James
Ich rappelte mich im Bett hoch, vertrieb den Schlaf, drückte mich in die Ecke und rieb mir Spinnweben aus Musik vom Gesicht. Sie klebten an mir, wunderschöne, gefährliche Fäden einer Melodie. Ich kratzte daran, bis ich merkte, dass da gar nichts war und ich im Begriff war, mir mein gutes Aussehen mit den Fingernägeln zu ruinieren. Nichts. Musik aus einem Traum. Musik von Nuala. Ich ließ den Hinterkopf mit einem Knall gegen die Wand fallen, der ein paar Hirnzellen abgetötet haben dürfte.
Allmählich hasste ich die Morgenstunden.
Und das Telefon klingelte und ließ eine Armee militanter Miniaturzwerge mit ihren Hämmern auf die Innenseite meines Schädels los. In diesem Augenblick hasste ich das Telefon – nicht nur das in meinem Zimmer, sondern sämtliche Apparate, die jemals vor dem Mittag geklingelt hatten.
Ich stürzte aus dem Bett und zog ein Paar Jeans an. Pauls Bett war leer.
Noch immer war ich in der Musik gefangen, im Schlaf, in schierer Erschöpfung. Ich hielt mir die Stirn und gab schließlich nach. »Hallo?«
»James?« Die Stimme klang angenehm und schrecklich vertraut. In meinem Magen kribbelte das Gefühl unmittelbar bevorstehender Demütigung.
Ich klemmte mir das Telefon zwischen Ohr und Schulter und begann mir die Schuhe zuzubinden. »Wie immer.«
»Hier spricht Mr.Sullivan.« Im Hintergrund hörte ich Gelächter. »Ich rufe aus dem Englischunterricht an.«
Mist, verdammt, zum Teufel und so weiter. Ich sah auf den Wecker, der behauptete, es sei kurz nach neun. Der Wecker musste lügen, denn Paul wäre nie ohne mich losgegangen. »Logisch«, sagte ich und schlüpfte hastig in den anderen Schuh. »Da Sie ja immerhin Englischlehrer sind.«
Sullivans Stimme klang immer noch sehr freundlich. »Das dachte ich auch. Also, deine Mitschüler und ich haben uns gefragt, ob du uns heute Gesellschaft leisten würdest?« Weiteres Lachen ertönte.
»Haben Sie mich auf Lautsprecher gestellt?«
»Ja.«
»Paul, du Mistkerl von einem Verräter!«, schrie ich. An Sullivan gewandt, fügte ich hinzu: »Ich habe nur noch rasch meine Wimpern getuscht und dabei wohl die Zeit ganz vergessen. Ich komme augenblicklich.«
»Du hast gemeint, ich soll schon vorgehen!«, rief Paul im Hintergrund. Ich konnte mich nicht daran erinnern, so etwas gesagt zu haben, aber es klang nach mir.
»Freut mich, das zu hören«, sagte Sullivan. »Ich hatte eigentlich vor, dich so lange von deinen Klassenkameraden ärgern zu lassen, bis du dich bereit erklärst, herüberzukommen. Aber so geht es natürlich viel leichter.«
»Ihren faszinierenden Unterricht würde ich nicht um alles Geld der Welt verpassen wollen«, versicherte ich ihm. Ich richtete mich auf, wirbelte herum und versuchte festzustellen, woher der Blumenduft kam. »Ihre klugen Vorträge und Ihr strahlendes Lächeln bilden den Höhepunkt meiner Tage hier an der Thornking-Ash, wenn ich das anmerken darf.«
»Das kann ich nie oft genug hören. Also bis gleich. Sagt schön auf Wiedersehen zu James, Leute.«
Die Klasse brüllte mir zum Abschied zu, und ich legte auf.
Erneut drehte ich mich im Kreis, denn ich hatte immer noch das Gefühl, nicht allein im Zimmer zu sein. »Nuala.« Ich wartete. »Nuala, bist du noch hier?«
Stille. Nichts war so still wie das Wohnheim, wenn wir alle Unterricht hatten. Ich wusste nicht, ob sie hier war, aber ich sprach trotzdem mit ihr. »Wenn du da bist, hör mir gut zu. Verschwinde endlich aus meinem Kopf. Ich will deine Träume nicht. Ich will nichts von dem, was du mir anbietest. Geh weg.«
Es kam keine Antwort, doch der Duft von Sommerrosen hing weiterhin in der Luft, völlig fehl am Platze in unserem unordentlichen Zimmer. Es war, als wüsste sie, dass ich log. Ich schnappte mir einen Stift von der Kommode, fand eine leere Stelle Haut am Ansatz meines Daumens, schrieb Exorzismus darauf und zeigte das Wort dem Raum, damit sie es sah. Und damit ich es nicht vergaß. Dann schnappte ich mir meinen Rucksack und ließ den Duft von Nuala zurück.
»James«, sagte Sullivan freundlich, als ich mich auf meinen Platz gleiten ließ. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen?«
»Als hätten ganze Heerscharen von Engeln mich in den Schlaf gesungen«, versicherte ich ihm und holte meinen Schreibblock hervor.
»Du siehst auch sehr gut aus«, entgegnete er, hatte den Blick aber schon wieder auf die Tafel gerichtet. »Wir wollten gerade über unseren ersten Aufsatz sprechen, James. Metaphern. Wir haben uns während der ersten Hälfte der Stunde mit Metaphern befasst. Die sind dir ein Begriff?«
Ich schrieb Metaphern auf meine Hand. »Mein Lehrer war wie ein Gott.«
»Das ist ein Vergleich«, gab Sullivan zurück. Er schrieb wie/als an die Tafel. »Bei einem Vergleich benutzt man die Vergleichspartikel ›wie‹ oder ›als‹. Eine Metapher wäre: ›Mein Lehrer war ein Gott.‹«
»Ist er«, rief Megan rechts von mir. Dann kicherte sie und wurde rot.
»Danke sehr, Megan«, erwiderte Sullivan, ohne sich umzudrehen. Er schrieb Die Metapher in Hamlet an die Tafel. »Ich ziehe allerdings Halbgott vor, bis ich mit meiner Promotion fertig bin. Also. Zehn Seiten über die Metapher in Hamlet. Das ist die Aufgabe. Die vorläufige Gliederung ist fällig in zwei Wochen.«
Acht Stimmen stöhnten.
»Seid nicht kindisch« sagte Sullivan. »Das ist jämmerlich einfach. Grundschüler könnten Aufsätze über die Metapher schreiben.«
Ich unterstrich das Wort Metapher auf meiner Hand. Die Metapher in Hamlet war vermutlich das langweiligste Thema, das sich je irgendwer ausgedacht hatte. Neuer Punkt auf meiner To-do-Liste: Pulsadern aufschneiden.
»James, du siehst noch weniger begeistert aus als deine Klassenkameraden, falls das überhaupt möglich ist. Kommt das nur durch ein Zuviel an Schlaf, oder handelt es sich tatsächlich um unverhohlene Abscheu?«, fragte Sullivan.
»Ist nicht meine Vorstellung von einem aufregenden Abenteuer, nein«, entgegnete ich. »Aber so ist eine Englischhausaufgabe ja auch nicht gedacht.«
Sullivan verschränkte die Arme. »Ich mache dir einen Vorschlag, James. Und der gilt für euch alle. Wenn euch ein aufregenderes, abenteuerlicheres Thema für diesen Aufsatz einfällt – das etwas mit Hamlet und Schrägstrich oder Metaphern zu tun hat –, könnt ihr mir davon gern eine Gliederung vorlegen. Der Sinn der Sache ist, dass ihr in diesem Kurs etwas lernt. Und wenn ihr ein Thema wirklich nicht ausstehen könnt, werdet ihr sowieso nur ins Internet gehen und euch irgendwo einen Aufsatz herunterladen.«
»Das geht?«, hauchte Paul.
Sullivan schaute ihn streng an. »Und wo wir gerade von gehen sprechen, raus mit euch. Macht euch schon mal ein paar Gedanken zu dieser Aufgabe und lest weiter. Wir werden in der kommenden Stunde über den nächsten Abschnitt sprechen.«
Die übrigen Schüler packten zusammen und verließen ungestraft zu früh den Raum. Wie ich schon geahnt hatte, rief Sullivan mich jedoch zu sich, als ich gerade gehen wollte. Er wartete, bis die anderen draußen waren, schloss dann die Tür hinter ihnen und setzte sich auf seine Schreibtischkante. Seine Miene war ernst, aber mitfühlend. Die Morgensonne fiel durch das Fenster hinter ihm und ließ sein staubig braunes Haar hellgolden leuchten, so dass er aussah wie ein müder Engel in einem Buntglasfenster – einer, der nicht wie die anderen auf seiner himmlischen Posaune spielt, sondern sie eher aus Pflichtgefühl zeigt und so tut, als ob.
»Bringen wir es hinter uns«, sagte ich.
»Ich könnte dir einen Verweis fürs Zuspätkommen geben.« Sobald Sullivan das gesagt hatte, wusste ich, dass er es nicht tun würde. »Aber ich glaube, diesmal belasse ich es bei einem Klaps auf die Finger. Wenn das noch einmal vorkommt …«
»… bin ich dran«, beendete ich den Satz.
Er nickte.
Das wäre die passende Stelle gewesen, um »Danke« zu sagen, aber das Wort fühlte sich in meinem Mund fremd an. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich es zuletzt ausgesprochen hatte. Dabei hatte ich mich noch nie als undankbar betrachtet.
Sullivans Blick fiel auf meine Hände. Ich sah seine Augen hierhin und dorthin wandern, während er versuchte, den Worten auf meiner Haut einen Sinn abzugewinnen. Sie waren alle in unserer Sprache, und trotzdem konnte nur ich sie verstehen.
»Ich weiß, dass du kein normaler, durchschnittlicher Junge bist«, meinte Sullivan. Er runzelte die Stirn, als hätte er eigentlich etwas anderes sagen wollen. »Ich weiß, dass mehr an dir dran ist, als du dir anmerken lässt.« Er schaute auf den Eisenreif an meinem Handgelenk.
Im Geiste probierte ich verschiedene Sätze aus: Ja, ich bin ungewöhnlich tiefsinnig oder Die Anzahl der Räume in dem Haus, das meine Persönlichkeit darstellt, ist beträchtlich oder Höchste Zeit, dass das mal jemand merkt. Aber keiner davon erschien mir richtig, also schwieg ich.
Sullivan zuckte mit den Schultern. »An uns Lehrern ist auch mehr dran, als wir uns anmerken lassen. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, hab keine Angst, das mit einem von uns zu tun.«
Ich sah ihn direkt an. Wieder trat mir lebhaft das Bild vor Augen, wie er auf die Knie fiel und Blut und Blumen kotzte. »Worüber denn?«
Kurz und humorlos lachte er auf. »Über meine liebsten Auflaufrezepte. Darüber, was deinem Zimmerkameraden solche Angst macht. Oder darüber, warum du gerade jetzt entsetzlich aussiehst. Irgendwas davon.«
Weiterhin betrachtete ich ihn, sah noch immer dieses Bild von ihm in seiner eigenen Pupille, wie er auf dem Boden starb. Ich wartete darauf, dass er den Blick abwandte. Das tat er nicht. »Ich hätte tatsächlich gern ein gutes Rezept für Lasagne. Das ist doch ein Auflauf, oder nicht?«
Sein Mund nahm eine schiefe Form an, die geschickt ein Lächeln imitierte. »Geh zu deiner nächsten Stunde, James. Du weißt, wo ich zu finden bin, falls du mich brauchen solltest.«
Ich blickte auf den breiten eisernen Ring an seinem Finger und wieder in sein Gesicht. »Was waren Sie eigentlich, als Sie noch kein Englischlehrer gewesen sind, Mr.Sullivan?«
Er nickte nur langsam, sog nachdenklich an der Unterlippe und gab sie dann frei. »Gute Frage, James. Gute Frage.« Doch er beantwortete sie nicht, und ich stellte sie ihm nie wieder.
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An:
James
Die musik, die man hört, sagt allen, was für ein mensch man ist. Meine zimmergenossin ingrid ist ein mozart-mensch. Sie hat heimweh, kann aber nicht mit mir darüber reden, weil ich ein trad. irisches mädchen bin und wir nicht dieselbe sprache sprechen.
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