James
Es stellte sich heraus, dass Paul und ich die dümmsten intelligenten Menschen waren, die es je gegeben hatte, weil wir das verdammte Stück nicht umsetzen konnten. Wir hatten Megan dabei, und Eric war da und lümmelte sich auf einem Stuhl, während er auf seinen Einsatz wartete. Ich hatte Sullivan gesagt, dass wir ihn noch nicht brauchten, und das war nur gut, denn es gelang uns überhaupt nichts, außer uns total zum Affen zu machen.
Megan, die am Flügel saß, blickte stirnrunzelnd auf ihren Text. Das Rollenheft in ihrer Hand war ganz zerknittert, was mich verrückt machte, aber ich versuchte, mich zu konzentrieren und zuzuhören, während sie ihren Text vortrug. Sie redete mit mir, sah mich aber nicht an, weil sie noch kein bisschen Text auswendig konnte. Sie las alles ausdruckslos ab und verlieh jedem Wort dieselbe Betonung, so dass alles einen klanglosen Singsang ergab: »ZaubertricksLeonKleineKunststückchenDasistalles.«
Ich trat von einem Fuß auf den anderen. »Warum ist die Bühne so klebrig? Fühlt sich an, als hätte jemand einen Krug Honig getrunken und sich dann hier oben übergeben. Und vielleicht auch noch draufgepinkelt.«
»Das ist nicht dein Text!«, sagte Paul.
»Ach, wirklich«, bemerkte Eric. Er war mürrisch, weil wir noch nicht bis zu einer Szene gekommen waren, in der eine seiner beiden Figuren drankam.
»Und der blöde Flügel stört mich echt«, meinte ich und schaute an Megan vorbei zu dem schwarzen Ungetüm. »Meint ihr, wir können ihn zur Seite schieben, wenn es sein muss? Er nimmt uns viel zu viel Platz weg.«
»Warum jammerst du ständig über den Flügel?«, wollte Megan wissen.
»Er sollte nicht so im Mittelpunkt stehen. Wir brauchen ihn sowieso nur in den Szenen, in denen Paul nicht Oboe spielen kann. Er steht im Weg.«
»Das ist doch egal«, erwiderte Megan. Sie wedelte mit dem zerknitterten Manuskript herum – Herrgott, das machte mich wahnsinnig, warum konnte sie nicht ordentlich damit umgehen? – und starrte mich an. »Können wir jetzt weitermachen?«
Paul zuckte mit den Schultern. »Lies die letzte Textstelle noch mal.«
Ich fand, sie hätte sie etwa zehnmal sprechen müssen, bis sie sich hoffentlich wie ein Mensch und nicht wie eine weibliche Automatenstimme anhörte. Aber einmal mehr war zumindest ein Anfang.
Erneut klappte Megan das verdammte Heft auf und wiederholte: »ZaubertricksLeonKleineKunststückchenDasistalles.«
Ich brauchte nicht in den Text zu schauen, kam mir aber blöd dabei vor, Megan ins Gesicht zu sehen, wenn ich sie ansprach. Also starrte ich auf ihren Scheitel, während sie auf ihr zerknittertes Skript sah. »Ich war dort, Anna. Ich habe ihm dabei zugesehen. Wir sind beschissen.«
»Das steht nicht im Text!«, rief Paul.
»Ach, wirklich«, bemerkte Eric. »Aber es stimmt.«
»Ich habe Hunger.« Pauls Stimme klang flehentlich. Ich hatte allen etwas vom Chinesen versprochen, wenn sie für die Probe das Abendessen im Speisesaal ausfallen ließen.
Ich wollte Automat auf meine Hand schreiben, griff aber stattdessen in die Tasche und holte Nualas Stein heraus. Hektisch rieb ich daran herum, während ich in meinen Text starrte und herauszufinden versuchte, warum sich das alles so kolossal dumm anfühlte. »Es gibt kein Essen, bis Eric mindestens seine erste Szene hatte. Das Stück ist nur eine halbe Stunde lang, Herrgott noch mal.«
Die Tür quietschte, und wir alle schauten schuldbewusst auf, als wären wir bei etwas Schlimmerem ertappt worden als einer miserablen Probe für ein Stück voller Metaphern. Ich beobachtete, wie Paul mit lautlosen Lippenbewegungen »Verdammt heiß« zu mir sagte, und merkte erst einen Moment später, dass es Nuala war, die durch die rote Tür des Gebäudes eintrat.
Nuala schritt den Mittelgang zwischen den Klappstühlen entlang wie eine Amazone in engen Jeans mit Schlag. Scheinbar ließ es sie vollkommen kalt, dass alle sie anstarrten. Sie kletterte auf die Bühne, ging schnurstracks auf mich zu und riss mir das Textheft aus der Hand. Ihr langärmeliges gelbes Shirt ließ einen verlockenden Streifen Bauch unter dem Saum hervorblitzen. Über die Ärmel verlief ein Schriftzug nach unten: inyourhandsinyourhandsinyourhands.
Ich bemühte mich, keine Miene zu verziehen, aber aus irgendeinem Grund drohte ich ständig in Lächeln auszubrechen. Also schaute ich auf das Skript in Nualas Händen hinab, als läse ich mit ihr gemeinsam, und sagte: »Leute, das ist Nuala.«
Nuala blickte sie nicht an. »Hallo«, sagte sie. »Ich bin hier, damit ihr nicht beschissen spielt. Hat jemand ein Problem damit?«
»Kein Problem«, flüsterte Paul.
Megan funkelte Nuala an. Vermutlich war sie eifersüchtig. Tja, damit würde sie wohl allein fertig werden müssen. Ich fühlte mich gleich besser, seit Nuala neben mir stand.
»Okay, geht die erste Szene einmal ganz durch, damit ich mir das anschauen kann«, forderte Nuala uns auf. Ich rechnete damit, dass jemand ihre Autorität in Zweifel ziehen würde, doch das tat niemand. In Wahrheit waren wir wohl alle heilfroh, jemanden zu sehen, der anscheinend wusste, was er tat, oder sich zumindest so verhielt – da kümmerte es keinen von uns, wer das eigentlich war. Sie sah mich mit einer verwegen hochgezogenen Braue an, als wollte sie mein Einverständnis, dass sie die Führung übernahm.
Als wärst du jemals auf die Idee gekommen, mich um Erlaubnis zu fragen, dachte ich, und sie lächelte dreist. Leicht berührte sie meinen Handrücken – ein Stückchen unbeschriftete Haut – und gab mir das Textheft zurück. Dieses dumme Lächeln wollte sich schon wieder auf mein Gesicht schleichen. Ich sog die Unterlippe ein und starrte auf das Skript, bis ich es unter Kontrolle hatte. »Alle bereit für einen neuen Anlauf?«
Nuala hockte sich an den Rand der Bühne wie ein Raubtier vor dem Angriff, und wir gingen die erste Szene durch. Wir kamen uns noch idiotischer vor, weil Nuala uns jetzt zuschaute, und schafften etwa die Hälfte, ehe sie abbrach.
»Wow«, sagte sie und nahm mir das Heft wieder ab. »Ihr seid wirklich beschissen, Leute.«
»Und du bist bitte wer?«, entgegnete Megan.
Nuala hob die Hand, als wollte sie sagen: Halt die Klappe, und schaute stirnrunzelnd ins Skript. »Okay, zuallererst, James, bist du als Leon eine totale Fehlbesetzung. Mond … Paul sollte Leon spielen. Warum lässt du ihn Campbell spielen? Campbell ist ein unverstandenes, größenwahnsinniges Musiker-Wunderkind. Es ist doch klar, dass du ihn spielen müsstest.«
Die anderen lachten.
»Ist das so offensichtlich?«, fragte ich.
»Oh, bitte«, stöhnte Nuala und wedelte mit dem Text. »Das hier ist so subtil wie die Beulenpest. Campbell, das brillante, unverstandene, magische Genie, und sein treuer Freund Leon, in Stücke gerissen von einer schafherdenartigen Gesellschaft, die wahre Magie fürchtet? Nein, wer könnte damit nur gemeint sein? Aber das macht einen Teil seines Charmes aus.« Sie deutete auf Megan, die das Gesicht verzog, als würde Nuala gleich Laserstrahlen aus den Fingerspitzen abfeuern. »Dir dürfte es leichter fallen, deinen Text an Paul-Leon zu richten statt an James-Leon. Denn sich James als Leon vorzustellen … haha.« Anscheinend war die Vorstellung so absurd, dass ihr nicht einmal ein spitzzüngiger Vergleich einfiel. »Versuch es mal. Und sei Anna. Hast du das Stück nicht gelesen? Weißt du nicht mehr, was mit ihr passiert?«
»Tja, nichts, jedenfalls im Vergleich zu Leon und Campbell.« Megan rümpfte die Nase.
»Das liegt daran, dass du es nicht richtig liest.« Nuala blätterte im Skript, wobei sie darauf achtete, die Blätter nicht zu zerknittern – Gott, ich fing tatsächlich an, sie zu lieben –, und deutete auf eine Seite. »Siehst du das hier? Glaubenskrise. Du musst jeden einzelnen dieser Sätze auf genau diesen Teil hin aufbauen. Wenn du an diese Stelle kommst, müssen die Zuschauer nach Luft schnappen und das Gefühl haben, der Teppich würde ihnen unter den Füßen weggezogen, genau wie Anna.«
Megan wühlte sich durch ihr Skript bis zu dieser Stelle. »So hatte ich das noch gar nicht gesehen.«
Nuala zuckte mit den Schultern, als wollte sie sagen: Nein, du natürlich nicht, und sah mich an. »Also, du spielst Pauls Rolle jetzt von Anfang an. Du sprichst als Campbell zum Publikum. Muss ich dir sagen, dass du an die Rolle glauben sollst, damit wir sie dir auch glauben können?«
Das war nicht nötig, und sie wusste es. Ich brauchte mir auch das Textheft nicht von ihr zurückzuholen, weil ich die erste Seite auswendig kannte.
»Moment«, meinte Nuala und ging hinüber zum Dimmschalter. Sie knipste das Licht im Saal aus und die Scheinwerfer über der Bühne an, so dass eine Insel aus Licht in einem Meer von Dunkelheit entstand.
Auf einmal war es wirklich.
»Jetzt«, sagte sie mit einer Stimme, die nur für mich bestimmt war, und deutete nach vorn. »Da ist deine Markierung.«
Ich trat an den Rand der Bühne – sei Campbell – und streckte die Arme zu beiden Seiten aus, als wollte ich das Publikum willkommen heißen oder auch etwas aus dem Himmel herabbeschwören. »Herzlich willkommen, meine Damen und Herren. Ich bin Ian Everett Johan Campbell, der dritte und letzte. Ich hoffe, Ihre Aufmerksamkeit eine Weile fesseln zu können. Ich muss Ihnen sagen, dass das, was Sie heute Abend sehen werden, absolut real ist. Es mag nicht erstaunlich sein, es mag nicht schockierend oder skandalös sein, aber ich kann Ihnen ohne jeden Anflug von Zweifel versichern: Es ist wahr. Und das …« Ich machte eine Pause. »… tut mir aufrichtig leid.«
Ich ließ die Arme sinken, biss mir auf die Lippe und betrachtete die Bühne hinter mir. Dann drehte ich mich um und ging ab. Eric klatschte im Saal, als ich zu Nuala an den Rand der Bühne trat.
»Gott sei Dank, das ist besser«, flüsterte Nuala mir zu. Auch das hätte sie mir nicht zu sagen brauchen. Wir sahen zu, wie Paul und Megan Leon und Anna spielten, und, o Wunder, Paul war ein viel besserer Leon. Und entweder lag es daran oder an Nualas Zureden: Megan war nun eine bessere Anna. Beide mussten immer noch ins Textheft schauen, aber das Ganze sah tatsächlich … glaubhaft aus.
»Zaubertricks, Leon. Kleine Kunststückchen«, sagte Megan. Sie zuckte sogar mit den Schultern. Ich meine, so wie es ein echter Mensch tun würde. »Das ist alles.«
Und Paul regte sich wirklich auf. Ich meine – er war Leon. »Ich war dort, Anna. Ich habe ihm dabei zugesehen. Im Publikum hat eine Frau geweint. Die Leute haben es für echt gehalten. Sie wussten, dass es echt war.«
Ich konnte nicht aufhören zu grinsen.
Nuala zwickte mich in den Arm, und als ich mich ihr zuwandte, sah ich, dass auch sie strahlte vor schöpferischer Freude. Etwas, das ich mein ganzes Leben lang als selbstverständlich hingenommen hatte.
Danke, Izzy Leopard, dachte ich.
»Ihr habt echt Hilfe gebraucht«, sagte Nuala, doch ich hörte ihr an, was sie damit eigentlich meinte: Ebenfalls danke.
Jungs durften keine Mädchen in die Seward Hall mitbringen (sonst würden sie einem die Eier abschneiden und per Eilpost heim zu den Eltern schicken), also warteten wir an der Tür auf den Fahrer vom Chinarestaurant und schleiften dann die bequemsten Sessel der Welt aus der Lobby hinaus auf die Veranda.
Es war ein absolut herrlicher Abend – sämtliche Schattierungen von Gelb, Gold und Rot leuchteten auf den Hügeln hinter dem Wohnheim. Es war ein bisschen zu kühl für blutsaugende Insekten und ein bisschen zu warm, um eine Gänsehaut zu bekommen. Etwas zu essen hatte noch nie so gut geschmeckt wie der gebratene Reis mit Huhn, den ich mit der Plastikgabel aus der Pappschachtel aß, und das tat ich im bequemsten Sessel der Welt mit Nuala auf der Armlehne.
»Ich versuche dir bloß zu erklären, dass es Menschen gibt, die allergisch gegen Wasser sind.« Paul sprach zwischen zwei Bissen von irgendetwas, das rot und schleimig aussah.
»Man kann nicht gegen Wasser allergisch sein«, protestierte Megan. »Der Körper besteht doch zu, was weiß ich, neunzig Prozent aus Wasser.«
Ich unterbrach sie. »Nicht neunzig Prozent. Niemand hat neunzig Prozent Wasser in sich, außer Mrs.Thieves. Die schwappt ja beim Gehen praktisch über.«
Eric schnaubte und hustete etwas Reis aus.
»Oh, das sieht sexy aus«, bemerkte Megan, die dabei zusah, wie Eric den Reis von den Backsteinen schnippte. »Jedenfalls kann niemand allergisch gegen Wasser sein. Das ist so, als wäre man gegen … gegen … das Atmen allergisch.«
Nuala warf Megan einen vernichtenden Blick zu, ehe sie sprach. »Doch, das stimmt. Es hat weltweit, glaube ich, zwei Fälle gegeben. Ich habe etwas darüber gelesen. Die Allergie war so selten, dass sie ewig nicht diagnostiziert wurde, und jetzt müssen diese Leute sehr seltsame Dinge tun, damit sie sich nicht umbringen, indem sie leben.«
Dankbar schaute Paul zu Nuala und fügte hinzu: »Das ist wie bei diesen Leuten, die allergisch gegen Sonnenlicht sind. Sie bekommen als Babys superüblen Sonnenbrand, und wenn man sie nicht vor der Sonne schützt, sterben sie an Krebs. Sie müssen immer bei geschlossenen Jalousien drinnen bleiben. Sonst kriegen sie so grässliche Blasen am ganzen Körper.«
»Das muss schrecklich sein«, sagte Eric. »Als wäre man gegen sich selbst allergisch oder gegen das Leben. Als wäre man nur zum Sterben geboren.«
Nuala wandte sich ab und betrachtete die Hügel. Als ich ihr Handgelenk mit den Fingern umfasste, riss ich damit ihre Aufmerksamkeit wieder an mich. Ich bot ihr eine Gabel voll Reis an. »Willst du mal probieren?«
Sie musterte mich, als wollte sie erwidern: Machst du Witze? Aber entweder war sie neugierig auf Essen an sich, oder sie wollte mich nicht enttäuschen. Vielleicht wollte sie auch vor den anderen menschlich aussehen – jedenfalls beugte sie sich zu mir vor und öffnete den Mund. Ich schaffte es, den Reis da hineinzumanövrieren, ohne ihn ihr komplett übers Shirt zu kippen, was nicht so leicht war, wie es sich anhört. Nur ein einziges Korn blieb an ihrer Unterlippe hängen und drohte jeden Moment herunterzufallen, während sie mit zweifelnder Miene kaute und schluckte.
»Du hast … da ein …« Ich deutete auf ihren Mund, tastete nach einer Serviette und merkte, dass Megan alle hatte. Nuala hätte den Reis einfach wegwischen können, aber sie lehnte sich stattdessen zu mir herab, und ihr Haar, das zwischen uns hing, roch viel zu gut. So kam es, dass ich gerade sacht an Nualas Unterlippe lutschte, als Dee zu uns auf die Veranda kam.
»Hallo, Dee«, sagte Paul. Seine Augen waren weit aufgerissen, und sein Gesichtsausdruck schien zu sagen: O-oh, holt schon mal die Marshmallows, Leute, gleich wird hier jemand gegrillt.
Nuala zog langsam die Lippe zwischen meinen Zähnen hervor und richtete sich auf, und ich schluckte, ehe ich den Kopf wandte und Dee ansah. Ich spürte den plötzlichen, irrationalen Drang, zu lachen.
Wie fühlt sich das an, Dee?
Dees Gesicht, von der untergehenden Sonne halb golden gefärbt, war wie versteinert. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und schaute mich an. »Hallo, James.«
»Hi.« Meine Stimme klang gut. Locker. Ach, hallo, Dee. Ich sitze nur gerade hier rum und esse Reis mit dieser superheißen Frau. Wie geht’s denn so?
Ein Lächeln breitete sich allmählich auf Nualas Gesicht aus.
»Ihr habt euch also was beim Chinesen bestellt?«, fragte Dee, obwohl das offensichtlich war.
»Nein«, sagte ich. »Paul hat einen Wagen gestohlen. Dann hat sich herausgestellt, dass er dem Fahrer vom Fortune Garden gehört. Das nenn ich doppeltes Glück.«
Sie lächelte nicht.
Nuala schon.
»Es ist noch reichlich da«, sagte Nuala. Sie betrachtete mich, und ich kannte sie gut genug, um den scharfen Unterton in ihrer Stimme zu hören. »Genug, um es mit anderen zu teilen.«
Dee sah mich an und sagte mit eisiger Stimme: »Paul und Megan kenne ich. Die anderen nicht.«
Eric war mit den »anderen«, für die sie sich interessierte, offensichtlich nicht gemeint, aber ich stellte ihn trotzdem zuerst vor. »Das ist Eric. Tagsüber ist er Hilfslehrer, und nachts kämpft er gegen das Verbrechen.« Ich sah Nuala an, die mich mit einem intensiven Blick anschaute, den ich nicht interpretieren konnte. Aber er weckte in mir den Wunsch, einen Kuli in die Hand zu nehmen. Den Wunsch, meinen Troststein aus der Tasche zu holen. »Das ist Nuala.« Ich dachte daran, die Worte meine Freundin hinzuzufügen, nur um Dees Reaktion darauf zu sehen. Stattdessen betrachtete ich Nualas Sommersprossen und Ozeanaugen und sinnierte darüber, dass sie völlig anders war als Dee, jetzt, da ich sie beide zusammen sah.
Ich merkte, dass ich Nuala zu lange angeschaut hatte. Ich blickte zu Dee auf und stellte fest, dass ihr Gesichtsausdruck sich nicht verändert hatte. Ihre Stimme allerdings war um ein paar weitere Grade kälter geworden. »Bist du auch Schülerin hier, Nuala?«
Nuala sah von mir zu Dee, und ich bemerkte die glühende Abneigung in ihren Augen. Sie überraschte mich irgendwie, denn Nualas Blick war nicht wie Megans neidisches Starren. Er war … tiefer. Er war … irgendwie … beschützend. Das hätte mir eine Heidenangst machen sollen, aber es fühlte sich gut an.
»Ich lerne hier eine Menge Dinge.« Nuala lächelte Dee mit gefährlich gebleckten Zähnen an. »Du bist also eine Freundin von James?«
Dee lächelte das falsche Bühnenlächeln, das ich von früher kannte, von unserer alten Schule. »Ich kenne ihn seit neun Jahren.«
Nuala streichelte meinen Hinterkopf. Ich musste mich anstrengen, um bei ihrer Berührung nicht die Augen zu schließen. »Das ist eine lange Zeit.«
»Wir sind sehr gute Freunde«, erklärte Dee.
»Offensichtlich.«
Hinter Dees Rücken formte Paul seine Finger zu Klauen und fuhr damit durch die Luft. Mit den Lippen formte er: Miau!
»Wie lange kennst du ihn denn schon, Nuala?«, fragte Dee.
»Ach, seit etwa einem Monat.«
Dees Lächeln gefror. »Das ist nicht sonderlich lange.«
Nualas Lächeln verschwand, als sie zum Siegtreffer ansetzte. Sie ließ die Finger sinken und legte sie hinten auf meinen Kragen. »Ach, ich habe nicht lange gebraucht, um zu merken, was ich da gefunden hatte. Aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen, oder? Du kennst ihn schließlich seit neun Jahren.«
Dee starrte auf Nualas Finger an meinem Kragen und auf meinen ganzen Körper, der sich irgendwie Nualas zuneigte, und ihre Augenbrauen zogen sich zu einem Strich zusammen.
»Ja«, erwiderte Dee. »Ja, das brauchst du mir nicht zu sagen.« Ihr Blick schweifte über Megan und ihre beiden offenen Schachteln voll Essen, über Eric und seine Gitarre, die an der Wand lehnte, über Paul mit seinen runden Augen, über Nuala und ihre Finger in meinem Nacken, und schließlich über mich. Ich wusste, wie es wirkte. Es wirkte so, als käme ich sehr gut ohne sie zurecht. Es wirkte so, als säße ich hier mit meinen Freunden, mit denen ich lachte und chinesisches Essen aus der Schachtel aß. Als sei ich mit allem zufrieden, so wie es war. Es wirkte, als säße Nuala auf der Armlehne meines Sessels, als wäre sie verliebt in mich, als wären wir ein Paar.
Wie Campbell schon sagte: Es mag nicht erstaunlich sein, es mag nicht schockierend oder skandalös sein, aber ich kann Ihnen ohne jeden Anflug von Zweifel versichern: Es ist wahr. Und das tut mir aufrichtig leid.
Es war wahr. Ich war mit allem zufrieden.
Und es tat mir aufrichtig leid.
Ich hatte geglaubt, es würde sich phantastisch anfühlen, es Dee mit gleicher Münze heimzuzahlen. Doch so war es nicht. Ich sah den Ausdruck auf ihrem Gesicht – oder vielleicht eher den sorgsam gehüteten Mangel an Ausdruck – und erkannte ihn, denn ich hatte diese Miene selbst schon zu oft aufgesetzt.
Sie nuschelte irgendeine Ausrede, um von hier wegzukommen, und sie tat mir leid, aber nicht so sehr, dass ich ihr nachgelaufen wäre. Nicht wegen Nuala. Nuala hasste sie zwar, aber sie hätte mich sicher nicht daran gehindert, Dee nachzulaufen und den Schock abzumildern.
Aber ich war fertig damit, alles für Dee abzumildern. Wann hatte sie das je für mich getan? Ich war fertig damit.
Ich hätte Nuala dafür küssen mögen, dass sie mich befreit hatte.