Nuala

Er beißt nicht, sondern knabbert, mein Freund, der Tod

Trägt mich ab, bis ich klein bin wie ein Kind

Bald klein genug, um Platz in seiner Hand zu finden,

Mit einem Bissen zu verschwinden hinter seinem sanften Lächeln.

Aus Die Goldene Zunge:
Gedichte von Steven Slaughter

Fühlst du dich besser?«, fragte James.

Aus irgendeinem Grund erinnerte er mich an einen Apfel. Sein Gesicht war gebräunt, weil er mit seinem Dudelsack so viele Nachmittage draußen verbracht hatte, und jetzt, da sein geschorenes Haar zu wachsen begann, wirkte es noch rötlicher als zuvor. Während er so neben mir auf dem Hügel stand und mit den Fingern über die Rispen goldener Gräser strich, erinnerte mich alles an ihm irgendwie an Äpfel.

Eben genau an die Früchte, die zum Ende des Jahres gehörten und abwarteten, bis der Sommer sicher vorüber war, ehe sie sich zeigten.

Ich zerknüllte die Verpackung eines Müsliriegels in der Hand. »Alles ist wohl besser, als ohnmächtig zu sein, schätze ich. Warum will Sullivan mich auf diesem Hügel haben? Ich bin kein Waschbär, den du in deiner Mülltonne gefunden hast. Ihr könnt mich nicht einfach wieder in der Wildnis aussetzen und erwarten, dass ich verschwinde.«

James lächelte halb, doch ich bemerkte, wie seine Finger den Troststein rieben. »Ich glaube nicht, dass er von dir erwartet, in der Wildnis zu verschwinden, meine liebe Natter. Vielleicht hofft er es. Aber er rechnet sicher nicht damit. Er hat gesagt, dass er mit dir reden will.«

»Ich kann überall mit ihm reden.«

»Ach, das ist mir klar. Ich verstehe allerdings, warum er lieber hier reden will, du nicht? Deine … etwas ungewöhnliche Erscheinung könnte auf dem Schulgelände Aufmerksamkeit erregen. Vor allem im Jungenwohnheim.«

Das Gras raschelte unter meinem Rücken, als ich mich hineinlegte und zum tiefblauen Himmel hinaufstarrte. Es war keine Wolke da oben, und im Liegen konnte ich auch die leuchtend bunt gefärbten Bäume am Fuß des Hügels nicht mehr sehen. Trotzdem verkündete alles an diesem Tag – die Kühle der Luft, der Geruch nach Holzrauch, der frische Wind, der uns umwehte –, dass Halloween nicht mehr weit war.

James ragte über mir, sein Schatten fiel auf meinen Körper. Es wurde kalt, wo die Sonne mich nicht mehr berührte. »Alles in Ordnung?«

»Hör auf, mich das ständig zu fragen«, erwiderte ich. »Es geht mir großartig. Ausgezeichnet. Verdammt hervorragend. Ich könnte nicht glücklicher sein. Wie hast du mich gefunden?«

»Du liegst keine zwei Schritte von mir entfernt im Gras. War nicht gerade schwierig.«

»Leg dich hin, damit ich dich hauen kann«, sagte ich, und er lächelte. »Ich meine vorhin. Wie hast du mich auf dem Hügel gefunden, als ich ohnmächtig war? Es war ja praktisch noch Nacht.«

Du meine Güte, er wurde rot. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass James Morgan überhaupt fähig war, zu erröten. Ich wusste, dass ich mir das nicht eingebildet hatte. Er wandte das Gesicht ab, als könnte er dadurch seine roten Wangen verstecken, aber ich konnte seine glühenden Ohren immer noch sehen. »Ich … äh … habe von dir geträumt.«

»Du hast von mir geträumt?« Zuerst konnte ich nur daran denken, dass er so oft von Dee geträumt hatte, aber nicht von mir. Dann wurde mir klar, was dieses Erröten vermutlich bedeutete. »Was für eine Art Traum war das?«

Geistesabwesend biss James auf seinen Troststein, ehe er die Arme verschränkte. »Ha. Du weißt genau, was für eine Art Traum das war.«

Stirnrunzelnd sah ich ihn mit hochgezogener Braue an, ehe ich begriff, dass er meinte, ich hätte es sicher bereits in seinen Gedanken gelesen. Und ich merkte, dass ich seine Gedanken nicht gelesen hatte.

Dann begriff ich, dass ich es nicht konnte.

Ich starrte ihn an und suchte nach den Gedankenfäden, an denen ich mich sonst festhielt und die ich interpretieren konnte. Doch da war nichts. Ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie das ging. Es war, als hätte ich aufgehört zu atmen und versuchte mich daran zu erinnern, wie ich früher immer meine Lunge mit Luft gefüllt hatte.

James hob die Hände, als wollte er sich ergeben. »Hey, ich habe keine Kontrolle über mein Unterbewusstsein. Du kannst mir keine Schuld an Phantasien geben, die ich im Schlaf habe. Außerdem bezweifle ich ernsthaft, dass ich im wahren Leben überhaupt so tanzen könnte.«

Während ich versuchte, seine Gedanken zu fassen, traf mich eine weitere Erkenntnis. Er war nicht mehr golden. Wann hatte ich eigentlich aufgehört, die Musik in ihm zu sehen? Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich sie zuletzt wahrgenommen hatte. Ich wusste – ich wusste, dass nicht er sich verändert hatte. Sondern ich.

Ausgestreckt blieb ich im Gras liegen und schlug die Hände vors Gesicht.

»Aber es geht hier nicht um einen Traum vom Tanzen, oder?« James’ Stimme klang nicht fragend. Ich hörte, wie er sich neben mir ins Gras setzte. »Ist gestern Nacht etwas mit dir passiert?«

»Ich kann deine Gedanken nicht hören«, flüsterte ich hinter meinen Fingern.

James schwieg. Ich hatte keine Ahnung, ob er einfach nicht wusste, was er sagen sollte, oder ob ihm sofort klar war, was das für mich bedeutete. Ich ließ die Hände sinken, weil ich sein Gesicht sehen musste, wenn ich ihn nicht hören konnte. Mit entrücktem Blick starrte er in die Ferne. Seine Gedanken waren für mich so unerreichbar, als gäbe es sie gar nicht.

»Sag doch was«, bat ich kläglich. »Es ist so still. Sag mir, was du denkst.«

»Willkommen in meinem Leben«, entgegnete James. »Ich muss immer raten, was in den Köpfen anderer Leute vorgeht.« Als er mir ins Gesicht schaute, entdeckte er irgendetwas, das seine Stimme weicher werden ließ. Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe mich gefragt, ob das dazugehört, weil Halloween immer näher kommt. Ich habe Eleanor gesehen. Sie hat gesagt, dein Körper wäre völlig erschöpft und du müsstest verbrennen, damit du nicht stirbst. Vielleicht ist es genau das: Du bist erschöpft.«

»Ich fühle mich aber nicht erschöpft. Ich fühle mich …« Ich fürchtete mich davor, es auszusprechen.

James streichelte meinen Handrücken und betrachtete ihn dabei, als wäre er ungeheuer wichtig. »Ich weiß. Hör mal, Nuala …« Er zögerte. »Eleanor hat mir noch etwas verraten. Sie hat mir erzählt, dass es eine Möglichkeit gibt, wie du deine Erinnerungen behalten kannst.«

Mein Magen schien sich vor Nervosität zu überschlagen. »Warum sollte sie das interessieren?«

»Ich weiß nicht. Kann sie lügen?«

Ich schüttelte den Kopf, und das Gras knisterte darunter. Ich dachte daran, was Brendan und Una mir gesagt hatten. »Nein. Aber sie kann Dinge auslassen.«

James verzog das Gesicht. »Ja. Ja, das dachte ich mir. Sie hat behauptet, wenn ich siebenmal deinen Namen ausspreche, während du brennst, würdest du deine Erinnerung behalten.«

»Meinen wahren Namen?« Doch eigentlich dachte ich: meine Erinnerungen?

James nickte.

»Weißt du überhaupt, was das bedeutet?«

Er antwortete: »Ich habe so eine vage Vorstellung, dass es gar nicht gut wäre, wenn dein richtiger Name bekannt wird, oder? Ich meine, die Leute könnten dich damit zwingen, Supermärkte zu überfallen, dich der Unzucht hinzugeben, Filme mit Steven Seagal anzuschauen oder sonst was zu tun, was du freiwillig nie tun würdest.«

»Weshalb ich ihn niemals jemandem nennen würde«, gab ich zurück.

Erneut blickte er auf seine Hand hinab, und seine Wimpern verbargen seine Augen. »Ja, ich weiß.«

»Außer dir.« Ich richtete mich auf, so dass ich ihn direkt anschauen konnte. »Aber du musst mir etwas versprechen.«

James’ Augen waren weit aufgerissen, und seine Miene war entweder unschuldig oder verblüfft. Ich wusste es nicht genau, denn ich hatte bisher weder den einen noch den anderen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen. »Was denn?«

»Versprich mir, dass du mich nicht … zu solchen Sachen zwingen wirst.«

»Nuala«, entgegnete James ernst, »ich würde dich niemals dazu zwingen, dir einen Steven-Seagal-Film anzuschauen.«

Er wusste es nicht. Wusste nicht, welch gewaltige Bedeutung das für mich hatte. Niemand nannte einem Menschen seinen wahren Namen. Niemand. »Versprich mir … versprich mir, dass …« Ich hatte keine Ahnung, was ich ihn versprechen lassen sollte. Als bedeutete das Wort eines Menschen überhaupt etwas. Sie konnten ungestraft lügen.

James beugte sich vor, und einen Moment lang dachte ich, er würde mich küssen. Doch stattdessen schlang er die Arme um mich und schmiegte die Wange an meine. Ich konnte seinen Herzschlag spüren, langsam, fest und warm, halb so schnell wie meiner, und seine unregelmäßigen, kurzen Atemzüge an meiner Wange. Ein Kuss konnte niemals so viel ausdrücken wie das hier. »Nuala«, sagte er, und seine Stimme war leise und seltsam – heiser. »Hab keine Angst vor mir. Du brauchst ihn mir ja nicht zu sagen. Aber ich … ich würde das für dich tun, wenn du möchtest. Ich weiß, dass es da irgendwo einen Haken geben muss, aber ich würde es versuchen.«

Ich schloss die Augen. Das war zu viel. Die Möglichkeit, meine Erinnerungen zu behalten, die Worte der beiden Feen gestern Nacht beim Tanz, die Gefahr, jemandem meinen Namen zu nennen, seine Worte in meinem Ohr. Ich hatte nicht gewollt, dass es so weit ging.

Ich kniff die Augen so fest zu, dass ich flackernde graue Lichter aufblitzen sah. »Amhrán-Liath-na-Méine.«

Mir war schwindelig, nachdem ich das gesagt hatte. Ich hatte ihn tatsächlich laut ausgesprochen. Ich hatte es wirklich getan.

James drückte mich fester an sich, als könnte er dadurch mein Zittern abstellen. Er flüsterte: »Na, Gott sei Dank. Ich dachte schon, du sagst Izzy Leopard. Dann hätte ich lachen müssen, und du hättest mich vermutlich umgebracht.«

»Du bist so ein Idiot«, sagte ich, aber ich war erleichtert. Zu Tode verängstigt, aber erleichtert.

James ließ mich los. Hastig vergewisserte ich mich, dass ich meine Gesichtszüge unter Kontrolle hatte, ehe er mich sah. Er lehnte sich zurück und bewegte die Beine. »Mein Hintern schläft ein. Meinst du, es wäre schlimm, wenn ich ihn ein bisschen falsch ausspreche? Ich meine, das ist nicht gerade ein einfacher Name.«

»Das ist eine ernste Sache!« Das klang heftiger, als ich beabsichtigt hatte. Ich sollte ihn nicht so anfahren. Schließlich wusste ich ja, dass er selbst dann Witze machte, wenn er etwas ernst meinte. Aber es war schwierig, das nicht zu vergessen, wenn ich nicht zur Unterstützung seine Gedanken lesen konnte.

»Ich weiß, dass das ernst ist, du Irre«, meinte er. »Vielleicht das Ernsteste, was ich je getan habe.«

Wir fuhren beide zusammen, als sein Telefon klingelte. James holte es aus der Hosentasche und blickte stirnrunzelnd auf das Display. »Es ist Sullivan.«

Er klappte das Handy auf und beugte sich dicht zu mir herüber, so dass das Telefon zwischen seinem und meinem Ohr steckte. »Ja?«

»James?«

»Warum fragen das alle ständig?«, ereiferte sich James. »Ja, ich bin dran.Warum sollte jemand anderes an mein Handy gehen?«

Sullivans Stimme klang sehr fern. »Entschuldige. Du hörst dich am Telefon so anders an.« Er zögerte kurz und fragte dann vorsichtig: »Ist sie noch da?«

»Natürlich ist sie noch da.«

»Also, es tut mir leid, dass ihr schon so lange da oben wartet. Es gibt … Verdammt. Moment mal.« Eine Pause. »Entschuldigung. James, kannst du mit ihr in die Stadt fahren? Zum Restaurant? Setzt euch an einen der Tische draußen. Einen von den Eisentischen. Hält sie das aus?«

»Ja.«

»Okay. Also dann. Wir sehen uns dort so in einer Viertelstunde.« Erneut zögerte Sullivan. »James …« Eine weitere Pause, dann ein Seufzen. »James, sag den anderen Schülern nichts davon. Hast du Deirdre Monaghan in letzter Zeit irgendwo gesehen?«