James

Das Heiligtum«, sagte Paul ehrfurchtsvoll, als ich an die Tür zu Sullivans Zimmer klopfte.

Ich warf Paul einen vernichtenden Blick zu, doch in Wahrheit war ich höllisch neugierig. Erstens darauf, was Sullivan von uns wollte. Und zweitens darauf, wie das Zimmer eines Lehrers so aussah. Ich hatte mir immer irgendwie vorgestellt, dass sie tagsüber herauskamen und unterrichteten und dann in Schuhkartons unter irgendwelchen Betten gelagert wurden, bis man sie wieder brauchte.

»Was meinst du, was er will?«, fragte Paul zum hundertsten Mal, seit wir die Notiz an unserer Tür gelesen hatten.

»Wer kann schon wissen, was Sullivan will?«, entgegnete ich.

Von drinnen war Sullivans Stimme zu hören. »Es ist offen.«

Paul schaute mich mit weit aufgerissenen Augen an, also schob ich die Tür auf und trat als Erster ein.

In Sullivans Zimmer zu stehen war … merkwürdig. Weil es aussah wie unser Zimmer. Dieselbe alte, hohe Decke war in demselben Weiß gestrichen, das nicht richtig weiß war (»Vogelkackeweiß« hatte Paul das genannt, aber ich hatte ihn ignoriert, weil ich den Sarkasmus gepachtet hatte). Er hatte dasselbe kleine Bett mit den Schubladen darunter wie ich, den gleichen knarrenden, schartigen Dielenboden. Ein zugiges Fenster ging auf den Parkplatz neben dem Wohnheim hinaus.

Der größte Unterschied zwischen unseren Zimmern war Sullivans winzige Kochnische, eingequetscht neben einem Bad, das er ganz für sich hatte. Und im Gegensatz zu unserem Zimmer, in dem es immer irgendwie nach Chips, ungewaschener Wäsche und Schuhen roch, duftete es hier nach Zimt, dank einer Duftkerze auf seinem Nachttisch (wie heimelig), und nach Blumen. Auf seinem winzigen Küchentisch stand eine große Vase voller Gänseblümchen, von denen wohl dieser Blütenduft kam.

Paul und ich betrachteten die Blümchen und wechselten dann einen Blick. Mann. Blumen waren furchtbar … hübsch.

»Möchtet ihr Omelette?«, fragte Sullivan von der Kochnische aus. Ohne seine Lehreruniform sah er seltsam aus. Er trug ein schwarzes Juilliard-Sweatshirt mit Kapuze und Jeans, die für eine Autoritätsfigur verdächtig trendig wirkten, und er hielt einen Pfannenwender in der Hand. »Ich kann nur Omelettes.«

»Wir kommen gerade vom Abendessen«, antwortete Paul. Er schien ein bisschen Angst vor Sullivan zu haben, als wäre die Entdeckung, dass der Lehrer ein echter Mensch und gar nicht so viel älter war als wir, irgendwie erschreckend.

Ich ging hinüber und schaute in die Pfanne. »Das sieht aus wie Rührei.«

»Es ist ein Omelette«, beharrte Sullivan.

»Sieht trotzdem aus wie Rührei. Riecht auch so.«

»Ich versichere dir, das ist ein Omelette.«

Ich zog einen der Stühle, die nicht zueinanderpassten, an den runden Tisch und setzte mich. Paul beeilte sich, meinem Beispiel zu folgen. »Sie können uns von mir aus versichern, das sei ein Spanferkel«, erklärte ich, »aber ich halte es trotzdem für Rührei.«

Sullivan schnitt mir eine Grimasse und zelebrierte das Ritual, mit dem man Rührei auf einen Teller befördert, aber so, dass es trotzdem noch aussieht wie Omelette. »Also, ich werde etwas essen, während wir uns unterhalten, falls ihr nichts dagegen habt.«

»Ich könnte es nicht mit ansehen, wenn Sie unseretwegen darben müssten. Stecken wir in Schwierigkeiten?«

Sullivan zog seinen Schreibtischstuhl in die Küchenecke und setzte sich vor seine Eier. »Du steckst immer in irgendwelchen Schwierigkeiten, James. Paul nie. Wie lange noch bis Sonnenuntergang?«

»Zweiunddreißig Minuten«, erwiderte Paul, und Sullivan und ich starrten ihn an. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich Paul seit unserer ersten Begegnung eigentlich gar nicht mehr richtig angeschaut hatte. Ich hatte mir nur irgendwie einen ersten Eindruck von ihm gemacht, der auf runden Augen hinter runden Brillengläsern in einem runden Gesicht an einem runden Kopf basierte – und seither hatte ich auf dieses erste, runde Bild von ihm zurückgegriffen, wenn ich ihn angesehen hatte. Seltsam, dass ich gar nicht bemerkt hatte, wie scharf der Ausdruck seiner Augen war, wie besorgt der Zug um seinen Mund, bis wir unter einer kleinen Neonröhre an Sullivans Küchentisch saßen, nachdem wir wochenlang jede Nacht in einem Zimmer verbracht hatten. Ich fragte mich, ob er sich verändert hatte oder ich.

»Du bist ja ein wahrer Meteorologe«, sagte ich, ein bisschen angefressen, weil er Sullivan demonstrierte, dass es ihm nicht gleichgültig war, wann die Sonne unterging – und weil er irgendwie seine runde Art verändert haben musste, als ich nicht hingeschaut hatte. »Oder wer sonst etwas von Sonnenaufgang, Sonnenuntergang und Mondphasen versteht.«

»Es schadet nie, gut informiert zu sein«, meinte Sullivan und warf mir einen Blick zu, als wollte er mir mit dieser Bemerkung ein schlechtes Gewissen machen. Funktionierte nicht. Er aß einen Bissen Ei und sprach mit vollem Mund. »Also, ich habe heute mit Dr.Linnet gesprochen.«

Paul und ich schnaubten, und ich fragte: »In was hat sie denn einen Doktortitel? Hässlichkeit?«

»Schwach, James. Sie hat in Englisch oder Psychologie oder so promoviert. Euch braucht nur zu interessieren, was diese drei Buchstaben – PhD für Doctor of Philosophy – in Verbindung mit ihrem Namen bedeuten, nämlich, dass sie uns das Leben entsetzlich schwermachen kann, wenn sie will. Das liegt daran, dass ich nur zwei Buchstaben habe: M.A. für Master of Arts. Was an dieser Schule so viel heißt wie ›unterste Stufe der Hackordnung‹.« Sullivan schluckte den nächsten Bissen hinunter und deutete mit der Gabel auf eine Mappe auf dem Tisch. »Sie hat mir eure Entwürfe gebracht. Anscheinend habt ihr damit tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen.«

»Ja. Sie hat ein paar ihrer Eindrücke noch in der Stunde mit uns geteilt.« Ich schlug die Mappe auf. Unsere identischen Entwürfe steckten säuberlich darin, und eine der Ecken war immer noch geknickt, wo Linnet sie vor- und zurückgebogen hatte. Das ärgerte mich jetzt noch.

»Sie hat mehrere … gewichtige Punkte angesprochen.« Sullivan stellte seinen Teller auf den Tisch und legte die Füße daneben hoch. »Zunächst einmal ist ihr aufgefallen, dass euere Arbeit eine recht lockere Interpretation meiner Aufgabenstellung zu sein scheint. Sie hält meine Herangehensweise in diesem Kurs überhaupt für zu nachlässig. Und sie fand offenbar, dass James in ihrem Unterricht ziemlich dreist aufgetreten ist.«

Ich sagte nichts. Schließlich war keiner ihrer gewichtigen Punkte direkt unwahr.

»Sie hat mir empfohlen … Lasst mich schnell nachsehen. Gib mir die Mappe. Ich habe mir das aufgeschrieben, weil ich es nicht vergessen wollte.« Sullivan streckte die Hand aus, und Paul reichte ihm vorsichtig die Mappe. Hinter unseren Entwürfen zog Sullivan ein Blatt Papier hervor. »Also, Empfehlungen. ›Erstens: Stellen Sie Hausaufgaben mit klar definierten Grenzen und seien Sie bereit, diese streng durchzusetzen, vor allem bei schwierigen Schülern, von denen Sie mindestens einen haben. Zweitens: Achten Sie strikt auf ein reines Lehrer-Schüler-Verhältnis, um sich Ihre Position als Respektsperson zu erhalten. Drittens: Seien Sie besonders streng bei der Benotung schwieriger Schüler – deren problematische Einstellung beruht auf mangelndem Respekt und umso stärkerer Selbstüberschätzung.‹«

Sullivan ließ das Blatt sinken und blickte von mir zu Paul. »Außerdem empfiehlt sie mir, dir zu sagen …« Er nickte Paul zu. »… dass du einen neuen Entwurf schreiben sollst, der sich an die Grenzen der Aufgabenstellung hält. Den sollst du bis zur Stunde am Montag vorlegen, wenn du die Chance haben willst, deine Note von einer Drei auf eine Zwei zu verbessern. Und dir …« Er sah mich an. »… soll ich eine Drei für den Entwurf geben und dir sagen, dass du ebenfalls bis Montag eine neue Gliederung vorlegen musst, wenn du keine Sechs bekommen willst.«

Pauls Mund formte sich zu einem Kreis, was ihm sicher nicht bewusst war. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sagte gar nichts. Was auch immer Sullivan tun würde, er hatte sich schon entschieden – ein blinder Affe konnte das erkennen. Und ich hatte nicht vor, um eine bessere Note zu betteln. Scheiß drauf.

Sullivan warf die Mappe auf den Tisch und spiegelte meine Haltung, indem er die Arme verschränkte. »Also habe ich nur eine Frage an dich, James.«

»Bitte.«

Mit dem Kinn wies er in Richtung unserer Entwürfe. »Wen hast du für die Rolle des Blakeley vorgesehen? Ich glaube, ich würde einen ausgezeichneten Blakeley abgeben.«

Paul grinste, und ich erlaubte einer Seite meines Mundes, zu lächeln. »Bedeutet das also, dass ich keine Drei für den Entwurf bekomme?«

Sullivan nahm die Füße vom Tisch. »Das bedeutet, dass ich nicht viel von Regeln halte. Es bedeutet, dass irgendeine verbitterte Dramatiklehrerin mir nicht vorschreibt, wie ich meine Klasse unterrichte. Dieses Stück ist heiß, Jungs. Selbst an dem Entwurf kann ich das schon erkennen. Es könnte eine grandios selbstironische Satire werden, und ich wüsste nicht, warum ihr beiden nicht euer Bestes geben und den Kurs damit bestehen solltet. Aber ihr werdet für eure Note härter arbeiten müssen als eure Mitschüler – die brauchen nur einen Aufsatz zu schreiben.«

»Das ist uns egal«, gab Paul sofort zurück. »Was wir machen, ist viel cooler.«

»Ist es. Wo wollt ihr proben?«

Doch keiner von uns antwortete gleich darauf, denn in der Ferne begann der gehörnte König, langsam und flehend zu singen.

Mit einiger Mühe übertönte ich das Lied: »In der Brigid Hall.«

»Interessante Wahl«, meinte Sullivan. Er ließ den Blick über Paul gleiten, der auf manische Art mit den Fingern auf dem Tisch herumtrommelte, als hätte er zu viel Kaffee getrunken, und ständig blinzelte. Paul sang nicht laut mit dem König der Toten mit, doch er hätte sich ebenso gut eine große Leuchtreklame auf den Kopf setzen können: Wir flippen auch für Sie aus – Telefon 0800-N-E-R-V-O-E-S.

Ich funkelte ihn an.

»Stimmt etwas nicht, Paul?«, fragte Sullivan.

»Er …«, begann ich.

»Ich höre den König der Toten«, platzte Paul heraus.

Na, großartig. Ich stützte das Kinn in die Hand und tippte mit den Fingern an meine Wange.

Sullivan warf mir einen Blick zu und sah dann wieder Paul an. »Was hat er gesagt?«

»Er singt eine Liste von Toten«, sagte Paul. Mit den Fingerspitzen krallte er sich so fest an die Tischkante, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Er drückte die Finger auf die Platte, als spielte er darauf ein Lied. »Nicht die jetzigen Toten. Die zukünftigen Toten. Halten Sie mich jetzt für, na ja, unzurechnungsfähig?«

»Nein.« Sullivan trat ans Fenster und stemmte sich mit der Schulter dagegen. Es quietschte und gab nach. Er schob es ein paar Fingerbreit auf, und kalte Luft strömte zusammen mit dem Lied herein. Es zog an meinen Knochen und drängte mich, aufzustehen und ihm zu folgen. Ich musste meine gesamte Willenskraft aufbieten, um nicht vom Stuhl zu springen und nach draußen zu rennen. »Eine Menge Leute – na ja, Menge ist vielleicht übertrieben –, viele Leute hören ihn im Oktober vor Halloween.«

»Warum?«, fragte Paul. »Warum muss ich das hören?«

Sullivan schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er sagt verschiedenen Leuten verschiedene Dinge. Das bedeutet nicht, dass du verrückt bist.« Aber irgendwie beruhigte mich das nicht. Er sagte das, als könnte Verrücktheit in diesem Fall die angenehmere Alternative sein. Sullivan trat an seine Küchentheke und holte einen Notizblock, den er direkt vor Paul hinlegte.

Gehorsam griff Paul nach dem Stift, der neben unseren Entwürfen lag. »Wofür ist das?«

Sullivan schob das Fenster ein Stückchen weiter auf und betrachtete mich wieder, ehe er Paul antwortete. »Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du die Namen aufschreiben könntest, die er dir sagt.«

Neue Textnachricht

An:

James

 

Linnet hat mich gestern nacht erwischt, als ich vom feentanz kam. Ich weiß, dass sie wusste, wo ich war, & ich hatte angst, weil sie im unterricht so gemein ist. Sie hat nur gesagt, lassen sie sich nicht von jmd. anderem erwischen.

 

Absender:

Dee

 

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