James

Ich war wach, meine Haut kribbelte, die Augen waren weit aufgerissen. Ich war so wach, wie ich noch nie gewesen war, so wach, dass es weh tat. Im Zimmer war es zappenduster, und ich wusste, ohne hinzusehen, dass der Wecker 3:04 anzeigte. Das wusste ich, weil mir mein Traum immer noch vor den Augen brannte – ich hatte vom Aufwachen geträumt, eine Sekunde, ehe ich tatsächlich aufgewacht war.

Ich setzte mich auf, schnappte mir ein Sweatshirt vom Fußende des Bettes, sprang in meine Jeans und dachte kurz daran, nach meinen Schuhen zu suchen. Keine Zeit. Dafür war einfach keine Zeit mehr.

Auf der anderen Seite des kleinen Zimmers stöhnte Paul, den ich nur als einen dunklen Klumpen in seinem Bett wahrnahm. Er drehte sich um und griff nach seinem Kissen. Die Decke hatte er im Schlaf von sich getreten. Es musste heiß sein hier drin, obwohl ich zitterte.

Ich schlüpfte zur Tür hinaus auf den Flur, hielt den Atem an und versuchte, schnell zu sein, leise zu sein. Ich wusste nicht einmal, wohin zum Teufel ich eigentlich wollte. Oder warum ich es so eilig hatte.

Grünliches Licht im Flur beleuchtete trübe die geschlossenen Türen der anderen Zimmer. Barfuß lief ich den Flur entlang zum dunklen Treppenhaus, das nach Schweiß und fortgeschrittener Nacht roch. Bei dem Fenster, durch das ich mich sonst hinausschlich, um den gehörnten König zu hören, hielt ich inne. Doch das war es nicht, was ich in meinem Traum gesehen hatte. Die Hintertür brauchte ich.

Ich schlich über den Flur im Erdgeschoss und vorbei an Sullivans Zimmer. Ich stellte mir vor, wie die Tür aufging und Sullivan wie ein knochiger Springteufel hervorgeschossen kam, doch sie blieb zu, und ich schaffte es durch die Eingangshalle zur Hintertür. Ich öffnete sie, schloss ab und ließ sie zufallen, um sicherzugehen, dass ich wieder hineinkommen konnte. Bibbernd vor Kälte, schob ich die Tür auf und trat auf die Veranda.

Ich sah Nuala.

Sie presste sich an die Wand des Wohnheims. Ihr Körper war unnatürlich verdreht, die Arme hatte sie irgendwie hoch und zur Seite ausgestreckt, als wäre sie ans Kreuz genagelt. Sie hatte mir das Gesicht halb zugewandt, Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie trat nach vorne aus. Es schien ewig zu dauern, bis sich mich bemerkte, und währenddessen stand ich da und starrte sie an. Als sie mich entdeckte, sah ich einen seltsamen, unergründlichen Ausdruck in ihren Augen. In diesem langen Moment zuckte ihr Körper auf merkwürdige Weise, und endlich begriff ich.

Weil ich sie sehen kann und du nicht.

»Was stehst du noch da herum?«, fauchte Nuala. Aber sie klang nicht gemein, sondern wie ein wildes Tier in der Falle.

Ich griff nach dem eisernen Armreif an meinem Handgelenk, löste die Kugeln an den Enden und stürmte auf sie zu. Nualas Arme fielen herab, befreit, und sie zeigte auf ihren unsichtbaren Angreifer. Zu spät für mich.

Etwas traf mich hart, elektrisch, unmenschlich, und ich taumelte und schwang die Faust mit dem Armreif. Ich war blind, aber nicht dumm. Ein unsichtbarer Körper prallte dumpf gegen eine der Säulen, ich ging auf diese Säule los und trug das Eisen wie ein Schwert vor mir. Wieder schlug ich zu, und diesmal erschien die Fee, grünlich, wunderschön, fremdartig – und männlich.

»Hallo, Pfeifer«, zischte er mich an.

Und plötzlich war er ein Schwan, als wäre er nie etwas anderes gewesen. Er flog zwischen den Säulen hindurch davon. Ich beobachtete, wie der weiße Fleck am dunklen Himmel verschwand, und wandte mich wieder Nuala zu. Sie hockte auf dem Backsteinboden, zupfte vergeblich an ihrem Haar herum, als wollte sie es präsentabel machen, und weinte immer noch. Aber nicht wie ein Mensch. Sie gab keinen Laut von sich, als ihr die Tränen eine nach der anderen übers Gesicht liefen. Sie schien sie nicht einmal zu bemerken, während sie ihr T-Shirt zurechtzog und an einer Schnittwunde an ihrem Handgelenk saugte.

»War er allein?«, fragte ich.

»Bastard«, sagte Nuala. Sie sprach, als könnten Tränen ihre Stimme gar nicht verändern. »Bastarde von Feen. Ich hasse sie. Ich hasse sie.«

Ich hockte mich vor sie hin, unsicher, was ich tun oder empfinden sollte. Der Backstein war kalt und pikste an den Knien durch meine Jeans. Ich wusste auch nicht, was ich sagen sollte. Sollte ich fragen: »Geht es dir gut?« Ich wusste ja nicht einmal, was passiert war. War sie vergewaltigt worden? Gab es so etwas wie beinahe vergewaltigt? Ihre Kleidung war ganz durcheinander, und sie weinte – dieses psychotische Wesen weinte –, also, ich meine, das konnte nichts Gutes bedeuten. Da musste etwas Schlimmes passiert sein.

Ich dachte, vielleicht sollte ich sie in den Arm nehmen oder so, obwohl sie nie angedeutet hatte, dass sie liebevolle menschliche Berührungen schätzen würde. Außer der menschlichen Haut unter ihren Fingerspitzen, wenn sie einem das Messer zwischen die Rippen stieß.

»Sei still.« Nuala drückte sich die Hand vors Gesicht. »Verdammt noch mal, James. Halt einfach die Klappe.«

Ich begriff im selben Moment, dass sie meine Gedanken meinte, in dem Nuala begriff, dass sie Tränen auf den Wangen hatte. Sie stand auf, ließ die nasse Hand sinken und starrte darauf hinab. Sie sah fassungslos und sehr menschlich aus. Ganz leicht bewegte sie die Finger und betrachtete den feuchten Schimmer darauf im Halbdunkel. Bei diesem Anblick rollten weitere lautlose Tränen über ihr Gesicht, eine nach der anderen, als würde der Strom nie enden, als wäre das Allerschlimmste auf der Welt diese Entdeckung, dass sie weinte.

Ich war durcheinander. Wir hatten unsere Rollen, die wir in Gegenwart des jeweils anderen spielten, und jetzt ließ Nuala mich damit stehen. Ich wusste nicht mehr, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte.

Nuala rieb sich die Hände an ihrem kurzen Jeansrock, wischte mit einer zornigen Bewegung die Tränen fort, zerrte dann den Rocksaum nach unten und strich ihn glatt. Ich griff hinter sie, um den Schmutz vom Rücken ihres T-Shirts zu klopfen. Bei meiner Berührung zuckte sie zusammen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich darauf reagieren sollte, also tat ich so, als hätte ich nichts gemerkt.

»Jetzt weißt du es also.« Nuala schaute mich nicht an, sondern wischte sich weiterhin unsichtbaren Staub von der Kleidung.

Das war leichter als Schweigen. »Jetzt weiß ich was?«

»Wie es ist. Mit mir.«

Ich blinzelte. Ihrem Gesichtsausdruck und dem leichten Beben in ihrer Stimme nach zu urteilen, mussten diese Worte voller Bedeutung sein. Im Geiste ließ ich die vergangene Szene noch einmal ablaufen und rief mir alles ins Gedächtnis, was sie gesagt hatte. »Nuala, du bist hier diejenige, die Gedanken lesen kann, nicht ich.«

Nuala sah mich an, und ihre Haltung drückte so deutlich: Ach, schon gut aus, dass ich beinahe glaubte, sie hätte es laut ausgesprochen. Stattdessen erklärte sie: »Ich bin unter den Feen eine Einzelgängerin. Weißt du, was das bedeutet?«

Sie hielt inne, als erwartete sie tatsächlich eine Antwort von mir.

»Das bedeutet, ich bin ein Freak, James.«

Ich konnte mich nicht erinnern, dass sie mich vorher je beim Namen genannt hätte. Das hatte eine sehr seltsame Wirkung auf mich: Es war, als könnte ich nichts mehr von dem glauben, was ich über sie dachte. Ich hatte einen Kuli in der Hosentasche, und ich wollte ihn unbedingt herausholen. Ich konnte schon die Buchstaben sehen, die ich damit schreiben würde: Beim Namen nennen.

»Es ist mir egal, ob du das tust«, sagte Nuala. Mit dem Kinn wies sie auf die Tasche, in der mein Stift steckte. »Kapierst du es nicht? Ich bin ein noch größerer Freak als du.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Eigentlich hätte ich etwas Sarkastisches erwidern sollen, um die Stimmung aufzulockern, aber ich wollte nicht. Ich wollte, dass sie weiterredete.

»Und niemand steht für mich ein. Du weißt ja nicht, wie gut du es hast. Du hast menschliche Gesetze und Schulregeln und deine Eltern und sogar Paul, und sie alle halten dir die Welt vom Hals. Ich bin nur ich, niemand für niemanden. Ist es nicht dumm, wie lange ich gebraucht habe, um herauszufinden, dass ich dich beneide?« Sie lachte, und es klang wild und unglücklich. »Dich, der für mich den Dummen spielen sollte, den ich ausnutze, bis ich dieses Jahr verbrannt werde und alles vergesse.«

Ich seufzte. Wenn sie Dee gewesen wäre, hätte ich noch eine Sekunde gewartet, um sie vollständig implodieren zu lassen. Aber sie war eben nicht Dee, und ich glaubte nicht, dass das bei Nuala genauso funktionierte. Also dachte ich daran, was ich mir auf die Hand hatte schreiben wollen, damit ich es nachher nicht vergaß.

»Nuala«, sagte ich.

Sie blickte mich an.

»Nuala, können wir so eine Art Waffenstillstand schließen? Ich meine, ab morgen kannst du mich wieder ein Arschloch nennen und versuchen, mich in den Tod zu locken, und ich verspreche, dich dann wieder wie ein psychotisches Miststück zu behandeln und nachzuforschen, wie ich dich vertreiben kann. Aber ernsthaft, können wir nur heute Nacht mal die Waffen ruhen lassen? Um ehrlich zu sein, kriege ich Kopfschmerzen, wenn ich über all das nachgrübele, und – können wir nicht einfach irgendwo hinfahren und etwas essen oder so? Gibt es hier überhaupt einen Laden, wo wir mitten in der Nacht noch etwas zu essen bekommen?«

Ihre Miene war undurchdringlich. »Ich denke immer, dass er mich doch irgendwann nicht mehr überraschen dürfte, dein unglaublich dummer Mut. Hast du dich denn nie vor mir gefürchtet?«

Ich antwortete wahrheitsgemäß: »Ich habe eine Scheißangst vor dir.«

Da begann sie zu lachen, ein verrücktes, echtes Lachen, als sei ich das Witzigste auf der Welt. Wenn sie so lachte, war sie entweder das erschreckendste oder das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob dieses Gefühl in mir wollte, dass ich sie noch einmal so zum Lachen brachte oder dass ich vor ihr davonlief.