schüler, die sich in angestrengtem Flüsterton unterhielten. In diesem kleinen Saal war es sogar noch kälter. Dee, die so dicht neben mir saß, und die eisige Temperatur brachten mich aus dem Gleichgewicht. Ich fühlte mich wie abgetrennt von irgendeinem Teil meines Selbst. Dee nahm meine Hand. »Es ist eiskalt hier drin. Deine Hand ist wenigstens warm.«

Ich neigte den Kopf zu ihr hinüber und flüsterte zurück: »Das Ensemble besteht übrigens aus Pinguinen. Ich habe im Programmheft gelesen, dass sie sich weigern zu spielen, wenn die Temperatur nicht unter zehn Grad liegt. Wenn es wärmer ist, fangen sie an zu schwitzen, und dann finden sie mit ihren Flossen keinen Halt mehr an den Saiten.«

Dee lachte und schlug sich dann schuldbewusst die andere Hand vor den Mund. »James«, zischte sie, »lass das, sonst schreit Thieves mich wieder an. Sie kann grässlich sein.«

Ich hielte ihre Hand fest und wärmte ihre Finger mit meinen. »Das sind wahrscheinlich die Wechseljahre. Nimm es nicht persönlich.«

»Das würde mich nicht überraschen. Warum dauert das denn so lange?« Dee reckte den Hals, als könnte sie den Grund für die Verzögerung in der Dunkelheit um uns herum entdecken. »Im Ernst, wir werden noch alle erfrieren, ehe das Konzert überhaupt anfängt. Vielleicht hast du recht mit den Pinguinen. Die brauchen wahrscheinlich ewig, um sich warm zu spielen.« Sie schnaubte. »Ha, kapiert? Warm spielen?«

»Du bist eine geniale Komikerin.«

Sie gab mir mit der Hand, die ich nicht festhielt, einen leichten Klaps auf den Arm. »Halt den Mund. Ich bin damit zufrieden, dass du der Witzbold bist.«

Da wurde das Licht vorn heller, und die wenigen Lampen im übrigen Raum erloschen. Das Gemurmel der Schüler verstummte. Das Ensemble marschierte herein, und die Musiker, nur acht Leute, nahmen ihre Plätze auf der Bühne ein.

Neben mir unterdrückte Dee gerade noch ein Kichern. Ich beugte mich zu ihr hinüber; sie biss sich auf den Fingerknöchel, um nicht laut zu lachen. Hilflos flüsterte sie: »Pinguine.«

Die Musiker traten sehr elegant im Smoking auf, und alle hatten sich das schwarze Haar glatt zurückgekämmt. Die Ähnlichkeit mit Pinguinen war nicht zu leugnen. Dees Kichern verstummte jedoch, als sie zu spielen begannen. Ich weiß nicht einmal mehr, was das erste Stück war, denn ich brachte es nicht über mich, den Blick von ihnen abzuwenden, um ins Programm zu schauen. Neben mir war Dee ganz still geworden, während die Streicher mit ihren Instrumenten klagten und lockten, lieblich und melodiös. Ich seufzte, und irgendein wesentlicher Teil von mir wurde endlich einmal ruhig und hörte zu.

Mir war nichts mehr bewusst außer der Musik und der Tatsache, dass Dees Hand in meiner lag.

Als das Stück beendet war, ließ sie die Finger in meiner Hand ruhen, und wir klatschten albern unsere freien Hände aneinander. Das Ensemble spielte zwei weitere Stücke, keines davon so umwerfend wie das erste, doch beide ließen mich erschauern. Dann löste Dee sich von mir und flüsterte: »Toilette.«

Lautlos schlüpfte sie von ihrem Platz und ließ mich sitzen. Meine Hand vermisste das Gewicht ihrer Hand und fühlte sich kühl an, weil Dees Schweiß unter der Klimaanlage trocknete.

Ich hörte mir halbherzig zwei weitere Stücke an, bis ich gar nicht mehr aufhören konnte, an den Schweiß auf ihrer Hand zu denken. Im Stillen fragte ich mich, ob sie wirklich mal gemusst hatte oder aus irgendeinem anderen Grund hinausgegangen war. Es war so kalt, dass ich nicht entscheiden konnte, ob die Gänsehaut an meinen Armen von der eisigen Raumtemperatur kam oder die Gegenwart von etwas Übernatürlichem anzeigte. Ich fühlte mich wie blind.

Hastig stand ich auf und schlich zur Hintertür hinaus, ohne mich darum zu kümmern, ob mich jemand gehen sah. Draußen am Saaleingang entdeckte ich einen offiziellen Türsteher, der sich in seiner Zirkusuniform scheinbar nicht recht wohl fühlte. Ich fragte ihn nach den Toiletten. Dann hatte ich die Eingebung, mich bei ihm zu erkundigen, ob Dee hier vorbeigekommen war. »Dunkles Haar, widerlich hübsch, muss man sagen, etwa so groß.«

Seine Augen leuchteten auf. »Sie hat gesagt, sie bräuchte etwas frische Luft. Sie sah aus, als wäre ihr übel. Ich habe sie hoch auf den Balkon geschickt.«

Er deutete die mit burgunderrotem Teppich ausgelegte Treppe hinauf in den ersten Stock.

»Danke, Butler James«, sagte ich und rannte die Stufen hinauf. Ich folgte dem schmalen Flur und probierte eine Tür nach der anderen, bis eine sich zu einem kleinen Balkon öffnete. Von hier aus genoss man den Ausblick auf die hässliche Gasse hinter dem Theater und die Rückseiten mehrerer Geschäfte, und links von uns war ein schmaler Streifen der Straße und des lebhaften Verkehrs zu sehen. Ich trat in die willkommene Hitze hinaus und schloss die Tür hinter mir.

An die Wand gelehnt, saß Dee auf dem Boden und blickte zu mir auf, als sich die Tür mit einem Klicken schloss.

Wohl zum ersten Mal in meinem Leben sagte ich zu ihr genau das, was ich dachte. »Geht es dir gut?«

Dee sah vor der weißgestrichenen Wand sehr klein aus. Flehentlich streckte sie einen Arm nach mir aus und imitierte damit bewusst oder unbewusst meine Geste, als ich sie allein auf der Rückseite meines Wohnheims gefunden hatte.

Ich setzte mich neben sie, und sie lehnte sich an mich. Unter uns hupte es, ein Motorradmotor knatterte, und irgendwelches Baumaterial klapperte. Zum zweiten Mal in meinem Leben sagte ich genau das zu ihr, was ich dachte, obwohl ich es nicht so meinte, wie sie es vermutlich verstand. »Ich habe dich vermisst.«

»Mir war kalt. Ich hätte einen Pulli mitnehmen sollen. Siehst du, wie völlig hilflos ich bin ohne Mom, die mir genau sagt, was ich tun muss?« Ihre Stimme klang ironisch.

»Ein einziges Chaos«, stimmte ich zu. Ich hatte einen Arm um sie gelegt. Mein Herz hämmerte, während ich den Mut zusammenkratzte, um ihr zum dritten Mal zu sagen, was ich wirklich dachte. Ich schloss die Augen und schluckte. Und tat es. »Dee, warum bist du wirklich rausgegangen? Was hast du?«

Ich hatte es tatsächlich laut ausgesprochen.

Aber das nützte nichts, denn sie antwortete nicht. Sie löste sich aus meinem Arm, stand auf und trat ans Geländer. Sie beobachtete die Autos, als seien sie das Wichtigste auf der Welt. So lange blieb sie dort stehen, dass ich schon fürchtete, jemand könnte uns vermissen und sich auf die Suche machen. Ich erhob mich und trat zu ihr ans Geländer, von wo aus wir schweigend die Welt betrachteten.

Dee sah mich an. Ich spürte ihren prüfenden Blick auf meinem Gesicht, meinem Haar, meinen Schultern. Es war, als analysierte sie mich irgendwie oder schätzte mich ab. Als wollte sie sehen, wie ich mich nach neun Jahren Freundschaft so gemacht hatte.

»Willst du mich küssen?«, fragte sie.

Ich holte tief Luft.

»James«, drängte sie. »Ich will es nur wissen. Möchtest du mich küssen?«

Ich wandte mich ihr zu. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Sie setzte eine seltsame, unsichere Miene auf und verzog die Mundwinkel. »Wenn du willst … dann kannst du.«

Endlich brachte ich etwas hervor, und als ich sprach, hörte sich meine Stimme merkwürdig an. Nicht wie meine. »Das ist eine komische Art, jemanden zu bitten, dich zu küssen.«

Dee biss sich auf die Lippe. »Ich dachte nur … Ich wollte nur wissen, ob … Also, wenn du nicht willst, ich meine, ich will nichts kaputt machen, ich …«

So hatte das nicht laufen sollen, und ich wusste einfach nichts zu sagen. Einen Moment lang schloss ich die Augen und nahm dann ihre Hand. Sofort bekam ich eine Gänsehaut an den Armen und machte noch einmal kurz die Augen zu. Ich spürte den zwanghaften Wunsch, mir einen Kuli zu suchen und etwas auf meine Hände zu schreiben. Wenn ich nur Kuss oder ??? oder Mundwasser auf meine Haut schreiben könnte, dann würde ich der Sache schon Herr werden.

In der Ferne sprang die Alarmanlage eines Autos an. Ich beugte mich vor und küsste sie ganz sacht auf den Mund. Das würde die Welt nicht verändern. Es kamen auch keine Engelschöre herabgeschwebt, um mit ihrem Gesang unseren Kuss zu begleiten. Aber mir blieb das Herz stehen, und ich glaubte, nie wieder atmen zu können.

Dees Augen waren geschlossen. Sie sagte: »Versuch es noch einmal.«

Zärtlich schlang ich die Arme um ihren Nacken, wie ich es mir schon tausendmal vorgestellt hatte. Ihre Haut fühlte sich warm an, klebrig-feucht vor Hitze, und sie roch nach Blumen und Shampoo. Ich küsste sie noch einmal, ganz vorsichtig. Nach einer langen, langen Pause erwiderte sie den Kuss. Mir war eiskalt, mitten an diesem heißen Tag in Washington. Ich spürte ihre Lippen auf meinen und ihre Arme, die endlich über meinen Rücken glitten und mich ganz fest hielten, während ich sie küsste und küsste und küsste. Wir taumelten in die hintere Ecke des Balkons, ohne den Kuss zu unterbrechen. Dann hob ich den Kopf, schmiegte das Gesicht an ihr Haar und versuchte zu begreifen, was zum Teufel hier passierte.

Lange standen wir so im Schatten, und ich hielt sie im Arm, als sie plötzlich zu weinen begann. Erst spürte ich nur, wie sie zitterte. Ich wich ein Stückchen zurück, um ihr ins Gesicht zu sehen, und merkte, dass es ganz nass war.

Dee blickte mit verheultem Gesicht und entsetzlich traurigen Augen zu mir auf und biss sich auf die Lippe. »Es hat mich an Luke erinnert. Ich musste daran denken, wie er mich geküsst hat. Als du mich geküsst hast.«

Ich rührte mich nicht. Ich glaube, sie dachte – ich glaube, sie hielt mich für einen besseren Menschen, als ich tatsächlich war. Selbstloser. Einfach irgendwie besser. Ich ließ ihre Hände los und trat einen Schritt zurück.

»James«, sagte sie.

Ich war innerlich tot. Ihre Stimme berührte mich gar nicht. Mit einem weiteren Schritt rückwärts war ich bei der Balkontür und tastete nach dem Türgriff. Überall um mich herum roch es nach Klee, Thymian und Blumen. Mein sechster Sinn flüsterte drängend auf mich ein, aber ich wollte nur noch hier weg.

»James, bitte. James, es tut mir leid. Ich wollte das nicht sagen.« Dees Stimme brach, doch sie sagte weiterhin meinen Namen. Endlich bekam ich die verdammte Tür auf. Ein kalter Luftschwall traf mich. Dee begann zu weinen, wie ich sie noch nie hatte weinen hören. »O Gott, James, es tut mir so leid. James.«

Schnurstracks ging ich den Flur entlang, die Treppe hinunter, an dem Zirkusaffen vorbei, zur Tür hinaus auf den Parkplatz und zwischen den Autos hindurch zu unserem Bus.

Dort saß Nuala auf der Bordsteinkante und wartete auf mich, aber sie sagte nichts, als ich mich neben sie setzte. Was nur gut war, denn ich hatte keine Wörter mehr in mir. Auch keine Musik. Ich war nichts.

Ich verschränkte die Arme auf meinen Knien und legte den Kopf darauf.

Schließlich fragte Nuala: »Sind sie deinetwegen hier oder ihretwegen?«