James
Ich brauchte zu lange, um die Sprache wiederzufinden, und eine grauenhafte Sekunde lang glaubte ich, ich hätte ihren Namen vergessen, obwohl ich ihn ihr gerade eben vorgesagt hatte. Wie lange das schon her war. Sekunden? Minuten? Stunden?
»Amhrán-Liath-na-Méine«, sagte ich. Leise. Nur für den Fall, dass jemand zuhörte.
Nuala kreischte.
Scheiße.
Dünn und irgendwie nass verklang der Schrei, aber ich hörte ihn auch weiterhin. Schlimmer noch, ich konnte nicht aufhören, ihr schreiendes Gesicht zu sehen. Mein Gehirn spielte es mir immer wieder vor und projizierte es auf ihre dunkle Gestalt in den Flammen, die sich wand und zitterte.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Fäuste an meinen Körper, so dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Dann sagte ich: »Amhrán-Liath-na-Méine.«
Sie schrie wieder.
Eine Gänsehaut breitete sich über meinen Körper. Vielleicht konnte Eleanor doch lügen. Oder die Wahrheit verzerren. Ich wusste nicht, was meine Worte Nuala antaten, aber ich hatte eine Scheißangst davor, ihren Namen ein drittes Mal auszusprechen.
»Pfeifer!«
Ich fuhr zusammen, als ich die Stimme wahrnahm. Erst konnte ich nicht ausmachen, woher, doch dann merkte ich, dass sie von hinten kam. Wie weit hinter mir, konnte ich nicht sagen. Von irgendwo da draußen in der hungrigen Dunkelheit.
»Pfeifer! James Morgan!«
Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich in die Finsternis und war dankbar für die Sekunde, in der ich Nuala nicht brennen sehen musste.
»Pfeifer, wenn du das Kleeauge liebst, kommst du sofort hierher.«
Mir drehte sich der Magen um, als ich mich umwandte und eine von den männlichen Feen in der Dunkelheit hocken sah, etwa zwölf Meter vom Feuer entfernt. Seine Haut hatte einen grünlichen Schimmer, so dass er im zuckenden Feuerschein wie eine Leiche aussah. »Was willst du?«
»Hat die Leanan Sidhe es dir nicht gesagt? Dass du heute Nacht auf das Kleeauge achtgeben sollst?« Mit einer langen eleganten Bewegung, die irgendwie unmenschlich wirkte, stand er auf. »Sie werden sie töten und aus ihrem Herzen einen neuen König der Toten erschaffen, Pfeifer. Er wird uns und die Toten mit den Kräften des Kleeauges beherrschen. Für uns bedeutet das eine unwürdige Zukunft. Für dich und jeden anderen Menschen wird es die Hölle sein.«
Über die Schulter blickte ich zum Feuer zurück. Ich konnte Nuala immer noch sehen, ein dunkler Schemen in den gierigen Flammen, und auf der anderen Seite die Umrisse tanzender Schüler.
»Warum sollte ich dir trauen?«, fragte ich ihn. Aber eigentlich wollte ich wissen, warum ich Nuala in diesem Feuer sich selbst überlassen sollte. Schließlich hatte ich ihr doch versprochen, bei ihr zu bleiben und ihren Namen zu sagen. Und jetzt musste ich noch einmal von vorn anfangen – siebenmal musste ich ihn ohne Unterbrechung aussprechen, hatte Eleanor gesagt, und sie von Anfang bis Ende brennen sehen.
Er lächelte ein schmales Lächeln, und seine Zähne schimmerten weiß in der Dunkelheit. »Wir haben dir einmal das Leben gerettet, weißt du nicht mehr, Pfeifer? Als sie uns darum gebeten hat, haben wir dich gerettet. Sie hat Luke Dillons Leben für deines eingetauscht.«
Mein Herz hörte zu schlagen auf. Ich bekam keine Luft mehr.
»Ich glaube, du verstehst nicht, Mensch. Sie nehmen sich ihre Kräfte, die Macht des Kleeauges. Sie werden überall hingehen, alles tun können. Und sie töten sie dafür. Ich dachte, du liebst sie.«
Jetzt hörte ich einen weiteren Schrei, diesmal von noch weiter hinten, und auch diese Stimme kannte ich. Sie klang ihrer Singstimme zu ähnlich, als dass sie zu irgendjemand anderem gehören könnte. Mein Gegenüber verzog keine Miene. »Pfeifer, ich würde nicht mit dir sprechen, wenn du nicht derjenige wärst, der dringend gebraucht wird.«
»Ich brauche … ich brauche noch einen Moment«, verlangte ich. Ich wandte mich wieder dem Feuer zu. Nuala war auf die Knie gefallen, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, Haar und Fingerspitzen waren schwarz, und ihre Schultern bebten. Es war nicht fair. Sollte sie nicht ohnmächtig werden? Gab es für sie kein Erbarmen?
»Amhrán-Liath-na-Méine«, sagte ich. Nuala schüttelte es so heftig, dass ich es sehen konnte. »Amhrán-Liath-na-Méine.« Sie krümmte die gebrochenen Finger vor dem Gesicht. »Amhrán-Liath-na-Méine.« Ich flüsterte ihren Namen noch viermal, und jedes Mal schrie Nuala auf, qualvoll und grauenhaft.
Und hinter mir ertönte ein weiterer Schrei, der wie ein Echo von Nualas Kreischen und ebenso schmerzerfüllt wirkte. Dees Stimme. Ich musste mich entscheiden.
Mein Kopf wusste, dass ich versuchen musste, Dee zu retten. Sie war die Wichtigere von beiden. Selbst wenn sie nicht Dee gewesen wäre – sie war mächtig und konnte die Feen noch mächtiger machen. Es gab keinen Zweifel daran, dass Eleanor mir deshalb gesagt hatte, wie ich Nualas Gedächtnis retten konnte. Weil sie darauf setzte, dass ich bei Nuala bleiben und sie von Anfang bis Ende brennen sehen würde, statt mich in das einzumischen, was sie da hinten taten.
Und sie hatte recht. Ich wollte Nuala. Gott, wie ich Nuala wollte. Meine Gefühle für Dee kamen mir dagegen wie eine lächerliche Verliebtheit vor. Aber um Nuala zu bekommen, musste ich bleiben, bis der letzte Rest von ihr verschwunden war. Und dann würde es für Dee zu spät sein.
Sollte ich Nuala retten oder die ganze Welt?
Wenn ich doch nur mich allein unglücklich machen würde, nicht mich und Nuala.
Am schlimmsten war, dass ich Nuala zuletzt dabei sah, wie sie die Hände vom Gesicht sinken ließ. Gerade rechtzeitig, um zu erkennen, dass ich sie im Stich ließ.