James

Ein weiterer schmerzlich schöner Herbsttag im Land der Privatschulen. Hier im Tal waren die Bäume noch grün, aber an einigen Nordhängen der umgebenden Hügel und Berge leuchteten die Blätter schon orangerot und rot. Die Kombination ließ das Bild künstlich wirken, wie die Landschaft um eine Modelleisenbahn. Ich hatte die Stereoanlage im Auto auf »unerträglich laut« gedreht, weshalb ich das Telefon wohl nicht klingeln hörte; erst als ich aus dem Augenwinkel das Display blinken sah, merkte ich, dass mich jemand anrief.

Vielleicht war das endlich Dee.

Ich schnappte mir das Handy vom Beifahrersitz und schaute nach der Nummer. Mom. Seufz. Ich stellte auf Freisprechen und legte das Gerät aufs Armaturenbrett. »Ja.«

»James?«

»Ja.«

»Wer spricht denn da?«

»Dein geliebter Sohn. Die Frucht deines Leibes und die von Dads Lenden, nachdem ich weiß Gott wie lange schon ein schmutziger Gedanke …«

Mom fiel mir ins Wort. »Das hört sich an, als ob du in einem Windkanal steckst.«

»Ich bin im Auto.«

»In einem Windkanal?«

Ich beugte mich vor und rückte das Handy ein Stück näher. »Ich habe auf Freisprechen gestellt. So besser?«

»Kaum. Warum fährst du überhaupt Auto? Es ist doch mitten am Tag, und du hast Schule, oder nicht?«

Ich klemmte das Mobiltelefon zwischen Himmel und Sonnenblende. Vermutlich würde sie immer noch ein lautes Rauschen hören, aber mehr würde ich ihr nicht bieten. »Wenn du das weißt, warum hast du dann angerufen?«

»Schwänzt du etwa?«

Ich kniff die Augen zusammen und las die Straßenschilder. Auf einem kleinen Schild mit der Aufschrift »Gallon, VA, historisches Stadtzentrum« (das VA fand ich ziemlich überflüssig, denn wer bis hierher gekommen war, müsste längst wissen, dass er sich im Bundesstaat Virginia befand) zeigte ein Pfeil nach links. »Nein, Mom. Schwänzen ist was für Loser, die nirgends Arbeit finden und direkt in den Knast wandern.«

Mom machte eine kurze Pause, denn sie erkannte ihre eigenen Worte; ich hatte sie außerdem mit Fistelstimme und in ihrem leichten schottischen Akzent vorgetragen. »So ist es«, erwiderte sie dann. »Also, wo fährst du hin?«

Ich betrachtete die malerische, aber ökonomisch mangelhafte Hauptstraße von Gallon und antwortete: »Ich bin unterwegs zum Unterricht. Und ehe du fragst: Es geht um meine Dudelsackstunden. Und ehe du fragst: Nein, die Thornking-Ash hat keinen eigenen Sackpfeifenlehrer. Und ehe du fragst: Nein, ich weiß auch nicht, warum sie einem Schüler ein Stipendium geben sollten, dessen Hauptinstrument der Dudelsack ist, wenn man die Antwort auf Frage Nummer zwei bedenkt.« Schüler der Thornking-Ash mussten für zwei Jahre ein musikalisches Hauptfach belegen, um die Noten zu erhalten, die wir nachher für erfolgreiche Bewerbungen an den Universitäten brauchen würden. Daher die Dudelsackstunden.

»Und wer ist dein Lehrer? Kann er was?« Mom klang zweifelnd.

»Mom. Ich will nicht darüber nachdenken. Das wird nur entsetzlich deprimierend, und du weißt doch, dass ich der Welt gern ein angstfreies, fröhliches Gesicht zeige.«

»Erinnerst du mich bitte noch mal daran, warum du überhaupt dort bist, wenn nicht deiner Musik wegen?«

Das wusste sie verdammt genau, aber sie wollte, dass ich es aussprach. Ha. Ha, ha! Kam gar nicht in Frage. »Gebrauche deine mütterliche Intuition. Hey, ich glaube, ich habe die Adresse gefunden. Ich muss Schluss machen.«

»Ruf mich an«, sagte Mom. »Später. Wenn du nicht mehr so scharfzüngig bist.«

Ich parkte vor dem Musikgeschäft Evans-Brown. Allmählich vermutete ich, dass es in dieser Gegend Tradition war, allem und jedem einen Doppelnamen zu verpassen. »Ist gut. Ich merke mir einen Termin vor. Sagen wir, wenn ich dreißig bin, ja?«

»Halt den Mund.« Moms Stimme war voller Zuneigung, und einen Moment lang wallte mächtiges, kindisches Heimweh in mir auf. »Du fehlst uns. Pass gut auf dich auf. Und ruf mich nachher an. Nicht erst, wenn du dreißig bist.«

Ich versprach es ihr und legte auf. Dann holte ich meinen Dudelsackkoffer aus dem Kofferraum und betrat den Musikladen. Im Gegensatz zu der kränklich grünen Fassade wirkte das Innere warm und einladend mit dem dunkelbraunen Teppichboden und den goldbraunen Wandpaneelen hinter den aufgereihten Gitarren. Ein alter Mann, dem anscheinend die Sechziger nicht gut bekommen waren, saß hinter einem Tresen und las eine Ausgabe des Rolling Stone. Als er zu mir aufblickte, entdeckte ich, dass sein silberfarbenes Haar hinten zu einem straffen kleinen Zopf geflochten war.

»Ich komme zum Musikunterricht«, erklärte ich.

Er betrachtete etwas auf dem Ladentisch. Währenddessen musterte ich die Tätowierungen an seinen Armen; die größte davon war ein Zitat aus einem der radikaleren Songs von John Lennon. Er fragte: »Um wie viel Uhr?«

Ich deutete auf meine Hand. Mit zusammengekniffenen Augen suchte er meinen Handrücken ab, bis er die entsprechende Notiz gefunden hatte.

»Drei Uhr? Da bist du ja pünktlich.«

Ich warf einen Blick auf die Wanduhr hinter ihm, die zwischen Flyern und Postkarten hing. Danach war es exakt zwei Minuten vor drei. Es ärgerte mich ein bisschen, dass er zur vollen Stunde aufrundete und mein frühes Erscheinen einfach ignorierte, aber ich sagte nichts.

»Nach oben.« Der alte Hippie deutete zur Rückseite des Ladens. »In den Übungsraum, in dem Bill gerade ist. Er ist im Moment der einzige Lehrer hier.«

»Danke, Genosse«, sagte ich, und der Hippie lächelte mich an. Ich stieg die knarrende, mit Teppich belegte Treppe in den ersten Stock hinauf. Dort war es heißer als im Hades, und es roch nach Schweiß und Nervosität. Drei Türen gingen von dem dunklen, schmalen Gang ab, und Bill war hinter Tür Nummer zwei. Ich schob sie ein Stück weiter auf und musterte die Akustikplatten an den Wänden. Die alten Holzstühle sahen aus, als hätten Tigerbabys sie als Kratzbäume benutzt, und ein Mann mit staubgrauem Haar saß auf einem davon.

Er hatte erstaunlich viel Ähnlichkeit mit George Clooney. Ich dachte kurz daran, ihm das zu sagen, fand aber dann, dass das zu dreist wäre. »Hola. Ich bin James.«

Er stand nicht auf, lächelte aber einigermaßen nett, gab mir die Hand und deutete auf den Stuhl gegenüber. »Ich bin Bill. Wie wär’s, wenn du deine Übungspfeife herausholst und mir etwas vorspielst, damit ich weiß, wo du stehst? Es sei denn, du bist nervös – wir können uns auch ein bisschen unterhalten, aber eine halbe Stunde Musikunterricht ist ziemlich kurz.«

Ich stellte den Koffer ab, kniete mich daneben und ließ die Verschlüsse aufschnappen. »Nein, das passt schon.« Während ich neben meinem Instrument nach der Übungspfeife kramte, blickte ich zu Bill auf. Er hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und las die Aufkleber, mit denen mein Koffer verziert war. Solange er sich mit dem beschäftigte, auf dem Vorsicht, wenn du auf Drachen triffst, denn mit Ketchup schmeckst du besonders lecker stand, betrachtete ich Bill genauer. Seine Übungspfeife lag neben seinem Stuhl. Sie war neu und glänzte; meine war zerschrammt, und bunte Klebebandstückchen verdeckten einige der Löcher teilweise, damit sie genau richtig gestimmt war. Seine Schultern waren gerade; bei mir stand immer eine etwas höher als die andere, weil ich so viel Dudelsack spielte. Sein Dudelsackkoffer schien noch fast neu zu sein; meiner sah aus, als wäre er schon ein paarmal durch die Hölle gegangen. Allmählich bekam ich den Eindruck, dass das hier Zeitverschwendung war – vor allem, als sich beim Anblick meiner Übungspfeife seine Augen weiteten.

Ich legte den Practice Chanter zurück in den Koffer. Diese Übungspfeife ist eine dünne Plastikversion der Spielpfeife an einem echten Dudelsack, und ihr größter Vorzug liegt darin, dass sie etwa tausendmal leiser ist als die echte – womit das Risiko tausendmal geringer ist, beim Üben innerhalb von Gebäuden gesteinigt zu werden. Vom Kraftaufwand her ist sie auch viel leichter zu spielen: Man erspart sich das ganze Geschnaufe und Gepuste, um den Sack aufzublasen. Außerdem klingt sie wie eine sterbende Gans; wenn man wirklich Eindruck machen will, muss man den richtigen Dudelsack nehmen. Deshalb griff ich nun danach. »Äh, hätten Sie etwas dagegen, wenn ich stattdessen etwas auf dem Dudelsack spiele? In der Schule finde ich nur schwer einen Platz zum Üben, und ich habe das Gefühl, ich habe das Ding ewig nicht mehr aus dem Koffer geholt.«

Bill blickte ein wenig überrascht drein, zuckte aber mit den Schultern. »Sicher, es sind gerade keine anderen Schüler da. Mach das, womit du dich am wohlsten fühlst. Was willst du denn spielen?«

»Weiß ich noch nicht genau.« Ich holte meine Sackpfeife heraus. Der Geruch nach Leder und Holz war mir so vertraut wie mein eigener. Die Bordunpfeifen schmiegten sich an meine Schulter, als ich den Sack mit Luft füllte. Sobald sie die ersten Töne von sich gaben, merkte ich, wie unglaublich laut der Dudelsack in diesem winzigen Raum klingen würde. Ich hätte meine Ohrstöpsel mitbringen sollen.

Etwa zwanzig Sekunden lang sah Bill mir beim Stimmen zu, beobachtete meine Haltung und hörte, wie gleichmäßig ich den Ton während des Stimmens hielt. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, langsam anzufangen und dann mit einem so überragenden Stück abzuschließen, dass er mir die Füße küssen würde. Aber der Dudelsack dröhnte in dem Zimmer dermaßen laut, dass ich es nur hinter mich bringen wollte. Und so setzte ich zu einem meiner liebsten Reels an, einem schottischen Volkstanz, bei dem es einem leicht die Finger verknoten konnte, den ich jedoch praktisch im Schlaf hätte spielen können. Schnell. Sauber. Fehlerfrei.

Bills Gesicht war leer – es zeigte keinerlei Regung. Als hätte ich ihm mit der bloßen Lautstärke den Ausdruck vom Gesicht geblasen. Ich nahm das Instrument von der Schulter.

»Ich kann dir nichts beibringen.« Bill schüttelte den Kopf. »Aber das wusstest du schon, als du herkamst, nicht wahr? Hier in der Umgebung findest du sicher niemanden, der dir etwas beibringen könnte. Vielleicht nicht einmal im gesamten Bundesstaat. Trittst du bei Musikwettbewerben an?«

»Bis diesen Sommer, ja.«

»Warum hast du aufgehört?«

Ich zuckte mit den Schultern. Aus irgendeinem Grund machte es mir keine Freude, es ihm zu sagen. »Bin ganz oben angekommen. Danach fand ich es irgendwie langweilig.«

Erneut schüttelte Bill den Kopf. Er musterte mein Gesicht, und ich konnte seine Gedanken erraten, denn genau das dachten sie immer: Du bist so jung (und ich bin so alt). Mit tonloser Stimme erklärte er: »Ich werde mich dann wohl mit der Schule in Verbindung setzen. Ihnen Bescheid sagen, damit sie sich etwas anderes für dich überlegen können. Aber die wussten das auch schon alles, ehe sie dich aufgenommen haben, nicht wahr?«

Ich ließ den Dudelsack sinken. »Ja.«

»Du solltest dich am Carnegie Mellon College bewerben. Die haben einen Studiengang mit Schwerpunkt Sackpfeifen.«

»Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen«, gab ich zurück. Mein Sarkasmus entging ihm völlig.

»Du solltest dir das wirklich überlegen, wenn du hier fertig bist.« Bill sah mir zu, während ich mein Instrument einpackte. »Es wäre ein Jammer, wenn du nur auf irgendein Konservatorium gehen würdest.«

Ich nickte nachdenklich und ließ ihn weitere intelligente Bemerkungen machen, dann gab ich ihm die Hand und ließ den Unterrichtsraum hinter mir. Ich war enttäuscht, obwohl ich das eigentlich nicht hätte sein sollen. Schließlich hatte ich ja genau das bekommen, was ich erwartet hatte.

 

Als ich aus der Musikalienhandlung kam, saß ein Mädchen auf dem Bordstein. In meiner ziemlich üblen Laune hätte ich die junge Frau keines zweiten Blickes gewürdigt, wenn sie nicht fünf Zentimeter neben meinem Auto gesessen hätte. Obwohl sie mir den Rücken zuwandte, drückte alles an ihr pure Langeweile aus.

Ich legte den Dudelsackkoffer möglichst laut und umständlich auf den Rücksitz in der Hoffnung, sie würde den Wink verstehen – dass ich sie überrollen würde, wenn sie sich nicht endlich vom Fleck rührte, weil ich losfahren wollte.

Doch als ich mit dem Lärmen fertig war, hatte sie sich immer noch nicht bewegt, also ging ich um das Auto herum und blieb vor ihr stehen. Nach wie vor hockte sie reglos da, hatte das Kinn in die Luft gereckt, die Augen gegen die Nachmittagssonne geschlossen und tat so, als würde sie mich nicht bemerken.

Vielleicht war sie mit mir in irgendeinem Kurs, und ich hätte sie erkennen sollen. Wenn sie eine Schülerin war, hielt sie sich aber definitiv nicht an die Kleidungsvorschriften – sie trug eine hautenge Bluse, bedruckt mit einem schwungvollen Schriftzug, und eine Schlaghose, unter deren Jeansstoff mächtige Plateau-Clogs hervorschauten. Dazu war ihre Frisur unverkennbar: irgendwie zerzaustes, nicht ganz lockiges blondes Haar, vorne lang und hinten trendig kurz geschnitten.

»Meine Liebe«, sagte ich höflich, »dein Hintern blockiert meine Stoßstange. Könntest du vielleicht auch ein, zwei Meter weiter südlich herumlungern und mich ausparken lassen?«

Ihre Augen öffneten sich.

Es war, als würde ich in Eiswasser ertrinken. Ich bekam Gänsehaut am ganzen Körper, und in meinem Kopf verkündete eine unheimliche Melodie: nicht normal. Die Ereignisse des vergangenen Sommers gingen mir ungebeten wieder durch den Kopf.

Das Mädchen – wenn es denn überhaupt eines war – blickte mit leuchtend blauen Augen, die durch die dunklen Schatten darunter noch strahlender wirkten, zu mir auf. Mit unendlich gelangweilter Miene sah die junge Frau mir ins Gesicht. »Ich warte schon ewig auf dich.«

Als sie sprach, umhüllte mich ihr duftender Atem: schlaftrunken nickende Wildblumen, frischer Regen und ferner Holzrauch. Eine Ahnung von Gefahr kitzelte mich hinter dem Bauchnabel. Ich wagte mich mit einer Frage vor. »Wie meinst du das, ›ewig‹ – wartest du seit ein paar hundert Jahren oder seit meine Musikstunde angefangen hat?«

»Bilde dir nur nichts darauf ein«, entgegnete sie, stand auf und wischte sich die staubigen Hände am Hintern ab. In diesen Plateauschuhen war sie so groß, dass sie mir schnurgerade in die Augen schaute. Und sie war so nah, dass ich mich beinahe in ihrem Duft hätte verlieren können. »Erst seit einer halben Stunde, aber es hat sich angefühlt wie ein paar hundert Jahre. Also los.«

»Moment mal. Was?«

»Du sollst mich zur Schule mitnehmen.«

Okay. Also kannte ich sie vielleicht doch. Von irgendwoher. Ich versuchte, sie mir in einem meiner Kurse oder sonst wo auf dem Schulgelände vorzustellen, versagte aber kläglich. Ich malte mir aus, wie sie auf einer Waldlichtung um einen Kerl herumhüpfte, den sie gerade irgendeinem heidnischen Gott geopfert hatte. Dieses Bild überzeugte mich mehr. »Äh – Thornking-Ash?«

Sie warf mir einen vernichtenden Blick zu.

Bedeutungsvoll betrachtete ich ihre Jeans mit Schlag. »Ich kann mich nur nicht erinnern, ein so faszinierendes Geschöpf wie dich unter den Schülern bemerkt zu haben.«

Bei dem Wort »Geschöpf« lächelte sie und öffnete die Beifahrertür. »Ach, wirklich? Los jetzt.«

Ich starrte das Auto an, als sie die Tür hinter sich zuknallte. Ich war es gewöhnt, selbst der freche Kerl zu sein, der die Leute überrumpelte. Das Mädchen gestikulierte ungeduldig durchs Beifahrerfenster.

Ich dachte darüber nach, ob es eine schlechte Idee sein könnte, zu dieser Frau in den Wagen zu steigen. Nach einem Sommer voller Intrigen, Autounfälle und Feen war es das wahrscheinlich.

Ich stieg ein.

Das Radio erwachte summend zum Leben, sobald ich den Motor anließ, und sie verzog das Gesicht. »Wow. Du hörst dir vielleicht einen Mist an.« Damit schaltete sie auf einen der voreingestellten Sender um, und ein schwindelerregend schneller Reel ertönte. Das trübe Display des Radios zeigte 113,7. Ich bin kein Technikfreak (allerdings nur, weil Technik mich nicht so interessiert), aber ich glaubte nicht, dass Autoradios so etwas tun sollten.

»Okay«, meinte ich schließlich und fuhr an. »Du gehst also auch auf die Thornking-Ash. Wie heißt du?«

»Das habe ich nie behauptet«, erwiderte sie. Sie legte die nackten Füße aufs Armaturenbrett, die Clogs blieben auf der Fußmatte. »Ich habe dich nur gebeten, mich dort hinzufahren.«

»Aber natürlich. Wie dumm von mir. Wie heißt du?«

Das Mädchen betrachtete meine Hände am Lenkrad, als könnte die Antwort auf diese Frage auf meinen bekritzelten Handrücken zu finden sein. Nachdenklich verzog es das Gesicht. »Nuala. Nein – Elenora. Nein – Polly … Nein, warte. Nuala hat mir am besten gefallen. Ja, bleiben wir bei Nuala.«

Sie sprach den Namen aus, als enthielte er eine Menge U: Nuuuuuuuuuala. Sie lächelte halb, ein selbstgefälliges Lächeln, das mir in meinem eigenen Gesicht lieber war.

»Bist du sicher, dass du dabei bleiben willst?«

Sie musterte ihre Fingernägel und kaute dann an einem herum. »Es ist das Privileg einer Frau, es sich anders zu überlegen.«

»Bist du denn eine Frau?«, fragte ich.

Finster blickte Nuala mich an. »Hat dir noch nie jemand gesagt, dass es sehr unhöflich ist, so etwas zu fragen?«

»Selbstverständlich. Wie ungezogen von mir. Also, sind wir uns schon irgendwo begegnet?«

Nuala wedelte mit einer Hand. »Würdest du mal den Mund halten? Ich versuche zuzuhören.« Sie verstellte den Sitz, neigte die Rückenlehne weit nach hinten und starrte einen Moment lang an den Wagenhimmel, ehe sie die Augen schloss. Mich überkam die grässliche Vorstellung, dass sie gar nicht der Musik im Radio lauschte, sondern irgendeiner fernen Melodie, die nur sie hören konnte. Schweigend fuhr ich weiter, behielt sie aber im Auge. Die Nachmittagssonne fiel durch die Seitenfenster und beleuchtete eine Galaxie von Sommersprossen auf ihren Wangen. Die Sommersprossen wirkten irgendwie unpassend: sehr unschuldig. Sehr menschlich. Dann schlug sie die Augen auf und sagte: »Du bist also Sackpfeifer.«

Das brauchte keine übernatürliche Erkenntnis zu sein. Jeder, der sich während meiner Vorstellung für Bill draußen vor dem Laden aufgehalten hatte, hätte das hören müssen. Trotzdem konnte ich nicht anders, als mir einzubilden, dass ihre Worte irgendeine unterschwellige Botschaft enthielten. »Ja. Ein grandioser obendrein.«

Nuala zuckte mit den Schultern. »Du bist ganz gut.«

Ich warf ihr einen Blick zu. Sie lächelte auf ziemlich spitze Art. »Du willst mich nur ärgern.«

»Ich will damit nur sagen, dass ich schon bessere gehört habe.« Nuala wandte mir das Gesicht zu, und ihr Lächeln erlosch. »Ich habe auch eure Unterhaltung gehört, Pfeifer. Die haben dir hier nichts zu bieten. Wärst du gern besser in dem, was du tust?«

Das beunruhigende Kribbeln verstärkte sich zu einem Stechen. »Das ist eine dumme Frage. Du kennst die Antwort schon, sonst hättest du nicht gefragt.«

»Ich könnte dir helfen.«

Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, mir jedes Wort gut zu überlegen. »Wie stellst du dir das so vor?«

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie sich aufrichtete, und gleich darauf spürte ich ihren Atem an meinem Ohr. »Ich würde dir Geheimnisse ins Ohr flüstern, die dein Leben verändern.«

Ich neigte den Kopf zur Seite, weg von ihr, ehe der Duft ihres Atems mich betören konnte. Meine Gänsehaut bekam selbst eine Gänsehaut. »Und das würdest du ganz uneigennützig tun, da bin ich sicher.«

»Weißt du, ich hätte vergleichsweise wenig davon. Du würdest es gar nicht bemerken. Und du könntest der beste Pfeifer werden, der je gelebt hat.«

»Klar.« Alle möglichen Schauergeschichten über Pakte mit dem Teufel und so weiter gingen mir durch den Kopf, und inzwischen begann ich meine Entscheidung, zu ihr ins Auto zu steigen, ernsthaft zu bereuen. »Also, ich fühle mich sehr geschmeichelt, sage aber nein.« Wir hatten die Schule fast erreicht. Ich fragte mich, was sie tun würde, wenn wir dort ankamen. »Ich bin mit dem Level meiner Genialität zufrieden. Jedenfalls zufrieden genug, um mich aus eigener Kraft weiter voranzuarbeiten. Es sei denn, du hättest so was wie ein kostenloses, unverbindliches Probeabo, das ich nach vier Wochen kündigen kann, ohne dir irgendetwas schuldig zu sein oder meine Kreditkartennummer angeben zu müssen.«

Sie zog eine Grimasse und fletschte die Zähne. »Es ist sehr unhöflich, Hilfe von jemandem wie mir abzulehnen. Egozentrische Idioten wie du erhalten so ein Angebot nur selten.«

Ich protestierte. »Ich habe doch sehr freundlich abgelehnt. Das musst du zugeben.«

»Du hast nicht einmal darüber nachgedacht.«

»Das habe ich. Und, hast du diese Pause gehört? Gerade eben, vor einer Sekunde? Die kam davon, dass ich noch einmal darüber nachgedacht habe. Und die Antwort lautet immer noch nein.«

Knurrend steckte sie die Füße wieder in ihre gigantischen Clogs. »Halt an. Ich steige hier aus.«

»Was ist mit der Schule?«

Nualas Finger lagen wie Klauen auf dem Türgriff. »Übertreib es nicht, James Morgan. Lass mich raus, und ich reiße dir nicht den Kopf ab.«

Etwas in ihrer Stimme klang so wild, dass ich ihr glaubte. Zu beiden Seiten wuchsen Bäume dicht an der Straße. Ich fuhr rechts ran. Nuala fummelte am Griff herum und herrschte mich dann an: »Sie ist verschlossen, du Idiot!«

Die Türen hatten sich automatisch verriegelt. Ich drückte auf den Knopf, der sie entsperrte, und sie stieß die Tür auf. Draußen drehte sie sich zu mir um und fixierte mich mit ihren blauen Augen. Ihre Stimme klang verächtlich. »Ich glaube, dir fehlt sowieso das Potenzial, um zu lernen, was ich dich lehren könnte. Selbstgefälliger Mistkerl.«

Sie knallte die Tür zu, und ich trat aufs Gas, ehe sie es sich anders überlegen konnte. Als ich in den Rückspiegel schaute, sah ich nur ein paar trockene Blätter, die auf der Straße herumgewirbelt wurden.