James

Im Film haben sie einen Plan. Sie wissen, dass sie kaum eine Chance haben, aber sie wissen auch, wo sie hingehen. Sie haben große Waffen mit jeder Menge Munition, und sie haben einen wahnwitzigen Plan, der Kampfsport und einen Hightechflaschenzug beinhaltet. Im wahren Leben hat man ein widerlich flaues Gefühl im Magen, eine Menge Adrenalin im Körper und eine eher vage Vorstellung davon, wie der ganze Mist abläuft. Und das Universum lacht dazu und sagt: Na dann los, Mann.

Das wahre Leben war beschissen.

Der Grüne am Rand des Feuerscheins hatte sich in Richtung Brigid Hall umgeschaut, also rannte ich dorthin. Worte drängten sich in meinen Kopf und bettelten darum, auf meine Hände geschrieben zu werden – Feuer und Verrat und zurück zu ihr –, aber ich schob sie beiseite und versuchte, mich auf die keuchenden Atemzüge zu konzentrieren, mit denen ich die kalte Nachtluft einsog.

Ich fand Sullivan an dem Feuer, das sie auf dem Parkplatz neben der Yancey Hall aufgeschichtet hatten. Beim orangeroten Licht der Flammen band er kleine Zweige mit rotem Band zusammen. Funken stoben in unsere Richtung. »James. Ich dachte, du wärst bei …« Er verstummte, und meine ewige Dankbarkeit war ihm sicher.

Ich war völlig außer Atem. »Ich … Sie … müssen … sofort … mitkommen.«

Er fragte nicht, warum. »Wohin?«

Ich japste. »Brigid. Irgendwas passiert in der Brigid Hall.«

»Die Brigid Hall ist leer.« Sullivan wies dorthin. Die Fenster waren dunkel, das Gebäude lag außerhalb des Feuerscheins. Es sah hinter seiner zotteligen, ungemähten Wiese noch schäbiger und trübsinniger aus als sonst. »Sie wird zu Halloween immer abgeschlossen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe es von einem grünen Männchen erfahren. Wissen Sie, ob die einen König der Toten erschaffen können?«

Einen Moment lang starrte Sullivan mich verständnislos an, dann sagte er: »Gehen wir.«

Er drückte mir die Zweige in die Hand und rannte los, so dass sein Umhang hinter ihm herflatterte. Ich lief ihm nach. Meine Schritte hämmerten erst auf das Gehwegpflaster, dann auf den herbstlich trockenen, gemähten Rasen, als wir die Feuer hinter uns ließen. Ich spürte genau die Sekunde, in der wir über den Rand des Lichtscheins hinausrannten. Die Luft um uns wurde eiskalt, und der Boden schien von uns abzurücken.

»Das ist ein Schutz, lass es nicht fallen!«, rief Sullivan mir zu, und ich begriff, dass er das Bündel Zweige meinte. »Schnell!«

Ich raste über die ungemähte Wiese. Dicht neben mir kreischte etwas, und ich sah riesige, samtschwarze Augen vor mir emporsteigen. Ich schüttelte die Zweige in seine Richtung, und es kreischte erneut, ganz ähnlich wie Nuala, ehe es sich davonschlich. Vor mir sah ich Gestalten um Sullivan herumtanzen, sie sprangen auf ihn zu und wichen wieder zurück.

Von dem Gebäude war ich nur noch wenige Schritte entfernt, als ein Umriss direkt vor mir aus dem Boden schoss, so dass ich mit den Armen rudern musste, um nicht zu stürzen. Die Gestalt war klein, leicht und hungrig.

Linnet.

»O Gott«, sagte ich und taumelte rückwärts. »Sie sind tot.«

Sie schwebte ein Stückchen über dem Boden. Als ich sie nach dem ersten Schock richtig betrachtete, staunte ich darüber, dass ich Linnet überhaupt erkannt hatte. Denn sie sah eigentlich gar nicht aus wie sie selbst. Sie war eine Wolke aus blassem, giftigem Gas, gierig und faulig.

»Halt dich aus Dingen heraus, die du nicht begreifst«, zischte Linnet. »Geh zu den Feuern zurück. Überlass die Sache denen, die etwas davon verstehen.«

Und das von der Frau, die mich in Englisch am liebsten durchfallen lassen wollte. »Sie kotzen mich an«, gab ich zurück und streckte ihr das schützende Bündel entgegen.

Sie hatte kein richtiges Gesicht mehr, gab jedoch einen Laut von sich, der wie verächtliches Lachen klang. »Du tust ja nur so.«

Sullivan riss mich an der Schulter herum und stieß mich unter seinen Umhang. »Aber ich nicht. Das erklärt eine Menge, Linnet. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass Sie in der Hölle verrotten werden.« Er schubste mich die letzten Schritte zur Tür vor sich her und wies auf seinen Umhang. »Du solltest doch Schwarz tragen, James.«

Das Gebäude wirkte immer noch leer – dunkel und still. Wir standen vor der roten Tür. Der einzigen roten Tür auf dem Schulgelände. Und aus irgendeinem Grund fühlte ich mich in dieses Kino zurückversetzt, in dem Nuala mir erzählt hatte, dass jeder rote Gegenstand in The Sixth Sense auf eine übernatürliche Präsenz in der Szene hinwies.

Ich schüttelte den Saum von Sullivans Umhang ab und legte die Hand an die Tür. Meine Haut spannte sich und prickelte, als ich eine Gänsehaut bekam.

Ich schob die Tür auf.

 

»James!«, rief Eleanor. »Ich bin sehr enttäuscht, dich hier zu sehen. Ich hatte gehofft, die wahre Liebe würde siegen.«

Es dauerte einen Augenblick, bis ich sie im Saal fand, denn der war voller Feen. Die Klappstühle waren durcheinandergeworfen, an einer Wand entlang häuften sich Blumen. Zwei Körper lagen vor uns, mit grünen Händen und Gesichtern. Eleanor stand in einem Kleid aus Pfauenfedern neben der Bühne. Freundlich lächelte sie mich an. Ihre Ärmel waren hochgerollt, und von einer Hand liefen rote Rinnsale über ihren Arm und verfärbten den Ärmelaufschlag.

In der Hand hielt sie ein Herz.

Und es schlug.

Ich vergaß, dass Sullivan hinter mir stand. Ich vergaß alles bis auf Dees Schreie.

»Wenn das Dees Herz sein sollte«, sagte ich und stieg über einen der grünen Körper hinweg, »dann werde ich sehr böse.« Die Feen, von denen mehrere beinerne Dolche am Gürtel trugen, wichen vor mir beiseite und beobachteten mich neugierig, als ich durch den Saal schritt. Ein paar von ihnen lächelten und wechselten Blicke.

»Sei nicht albern«, erwiderte Eleanor. »Das ist seines.« Mit einer nachlässigen Geste wies sie auf die Bühne hinter sich. Darauf lag ihr Gefährte – der tote Gefährte aus den Hügeln – inmitten eines dunklen, staubigen Kreises auf dem Boden. Er stöhnte und bäumte sich krampfhaft auf. Aus einer klaffenden Wunde mitten auf seiner Brust sickerte schwarzes Blut.

Ich gönnte Eleanor nicht die Befriedigung, zu sehen, wie angewidert ich war, also biss ich die Zähne zusammen und erwiderte ihren Blick. »Ja. Er scheint sich prächtig zu amüsieren. Wo ist Dee?«

Eleanor lächelte so hübsch, dass meine Sicht an den Rändern zu verschwimmen begann. Sie strich sich das helle Haar aus dem Gesicht, wobei sie sich einen roten Fleck auf die Wange schmierte, und deutete vor sich auf den Boden. Sofort erkannte ich die Krümmung von Dees Schultern und ihre klobigen Schuhe. Eleanor zuckte mit den Achseln. »Eigentlich tun wir ihr einen Gefallen. Sie ist nicht sonderlich belastbar, nicht wahr? Nachdem Siobhan Karre das Herz herausgeschnitten hatte, hat Deirdre sich gleich auf meine Schuhe übergeben.« Eleanor wies mit dem Herzen auf ein Paar grüner Pantoffeln unter einem Stuhl. »Ich musste leider Padraic bitten, ihr einen Schlag auf den Kopf zu geben, damit sie sich etwas beruhigt.«

Eine Fee mit einem üppigen weißen Lockenkopf sah mich an und fragte: »Darf ich ihn jetzt töten, meine Königin?«

»Siobhan, wie blutrünstig. Wir sind ein sanftmütiges Volk«, entgegnete Eleanor. Sie wandte sich mir zu. Ein bisschen Blut blubberte aus dem Herzen in ihrer Hand. »Mein lieber Pfeifer, warum kehrst du nicht zum Herbstfeuer und zu deiner Liebsten zurück? Ich bin ja so gespannt, wie diese Geschichte ausgehen wird.«

»Ich auch«, sagte ich. »Und sobald ich Dee habe, werde ich genau das tun.«

Auf der Bühne gab ihr Gefährte einen Laut höchster Qual von sich. Mit blutigen Fingern bedeckte er sein Gesicht.

»Es wird bald vorbei sein, mein Lieber. Cernunnos kommt schon«, versicherte Eleanor ihm. Zu mir sagte sie: »Wenn du noch einen Moment warten würdest, ich bin gleich mit ihr fertig. Siobhan, ich brauche noch einmal das Messer.«

Zu ihren Füßen stöhnte Dee, rollte sich auf den Rücken und hob eine Hand an den Kopf. Mit dem Herz in der einen und dem Messer in der anderen Hand nickte Eleanor Siobhan zu, und die Fee mit dem weißen Haupt stellte einen Fuß auf Dees Schulter.

Ich stürzte mich auf den Höfling neben mir und riss den Dolch aus der Scheide an seinem Gürtel. Ehe Siobhan etwas unternehmen konnte, stand ich neben Eleanor und drückte ihr die Klinge an die Kehle. Sofort bekam ich eine schmerzhaft kribbelnde Gänsehaut.

»Das war dumm von dir«, bemerkte Eleanor. »Was hast du jetzt vor?«

Die Feen steckten die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander, was an leisen Gesang erinnerte.

»Die bessere Frage ist …« Ich hielt das Messer so ruhig, wie ich konnte, als ich zu zittern begann. »… was Ihr jetzt vorhabt?«

»Ich überlege, ob ich dich schnell oder eher langsam töten sollte«, fauchte Eleanor. »Letzteres wäre mir lieber, aber ich habe wirklich nicht mehr viel Zeit, der lieblichen Deirdre das Herz aus dem Leib zu schneiden, ehe Cernunnos kommt. Also wird es wohl Ersteres sein müssen.«

Auf einmal bekam ich ein seltsames, saugendes Gefühl in der Kehle und ahnte, dass sie womöglich nicht bluffte.

»Und wenn ich dich bitte, ihn zu verschonen?«

Jede einzelne Fee im Saal verstummte. Eleanor blickte zur Tür, als Sullivan auf uns zukam und ein paar Meter vor uns stehenblieb. Da hatte er sich ja ganz schön Zeit gelassen.

Als Sullivan uns erzählt hatte, er sei Eleanors Gefährte gewesen, hatte ich angenommen, dass er ihr entkommen war. Ich war nie auf den Gedanken gekommen, dass sie ihn vielleicht einfach hatte gehen lassen.

»Patrick«, sagte Eleanor mit völlig veränderter Stimme. »Bitte geh.«

»Ich fürchte, das kann ich nicht. So lästig James auch sein mag, würde ich ihn doch ungern sterben sehen.«

»Er ist lästig«, gab Eleanor zu. Als würde ich ihr nicht gerade ein Messer an die Kehle halten. Als würde sich ihr aktueller Gefährte – war er überhaupt noch aktuell, mit so einem Loch in der Brust? – nicht vor Qual auf der Bühne winden. »Und ausgesprochen dreist.«

Zustimmend neigte Sullivan den Kopf. »Und da wir gerade dabei sind, meine andere Schülerin bräuchte ich auch.«

Eleanor runzelte sacht die Stirn – das schönste Stirnrunzeln, das die Welt je gesehen hatte. Es tat so weh, dass ich nach Luft rang. »Bitte mich nicht um sie. Ich werde dir diesen Idioten geben. Und ich lasse dich ziehen. Aber bitte mich nicht um Dinge, die ich dir nicht gewähren kann.«

»Die du nicht gewähren willst«, sagte Sullivan, und auch seine Stimme klang anders. »Es geht immer darum, was du tun willst. Eine Frage der Prioritäten.«

Es war, als wären Eleanor und Sullivan ganz allein in diesem Saal. »Meine Untertanen kommen an erster Stelle. Behaupte nicht, das könntest du nicht verstehen, Patrick Sullivan. Denn auch du bist nicht um deinetwillen hier hereingestürmt, sondern wegen deiner Schüler. Ich werde meinen Feen die Freiheit bringen.«

»Ziemlich billig zum Preis von zwei Menschen«, erwiderte Sullivan milde.

Eleanors Stimme knisterte wie Eis. »Wage es nicht, mir Vorhaltungen zu machen. Hast du einen Gedanken an die beiden Leichen verschwendet, über die du hinweggestiegen bist, um vor mich zu treten? Ich glaube, nicht – weil sie nur Feen waren, nicht wahr?«

Ich blickte auf Dee hinab. Sie lag auf dem Rücken, ein Bluterguss verdunkelte ihre rechte Wange, und ihr Blick war auf mich gerichtet. Völlig unergründlich. Ich wusste, wozu sie fähig war. Sie konnte uns einfach hier heraussprengen, wenn sie das wollte.

»Wenn ich so denke, Eleanor, dann nur, weil ich von den Besten gelernt habe. Für eine bedrohte Art habt ihr recht wenig Bedenken, euresgleichen zu töten.«

»Sie sind kein leicht zu regierendes Volk«, schoss Eleanor zurück. »Versuch es doch selbst einmal.«

»Soweit ich mich erinnern kann, haben ein paar meiner Vorschläge wunderbar funktioniert.«

Eleanor wich von meinem Messer zurück, um Sullivan besser anfunkeln zu können. »Hätten wunderbar funktioniert. Wenn ich ein weiteres Paar Hände gehabt hätte, um sie umzusetzen.«

»Ich war mehr als bereit, diese Rolle zu übernehmen. Ich war mir über das Risiko im Klaren.«

Wütend wandte Eleanor sich ab. »Diesen Preis zu zahlen, war ich nicht bereit.«

»Aber diesen schon?«, fragte Sullivan.

Eleanor starrte ihn an.

Und dann ertönte ein wenig bemerkenswertes Plop!

Ich begriff nicht, was dieser Knall bedeutete, bis ich hinter Sullivan Delia entdeckte, Dees allgegenwärtige böse Tante, die über die beiden Feenleichen an der Tür stieg. In der Hand hielt sie eine sehr kleine, unecht aussehende Pistole.

Sehr vorsichtig legte Sullivan eine Hand auf seinen Bauch und taumelte dann in Zeitlupe gegen einen der Klappstühle. Ich schloss die Augen, sah aber trotzdem, was passierte. Er fiel auf Hände und Knie und erbrach sich, erbrach Blumen und Blut.

»Nicht zu fassen, dass ich hier diejenige sein muss, die Rückgrat beweist«, sagte Delia. »Ich wohne seit zwei Wochen in einem Hotel und verbringe jede Nacht bis zu den Ellbogen in toten Feen. Schneidet ihr endlich das Herz heraus, ehe ich böse werde.«

 

Eleanors Ton wurde eisig. »Mein bestes Pferd gehört dem, der mir das linke Auge dieser Frau bringt.«

Genau mein Gedanke.

»Wartet!«, bellte Delia, als jede Hand im Saal nach einem Messer griff. »Ihr könnt mir das verdammte Auge ausstechen, wenn ihr wollt, aber eigentlich solltet ihr der da das Herz herausschneiden. Es ist schon fast elf. Was werdet ihr tun, wenn er hier ist und ihr Herz nicht in ihm steckt?« Sie wies auf den Gefährten auf der Bühne.

Ich ging in die Hocke, packte Dees Arm und hievte sie auf die Füße. Stumm sahen Eleanor und Delia mich nur an. Delia und ihre Pistole standen zwischen mir und der Tür. Eleanor und ihr verdammter Voodoo-Zauber standen zwischen mir und einfach allem.

»Warum rettest du dich nicht?«, zischte ich Dee zu. Im Sommer waren es mehr Feen gewesen, ich war so gut wie tot gewesen, und sie war trotzdem da herausgekommen. Jetzt brannte Nuala ganz allein, Sullivan lag blutend auf dem Fußboden, und Dee krümmte keinen Finger, um einzuschreiten.

Doch statt an mich wandte Dee sich an Delia. »Was habe ich dir eigentlich getan?« Ihre Stimme klang heiser, als hätte sie geschrien oder gesungen.

Delia schüttelte den Kopf und zog ein Gesicht wie die Karikatur einer ungläubigen Miene – als könnte sie nicht fassen, dass Dee das überhaupt fragen musste. »Ich will nur deine Stimme, wenn du sie nicht mehr brauchst.«

Siobhan warf ein: »Meine Königin – wir haben keine Zeit. Schneidet ihr das Herz heraus, pflanzt es ihm ein und macht Karre zum König.«

Im Geiste hörte ich das Lied des Dornenkönigs, der rasch näher kam. Doch statt Wachset, erhebet euch, folget mir lautete der Text nun: Folget mir, labet euch, verschlinget sie.

Eleanor sah Siobhan an und nickte knapp.

Dann ging alles blitzschnell. Siobhan stürzte sich auf Dee, griff mit einer Hand nach deren Schulter und hielt in der anderen das Messer. Stirnrunzelnd starrte Dee auf die Klinge, die zielsicher auf ihr Herz gerichtet war. Und ich streckte den Arm aus und schmetterte den Unterarm und das Handgelenk Siobhan ins Gesicht.

Siobhan kreischte eigenartig schrill und torkelte rückwärts. Das Messer fiel klappernd zu Boden. Blumen strömten aus ihrem Gesicht. Vielleicht zerfiel auch ihr Gesicht zu Blumen.

Eleanor trat zurück, als Siobhan ihr als Blütenteppich zu Füßen fiel. Sie sah angefressen aus.

Ich betrachtete meinen Arm. Der Ärmel meines Sweatshirts war hochgerutscht und enthüllte den eisernen Armreif an meinem Handgelenk. Ein einzelnes gelbes Blütenblatt klebte noch daran. Das verdammte Ding hatte sich also doch als nützlich erwiesen.

Ich hielt Eleanor das Handgelenk entgegen. »Wird das bei Euch genauso wirken?«

Sie sah richtig angefressen aus.

»James!«, rief Sullivan vom Gang zwischen den Stühlen her. Seine Stimme klang nass. Ich versuchte, nicht darauf zu achten. »Links abgehen.«

Natürlich. Der Ausgang hinter der Bühne. Ich nahm Dee bei der Hand und zog sie die Treppe hinauf. Dabei ging ich seitlich, damit ich Eleanor weiter im Auge behalten konnte. Cernunnos’ Gesang klang inzwischen betäubend laut in meinen Ohren. Es war Zeit, hier zu verschwinden.

»Das würde ich nicht tun«, fauchte Delia und starrte uns an. »Das Ding hier hat noch eine Menge Kugeln. Und im Augenblick scheue ich nicht davor zurück, jemanden zu erschießen.«

Sanft faltete Eleanor die Hände vor dem Körper und sagte kalt: »Noch jemanden.« Sie drehte sich um, schaute nach etwas im Gang zwischen den Stühlen und fügte hinzu: »Patrick, zieh dir den Umhang über den Kopf.«

Mir blieb gerade noch Zeit, zu begreifen, warum sie ihn dazu aufforderte, als auch schon die Hintertür aufflog.

Einen Moment lang herrschte nur Stille und schiere, absolute Kälte. Unser aller Atem bildete Wölkchen vor unseren Gesichtern.

Und dann strömten die Toten herein. Sie rannten an den Wänden entlang, flatterten um die Scheinwerfer wie Motten und warfen verrückte Schatten auf den Boden und die Stühle. Sie stanken nach Schwefel und feuchter Erde. Ein Getöse begleitete sie: schrille Schreie, gurgelnde Rufe, kehliger Gesang. Die Toten prallten von den Feen ab wie von Steinen, doch als sie Delia sahen, nahmen ihre Laute einen drängenderen Klang an.

Delia wirbelte herum und gab einen Schuss ab, kurz bevor sie über sie herfielen. Sie verschwand unter dem Gewicht ungreifbarer Dunkelheit, und wenn sie noch einen Laut von sich gab, so wurde er vom Kreischen der angreifenden Horde übertönt.

Und dann bemerkten die Toten uns.

»Dee«, sagte ich. »Tu etwas. Ich weiß, dass du es kannst.«

Mit weit aufgerissenen Augen schaute Dee mich an. Ich erkannte diesen Blick. Als würde ihr System eine Alarmmeldung aufblinken lassen, die mir sagte: Überlastung. Überlastung. Überlastung. Als ich das sah, wurde mir klar, dass sie schon lange auf diesen Moment hingearbeitet hatte – den Moment, in dem sie sich vollkommen aufgab. Ich fragte mich, warum ich es erst jetzt bemerkte, wo es zu spät war.

Die Toten hasteten über die Stühle, krochen die Fenster empor, bohrten ihre Klauen in den Bühnenrand. Delia war nur noch ein raschelnder, strampelnder Haufen auf dem Boden. Ich packte Dee bei den Schultern und sah ihr fest in die Augen. »Dee. Tu es für mich. Du schuldest mir was. Das weißt du genau.«

Dee schaute mich an, und ich konnte beinahe sehen, wie ihr Gehirn meine Worte verarbeitete. Ich wartete darauf, dass sie etwas unternahm – dass sie die Toten in die hinterste Ecke des Raums schleuderte, dass sie den Zorn des Himmels herabrief, was auch immer.

Doch sie nahm nur meine Hände und trat einen Schritt zurück.

Als die Toten die Bühne enterten, blickte ich hinab und entdeckte, dass wir mit diesem einen Schritt in den dunklen Kreis getreten waren, der Eleanors Gefährten umgab. Die Toten wirbelten um diesen Kreis herum, zischten an uns vorbei und bildeten seltsame Formen, die ich so noch nie gesehen hatte. Dee zog sacht an meinen Händen, damit ich noch ein Stückchen nach vorn trat, weiter weg vom staubigen Rand des Kreises.

Eleanors Gefährte zu unseren Füßen lag ganz still. Seine Augen waren offen und glasig. Ich hielt ihn für tot, doch dann blinzelte er. Sehr langsam.

Es gab nichts mehr auf der Welt außer diesem dunklen Kreis. Einwohner: drei. Drei Menschen, jeder auf eine andere Art gebrochen.

Unsere Welt war still.

Die Toten umkreisten ihre Grenze, kamen nicht näher, wichen aber auch nicht zurück. Sie waren so düster wie eine Gewitterwolke.

Cernunnos trat aus ihrer Mitte hervor.