James

In den meisten meiner Kurse an der guten alten T-A saßen etwa achtzehn Schüler. Während die Lehrer jeweils den vordersten Teil des Raums einnahmen, hatten wir Schüler uns im Lauf der Wochen praktischerweise nach Persönlichkeitstypen zusammengesetzt. Erste Reihe: Schleimer und Überflieger wie ich. Zweite Reihe: Freunde von Schleimern und Überfliegern. Dritte Reihe: Leute, die weder Schleimer noch Versager waren (Letztere gehörten in die hinterste Reihe). Leute aus der dritten Reihe interessierten mich nicht. Und auch sonst niemanden, glaube ich. Zu gut, um böse zu sein, und zu böse, um gut zu sein. Letzte Reihe: die bereits erwähnten Versager, Unruhestifter und diejenigen, denen einfach alles scheißegal war.

Schon komisch, dass ich eigentlich sowohl in die erste als auch in die letzte Reihe gehörte. Kam einem nicht so vor, als ob das überhaupt möglich sein sollte.

Jedenfalls ging unsere sonst so gemütliche räumliche Ordnung an diesem Morgen zum Teufel. Sullivans Unterricht war mit Linnets Kurs in Dramatischer Literatur zusammengewürfelt worden, zu irgendeinem ruchlosen Zweck, der uns zweifellos später in dieser Stunde enthüllt werden sollte.

Wir hatten also einen strahlend sonnigen Unterrichtsraum eingenommen, der groß genug für uns alle war, und plötzlich mussten wir um unsere vorherige Platz-/Persönlichkeits-Gliederung streiten. Auf diese Weise landeten Paul und ich in der letzten Reihe, wohin ich vermutlich gehörte, während Paul sich diesen Platz vermutlich allein dadurch verdienen konnte, dass er ständig mit mir herumhing. Was ich nicht erwartet hatte, war, dass ich neben Dee sitzen würde, die ebenso sehr in die letzte Reihe gehörte wie ich an die Thornking-Ash im Allgemeinen. Ich hatte kein einziges Fach mit ihr gemeinsam, und ich brauchte viel zu lange, bis ich darauf kam, dass sie dort war, weil sie in Linnets Dramatikkurs war.

Ein paar Augenblicke lang saß ich still da, während die herbstliche Brise durch die großen Fenster auf einer Seite des Raumes wehte und Papier auf den Tischen flattern ließ. Ich dachte an alles Mögliche, was ich zu ihr sagen könnte, Dinge in allen Abstufungen von witzig, informativ oder fragend. Schließlich sagte ich nur: »Du hast hier also tatsächlich auch Unterricht.«

Dee tat mir den Gefallen zu lachen, obwohl das vermutlich der lahmste Scherz meines Lebens war. Dann beugte sie sich über ihren Tisch und flüsterte mir zu: »Es tut mir leid, dass ich gestern so eine Heulsuse war.«

Auf meiner anderen Seite nahm Paul meine Hand, um etwas daraufzuschreiben. Ich spürte, wie er sorgfältig auf meine Haut malte, während ich versuchte, mir eine sinnvolle Erwiderung für Dee einfallen zu lassen. Ihre Augen waren so groß und ihr Gesicht so hübsch wie immer, aber mir fehlte etwas von diesem nagenden Drang, witzig zu sein und mich angenommen zu fühlen – den spürte ich sonst immer, wenn ich in ihrer Nähe war.

Ich dachte: Vielleicht kann ich doch über sie hinwegkommen. Vielleicht muss es nicht ewig weh tun.

»Ehe wir anfangen, brauche ich von Ihnen allen die Gliederung Ihrer Hausarbeiten«, rief Linnet vorne und ersparte es mir damit, die zweitlahmste Bemerkung meines Lebens machen zu müssen. Linnet wirkte von meinem Platz in der Loser-Spinner-Scheißegal-Reihe aus sogar noch kleiner und zerbrechlicher. »Ich sammle auch die Hausaufgaben für Mr.Sullivan ein. Soweit ich weiß, sollten Sie heute auch bei ihm Ihre Entwürfe abgeben.« Von Sullivan war da vorn immer noch nichts zu sehen – normalerweise hätte er längst auf der Schreibtischkante sitzen müssen.

Neben mir schlug Dee ihre Mappe auf, um ihre Gliederung herauszuholen, und dabei sah ich das Blatt Papier darunter. Irgendeine Klausur. Mit einer fetten roten 42 in einem roten Kreis oben rechts. Daneben stand noch ungenügend, nur falls ihr nicht klar sein sollte, dass man mit 42 Punkten durchgefallen war.

Die Einserschülerin aus der ersten Reihe, die wunderschöne und verlorene Dee, blickte zu mir herüber, als wüsste sie instinktiv, dass ich die Klausur gesehen und sofort begriffen hatte, was diese Sechs für sie bedeutete. Einen Moment lang waren ihre Augen weit aufgerissen, der Blick verängstigt und flehend, und ich starrte sie nur an und versuchte gar nicht erst, nicht schockiert dreinzuschauen. Sehr vorsichtig legte Dee die Hand auf die Klausur, damit die Brise das Blatt nicht erfasste. Ihre Finger verdeckten die Note.

Aber das änderte nichts daran, wie falsch das alles war.

»Letzte Reihe! Nach vorn durchgeben, bitte«, sagte Linnet mit unfreundlicher Stimme, die ein wenig zu hart klang.

Wir fuhren zusammen. Dee reichte ihre Hausaufgabe an den Tisch vor ihr weiter, und Paul und ich schickten unsere identischen Entwürfe für Ballade auf den Weg nach vorn. Ich legte die gefalteten Hände auf die Tischplatte und sah dabei Pauls schräge Handschrift, die sich deutlich von meinen eckigen, geraden Buchstaben abhob. Er hatte genug Platz gefunden, um die Worte Frauen = Hirnschmerzen auf meine linke Hand zu schreiben. Mit hochgezogener Braue schaute ich ihn an, und er warf mir einen Blick zu, als wollte er sagen: Ist doch so, oder?

Eine Sechs. Verdammt. Ich war ziemlich sicher, dass Dee noch nie etwas Schlechteres als eine Zwei plus geschrieben hatte, und an dieses eine Mal erinnerte ich mich genau, weil sie mich deswegen angerufen hatte. Sie war von Geburt an auf technische Perfektion programmiert – eine solche Note musste Kurzschlüsse und Fehlfunktionen in ihrem gesamten System auslösen.

Ich konnte an nichts anderes mehr denken.

»Schieben Sie bitte die Tische zu Vierergruppen zusammen«, wies Linnet uns von vorn an. »Beide Kurse haben gerade Hamlet gelesen und die Verfilmung gesehen, und ich möchte, dass Sie in Kleingruppen darüber diskutieren. Ich werde Sie beobachten und auch Mr.Sullivan berichten, wie aktiv Sie sich an der Gruppendiskussion beteiligt haben, wenn er heute Nachmittag zurückkommt.« Sie redete über die Fragen an der Tafel, über die wir sprechen sollten, und erzählte uns, dass sie währenddessen unsere Gliederungen lesen würde und bla, bla, bla, mach endlich Schluss. Wir fingen einfach an, unsere Tische zusammenzurücken, und übertönten ihr Gelaber mit dem Lärm metallener Tischbeine, die über den Boden kratzten.

Es bildete sich ein Kreis aus Paul, mir und Dee aus der letzten Reihe und einer Schülerin aus der dritten Reihe, die wenig erfreut wirkte, in eine Gruppe mit über fünfzig Prozent »Letzte Reihe« assimiliert zu werden.

Die wenig erfreute Schülerin hieß Georgia (und spielte Trompete – ich bemühte mich, ihr das nicht von vornherein übelzunehmen) und beschloss, die Führung zu übernehmen, indem sie die erste Frage von der Tafel vorlas. »Okay. Erste Frage. Mit welcher Figur aus Hamlet identifizierst du dich am meisten?«

Ich betrachtete Dee ganz intensiv – mit so einem Blick, der die Leute nicht nur an Ort und Stelle festhält, sondern außerdem Löcher in sie hineinbrennt, durch die man ohne weiteres einen Bleistift stecken könnte – und sagte: »Ophelia, weil ihr niemand gesagt hat, was zum Teufel da los war, und sie sich deshalb umgebracht hat.«

Dee blinzelte.

Georgia starrte.

Paul begann zu lachen.

Linnet, die noch ganz vorn stand, schaute misstrauisch herüber. Zugegeben, am Beginn einer Diskussion über ein Stück, in dem praktisch jeder schon von Anfang an tot ist oder etwas später stirbt, erregt hysterisches Gelächter durchaus Aufmerksamkeit.

»Sie sollen diskutieren, nicht schwätzen«, sagte Linnet und funkelte uns böse an. Sie steuerte unheilverkündend auf uns zu wie eine Qualle. Dabei versuchte sie vergeblich, nicht auf meine Hände zu starren.

»Wir diskutieren doch.« Ich sah Dee wieder an, deren Blick zwischen mir und Linnet hin und her schoss. »Wir haben gerade über den Mangel an Kommunikation zwischen Hamlet und Ophelia gesprochen, über dessen Parallelen in der Realität. Und darüber, wie saudumm es von Hamlet war, Ophelia über seine wahren Gedanken im Unklaren zu lassen.«

Sullivan hätte meine Stegreifanalyse des Materials zu schätzen gewusst – hey, zumindest hatte ich alles gelesen, oder? –, doch Linnet starrte mich stirnrunzelnd an. »Es wäre mir lieb, wenn Sie in meinem Unterricht auf solche Ausdrücke verzichten würden.«

Ich wandte mich ihr zu und ließ meine Stimme so aufrichtig wie möglich klingen. »Ich werde mir Mühe geben, meine Beiträge jugendfrei zu gestalten.«

»Tun Sie das. Mr.Sullivan erlaubt so etwas in seinem Unterricht sicher auch nicht.« Ihr letzter Satz hatte ein deutlich hörbares Fragezeichen am Ende, als sei sie nicht ganz sicher.

Ich lächelte sie an.

Linnet legte die Stirn in noch tiefere Falten und trieb quallenartig zur nächsten Diskussionsgruppe weiter.

Georgia musterte mich finster, tippte mit dem Bleistift auf ihren Block und sagte: »Ich glaube, ich identifiziere mich am meisten mit Horatio, weil er …«

»Vielleicht ist Hamlet klar, dass Ophelia es nicht kapieren würde«, unterbrach Dee sie, und Georgia verdrehte genervt die Augen. »Ophelia würde Hamlet doch gleich für dumm erklären, ohne den Zusammenhang zu kennen.«

»Du gehst davon aus, dass Ophelia keine Ahnung davon hat, was Hamlet durchgemacht hat«, sagte ich. »Aber Ophelia war beim ersten Mal dabei, schon vergessen? Sie weiß, was für hinterhältige Freaks Gertrude und Claudius sind. Sie ist nicht neu in Dänemark, Dee.«

»Hallo, wovon reden wir hier überhaupt?«, fragte Georgia. »Ophelia weiß nichts von Gertrude und Claudius. Hamlet weiß nur, dass Claudius seinen Vater ermordet hat, weil dessen Geist es behauptet hat, und Hamlet ist der Einzige, mit dem der Geist gesprochen hat. Also weiß Ophelia gar nichts.«

Ich winkte ab und sagte zu Dee: »Ophelia hat nur deshalb keine Ahnung, weil Hamlet sich ihr nicht anvertraut. Anscheinend traut er ihr nicht und glaubt, er könnte alles allein schaffen, was beim ersten Mal nicht gestimmt hat und was diesmal definitiv auch nicht stimmt. Er hätte Ophelia erlauben sollen, ihm zu helfen.«

Dees Augen strahlten ein bisschen zu sehr. Als sie blinzelte, verschwand der feuchte Schimmer. »Ophelia war keine gute Menschenkennerin. Sie hätte sich einfach von Hamlet fernhalten sollen, wie Polonius ihr geraten hat. Die Leute sind nur verletzt worden, wenn sie Hamlet zu nahe waren. Alle sind seinetwegen gestorben. Es war richtig von ihm, Ophelia zu vergraulen.«

Georgia begann wieder zu reden, aber ich beugte mich über meinen Tisch. »Aber Ophelia hat Hamlet geliebt«, entgegnete ich zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Dee starrte mich an, und ich starrte zurück. Ich war ein bisschen geschockt, dass ich es tatsächlich ausgesprochen hatte. Dann ruinierte Paul die Stimmung, indem er meinte: »Jetzt kapiere ich es. Die ganze Sache mit dem umgekehrten Geschlecht hat mich durcheinandergebracht. Sullivan muss Polonius sein. Er hat auch so ein Vaterrollending laufen, wie Polonius bei Ophelia.«

»Gott des Offensichtlichen, wir danken dir«, erwiderte ich und ließ mich auf meinem Stuhl zurückfallen.

Georgia wies auf die Tafel. »Will jetzt jemand über die zweite Frage sprechen?«

Niemand wollte über die zweite Frage sprechen.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Jetzt empfand ich eine Art herrlicher Distanz zu der Situation, eine Objektivität, die mir immer zu fehlen schien, wenn Dee in der Nähe war. Allmählich kam ich von ihr los. Ich konnte tatsächlich über sie hinwegkommen. »Ich finde eben, Hamlet sollte Ophelias Anrufe gar nicht erst annehmen, wenn er sie dann doch nur anlügt«, fuhr ich fort. »Ophelia kommt langsam damit klar, dass Hamlet ihr das Herz gebrochen hat und nur noch mit ihr befreundet sein will. Aber auch Leute, die nur gute Freunde sind, belügen einander nicht

Georgia schnitt eine Grimasse und öffnete den Mund, aber Paul legte den Zeigefinger an die Lippen und beobachtete Dee.

Dees Stimme klang sehr leise, und das war auch nicht mehr ihre Schulstimme. Ich meine, jeder Mensch hat zwei Stimmen – eine, die er in der Öffentlichkeit benutzt, und eine, die nur für dich ist. Die Stimme, mit der er spricht, wenn man mit ihm allein ist und niemand sonst ihn hören kann. Sie sprach mit dieser Stimme, der Stimme vom letzten Sommer, als ich noch geglaubt hatte, es würde Sommer um Sommer unverändert so weitergehen. »Hamlet könnte es nicht mit ansehen, wenn Ophelia noch einmal so verletzt würde.«

Sie sah mich an. Aber sie schaute mir nicht in die Augen, sondern betrachtete die Narbe über meinem Ohr.

»Oh«, sagte ich.

Aus irgendeinem Grund wurde mir erst in diesem Moment klar – als Dee meine Narbe ansah und diese alte Stimme benutzte –, dass sie mich auch liebhatte. Sie hatte mich schon die ganze Zeit über geliebt, nur nicht auf die Art, wie ich es mir wünschte.

Scheiße.

Der Herbstwind, der durch die hohen Fenster kam, brachte seltsam unpassende Düfte mit sich: Thymian und Klee und diesen feuchten Geruch, der aufsteigt, wenn man einen großen Stein umdreht. Ich saß viel zu lange irgendwie da und sagte nichts.

»James und Paul, würden Sie bitte kurz zu mir nach vorne kommen?«, wies Linnet uns mit unheilverkündender Miene an. Sie sah viel lehrerhafter aus als Sullivan, weil sie am Lehrerpult saß statt darauf. Ich nahm mir vor, mich nie hinter einen Schreibtisch zu setzen. »Deirdre und Georgia, Sie können mit der Diskussion allein fortfahren.«

Ich stand auf, doch ehe ich mit Paul nach vorn ging, berührte ich Dees Handrücken. Ich weiß nicht, ob sie wusste, was das heißen sollte, aber ich wollte ihr sagen, dass – ich weiß nicht, was ich ihr damit zu verstehen geben wollte. Irgendwie wollte ich ihr wohl zeigen, dass ich es endlich kapiert hatte. Ihr Gesicht bekam ich nicht mehr zu sehen, nachdem ich ihre Hand berührt hatte, doch ich bemerkte, wie Georgia mir und Paul mit gerunzelten Brauen hinterherschaute.

Ganz vorn im Unterrichtsraum blieben Paul und ich vor Linnets Pult stehen, als warteten wir darauf, gleich zum Ritter geschlagen zu werden. Na ja, ich stand jedenfalls so da. Paul zappelte unruhig. Ich vermutete, dass er noch nie richtig Ärger bekommen hatte.

»Sie sind Freunde?«, fragte Linnet. Sie sah aus wie ein Vögelchen hinter dem großen Tisch, das Haar wirkte wie gesträubte blonde Federn. Mit dunklen, argwöhnisch dreinblickenden Augen blinzelte sie zu uns auf.

Gerade wollte ich ihr erläutern, dass wir praktisch Blutsbrüder seien, als Paul antwortete: »Und Zimmergenossen.«

»Tja.« Linnet legte unsere Entwürfe nebeneinander vor sich hin. »Dann verstehe ich das nicht. Hat hier einer den anderen abschreiben lassen, oder ist das ein Plagiat? Oder soll das ein überhaupt nicht witziger Scherz sein? Es ist nicht meine Aufgabe, Mr.Sullivans Hausaufgaben zu benoten, aber ich konnte unmöglich übersehen, dass Ihre Entwürfe für den Aufsatz identisch sind.«

Paul sah mich an. Ich sah Linnet an. »Weder noch. Haben Sie sie nicht gelesen?«

Linnet wedelte mit einer Hand. »Für mich war das nur wirres Zeug.« Sie zog die Titelseite meiner Arbeit näher heran und las laut vor:

»Ballade:

Schauspiel in drei Akten,

das sich stark auf die Metapher stützt

und nur für jene Bedeutung besitzt,

die die Welt so sehen, wie sie wirklich ist.«

Sie betrachtete uns und zog eine Braue hoch. »Ich wüsste nicht, was das mit der Aufgabenstellung zu tun hat – sollten Sie nicht einen zehnseitigen Aufsatz über die Metapher schreiben? Und diese kryptische Zusammenfassung erklärt immer noch nicht, warum sie im Wortlaut mit Pauls Hausaufgabe vollkommen übereinstimmt.«

»Sul… Mr.Sullivan wird es verstehen.« Am liebsten hätte ich ihr die beiden Blätter weggenommen, ehe sie mit dem Rotstift, der nur Zentimeter von ihren Fingern entfernt lag, etwas daraufschreiben konnte. »Das ist ein Gruppenprojekt, und das Stück ist unser Aufsatz. Wir schreiben und spielen es gemeinsam.«

»Nur Sie beide? Soll das eine Art Sketch werden?«

Ich wusste wirklich nicht, warum ich ihr das erklären sollte, da sie unsere Arbeit schließlich nicht bewerten würde. Sie bog die Ecke einer unserer Titelseiten vor und zurück, den Blick immer noch auf uns gerichtet. Ich hätte ihr nur zu gern einen Klaps auf die Finger gegeben. »Paul und ich und noch ein paar andere. Wie gesagt, Mr.Sullivan wird damit einverstanden sein.«

»Machen andere denn auch solche Projekte?« Linnet sah uns stirnrunzelnd an und starrte dann auf die geknickte Ecke des Blattes, als könnte sie sich nicht erklären, wie die Falte ins Papier gekommen war. »Es erscheint mir unfair, ein Projekt, das sich so drastisch von den anderen unterscheidet, nach demselben Maßstab zu bewerten wie herkömmliche Aufsätze, die den Regeln entsprechen.«

O Gott, jetzt würde sie uns einen Vortrag über Regeln halten, und ich würde mich nicht daran hindern können, irgendetwas unglaublich Sarkastisches zu sagen und dadurch auch den lieben Paul gleich mit in den Abgrund zu reißen. Ich biss mir auf die Innenseite der Unterlippe und bemühte mich, sie nicht böse anzufunkeln.

»Mr.Sullivan ist neu an der Thornking-Ash. Und noch recht neu im Lehrberuf. Ich glaube, ihm ist noch nicht bewusst, welche Auswirkungen es haben kann, wenn man Schülern erlaubt, die Grenzen allzu weit zu überschreiten.« Linnet legte unsere Entwürfe übereinander und griff zum Rotstift. Ich verzog das Gesicht, als sie Format/Aufbau ganz oben auf beide Blätter schrieb. »Ich werde mit ihm darüber sprechen, wenn er zurückkommt. Mit dem Aufsatz müssen Sie wohl wieder ganz von vorn anfangen. Es tut mir leid, dass er Sie offenbar hat glauben lassen, Sie könnten seine Aufgabenstellung so locker interpretieren.«

Obwohl ich ihr gern eine sehr scharfe Erwiderung an den Kopf geworfen hätte, wie: Es tut mir leid, dass Sie offenbar der Meinung waren, Sie könnten »weibliches Aussehen« so locker interpretieren oder Wer ist gestorben und hat Sie zur Göttin ernannt, Süße?, lächelte ich nur angespannt. »Natürlich. Sonst noch etwas?«

Sie sah mich finster an, als hätte ich meine ausgesuchten Antworten laut ausgesprochen. »Ich kenne junge Leute wie Sie genau, Mr.Morgan. Sie halten sich für etwas Besonderes, aber warten Sie nur, bis es hinausgeht ins echte Leben. Sie sind ebenso wenig besonders wie alle anderen, und Ihre Witzchen und Ihre Verachtung jeglicher Autorität werden Sie nirgendwohin bringen. Mr.Sullivan hält Sie vielleicht für einen aufgehenden Stern, aber ich kann Ihnen versichern, dass ich das nicht tue. Sternchen wie Sie sehe ich jeden Tag in der Atmosphäre verglühen.«

»Danke für den Tipp«, sagte ich.

 

Ich spielte beschissen. Mitten an diesem herrlichen Tag stand ich auf meinem herrlichen Hügel. Alles war übersättigt mit herbstlichen Farben, mein Dudelsack klang phantastisch, die Luft an meiner Haut fühlte sich wunderbar an – und ich konnte mich auf rein gar nichts konzentrieren.

Dees schlechte Note.

Pauls Liste der Toten.

Nualas Finger an meinem Handgelenk.

Ich schloss die Augen und hörte zu spielen auf. Langsam atmete ich aus und versuchte, mich auf diesen schmalen, kleinen Teil meines Selbst zu konzentrieren, in den ich mich bei Wettbewerben zurückzog. Der kam mir jetzt jedoch vor wie eine unzugängliche Felsspalte, in die ich unmöglich reinpassen konnte, weil ich zu klobig und zu lang war.

Ich öffnete die Augen wieder. Der Hügel war immer noch leer, weil alle anderen entweder Ensemblestunden oder Einzelunterricht hatten. Ein Glück, denn deshalb war niemand in der Nähe, der hörte, wie mies ich spielte. Vielleicht war ich tatsächlich nur eine Sternschnuppe, wie Linnet gesagt hatte, und ich würde ein großer Niemand in irgendeinem Büro werden, wenn ich hier herauskam.

Ich blickte auf meinen Schatten hinab, der sich blaugrün und lang auf dem niedergetrampelten Gras erstreckte, und während ich hinsah, erschien ein zweiter Schatten daneben.

»Du spielst heute beschissen«, bemerkte Nuala hinter mir.

»Danke, da fühle ich mich doch gleich besser«, entgegnete ich.

»Ich soll auch nicht dafür sorgen, dass du dich besser fühlst.« Nuala ging um mich herum und trat vor mich, und ich schluckte, als ich ihre Hüftjeans und das hautenge T-Shirt in allen Farben des Ozeans sah, genau wie ihre Augen. »Ich soll dafür sorgen, dass du besser spielst. Ich habe dir etwas mitgebracht.«

Sie streckte mir die Faust hin und öffnete langsam die Finger, um es spannend zu machen.

»Nuala«, sagte ich und griff nach ihrem Geschenk, »das ist ein Stein.« Ich hielt ihn mir vors Gesicht, um ihn mir genauer anzusehen, aber es war tatsächlich nur ein Stein. Er war etwa so lang wie mein Daumen, ganz weiß und von vielen Jahren glatt poliert.

Nuala schnaubte und riss ihn mir aus der Hand, ehe ich sie daran hindern konnte. »Das ist ein Worry Stone, ein Troststein«, erklärte sie. »Schau her, dummer Mensch.« Sie legte sich den Stein auf die Handfläche und rieb mit Daumen und Zeigefinger daran.

»Was soll das genau bewirken?«

Nuala legte den Stein in ihre linke Hand, nahm mit der rechten meinen Daumen und hielt ihn so, wie sie eben den Troststein gehalten hatte. »Du musst ihn reiben«, sagte sie, und einer ihrer Mundwinkel hob sich, »wenn du dich entspannen willst.« Mit Daumen und Zeigefinger strich sie über meinen Daumen, genau so, wie sie es eben bei dem Stein gemacht hatte. Ihre Finger berührten meine Haut und hinterließen unsichtbare Versprechen, und, o verdammt, mir wurden die Knie weich dabei.

Grinsend drückte sie mir den Stein in die Hand. »Ja. Du hast es erfasst. Du reibst einfach den Stein, wenn du nervös wirst oder Ruhe zum Nachdenken brauchst. Ich dachte, er könnte dich davon abhalten, deine Hände vollzuschreiben. Natürlich kann er nichts daran ändern, dass du ein neurotischer Freak bist. Aber er wird bewirken, dass andere Leute dich erst als neurotischen Freak erkennen, wenn es zu spät ist.«

Ich schluckte wieder, aber diesmal aus einem anderen Grund. Dieser Handschmeichler war vielleicht das aufmerksamste Geschenk, das ich je von irgendwem bekommen hatte. Solange ich zurückdenken konnte, hatte ich Dankbarkeit für Geschenke immer heucheln müssen. Jetzt, da ich tatsächlich dankbar war, schien ein Danke schön irgendwie nicht auszureichen.

Es kam mir ganz falsch vor, dass die erste Reaktion, die mir einfiel, eine sarkastische Erwiderung war. Etwas, das dieses Gefühl der Wärme aus meinen Wangen vertreiben und mir die Selbstbeherrschung zurückgeben konnte.

»Du kannst dich später bedanken.« Nuala wischte sich die Hände an der Hose ab, obwohl an dem Stein nichts war, wovon sie hätten schmutzig werden können. »Wenn du das nächste Mal vergisst, einen Kuli mitzunehmen.«

»Das …« Ich verstummte, weil meine Stimme komisch klang.

»Ich weiß«, sagte sie. »Also, spielst du jetzt weiter oder nicht? Du kannst nach diesem letzten Tanz nicht einfach aufhören. Der war total …«

»Beschissen?«, schlug ich mit völlig normaler Stimme vor, steckte den Stein ein und ordnete meine Pfeifen.

»Ich wollte etwas Netteres sagen, zum Beispiel … Ach was, du hast recht. Beschissen stimmt schon.« Sie zögerte, und ihr Gesicht nahm einen ganz anderen Ausdruck an. Beinahe unschuldig. »Können wir mein Lied spielen?« Sie meinte das Stück, das sie mir im Traum geschickt hatte – die Musik, die ich auf dem Klavier gespielt hatte.

Ich fand es grässlich, nein zu sagen. Ich hatte das Gefühl, dass ich sie für diese Augenblicke geistiger Klarheit und nicht-mörderischen Verhaltens belohnen sollte. »Es passt nicht zum Tonumfang vom Dudelsack.«

»Wir können es abändern.«

Ich verzog das Gesicht. Natürlich konnten wir es so zusammenquetschen, dass es passte, aber das würde dem Stück das Leben auspressen. Die Schönheit der Melodie lag in den hohen Tonlagen, und da reichte der Dudelsack einfach nicht hin.

»So schlimm wird es nicht. Komm schon«, sagte Nuala. Dann merkte sie offenbar, dass sie niedlich und lieb klang, denn sie zog die Augenbrauen hoch und fügte hinzu: »Es kann jedenfalls nicht schlimmer sein als der Jig, den du eben verhackstückt hast.«

»Ha. Deine Worte schmerzen wie scharfe Klingen. Also gut. Beweise mir, dass ich nicht recht habe.«

Erneut stimmte ich die Pfeifen, und Nuala stellte sich dicht an meine Schulter. Unsere Schatten wurden zu einem einzigen blaugrünen Umriss auf dem Gras, mit zwei Beinen und vier Armen. Nur einen Moment lang zögerte ich, ehe ich hinter mich griff und ihre Hand nahm. Ich zog sie um mich herum und legte ihre Finger auf die Spielpfeife. Ihre Hand sah klein darauf aus, und sie musste die Finger strecken, um alle Grifflöcher zu bedecken.

»Du weißt doch, dass das nicht funktioniert«, meinte Nuala leise.

Ja, das wusste ich. Deswegen brauchte es mir aber noch lange nicht zu gefallen. Ich schob die Hand unter ihre und bedeckte die Löcher mit den Fingern, so dass ihre Hand immer noch auf meiner lag. »Dann tun wir eben so. Wo ist deine andere Hand?«

Sie musste sie zwischen meinem Arm und meinem Körper durchschieben, damit sie den Luftsack nicht einengte, aber sie schaffte es, die Finger auf meine andere Hand zu legen. Dank ihrer lächerlich hohen Korkabsätze war sie groß genug, um das Kinn auf meine Schulter zu stützen.

Meine Stimme klang ein wenig zu leise. »Erst den Jig, dann dein Lied?«

»Du bist der Boss«, entgegnete sie.

»Ach, wäre das schön«, erwiderte ich und begann zu spielen.

Diesmal kam kein Mist dabei heraus. Es war, als sei alles, woran ich gedacht hatte, verschwunden – außer der Musik und Nualas Armen. Der Jig fühlte sich so leicht an wie ein Heliumballon: Die hohen Töne schwebten in den Himmel empor, und die tiefen zogen das Lied zur Erde, ehe sie es wieder hochhüpfen ließen. Und meine Finger – sie funktionierten wieder. Sie hoben und senkten sich, bewegten sich über die ganze Spielpfeife so schnell wie gutgeölte Kolben, und jeder Ton klang perfekt und sauber. Die kurzen Verzierungsnoten sprudelten wie Lachen zwischen den großen, runden Tönen hervor.

Ich brachte die Pfeifen zum Schweigen – vollkommene Stille, vollkommen richtig – und grinste den Hügel hinab.

Nuala sagte: »Ja, gib du ruhig an. Willst du jetzt, dass ich dir helfe, oder nicht?«

»Ich – was?« Ich wollte den Kopf wenden, um sie anzusehen, aber mit dem Kinn auf meiner Schulter war sie zu nahe, als dass ich ihr ins Gesicht hätte schauen können. Gründlich überlegte ich, ob ich irgendein Zeichen dafür wahrnahm, dass sie mir ihre musikalischen Kräfte geliehen hatte. Aber ich fühlte nur die Musik und ihre Fingerspitzen auf meinen. Und dann nichts mehr außer der schieren Freude an dem Jig. »Ich dachte, das hättest du.«

»Ach, egal. Können wir einfach spielen?«

»Du bist der Boss«, gab ich sarkastisch zurück.

»Ach, wäre das schön«, äffte sie mich nach. Ich ordnete die Bordunpfeifen und wartete darauf, dass sie mir sagte, was ich tun sollte. Diesmal spürte ich es – erst diese besondere Art Stille, die durch mich hindurchrieselte, und dann die Hitze goldener Inspiration, die mich in langen Strängen durchdrang und meinen Körper durch die Fingerspitzen verließ. Das Lied, das ich auf dem Klavier gespielt hatte, wurde in meinem Geist zu einer ordentlichen Einheit. Es war wie eine kleine Schachtel, die ich gedanklich hin und her drehen konnte, um zu erkennen, wie sie zusammengesetzt war, was sie so schön machte und wo ich Noten auslassen und andere einfügen konnte, damit es zum Dudelsack passte.

Nualas Atem strich heiß über meinen Hals, und ihre Finger lagen fest auf meinen, als könnte sie den Dudelsack zwingen, für sie zu spielen. Ich ließ das Lied heraus. Ich hörte die Riffs von vorher, die Masse der Melodie, und wie ich die Ausklingzeit der Pfeifen nutzen konnte, um den Mangel an hohen Tönen auszugleichen. Das Lied wand sich und atmete und glänzte, und allein es zu spielen tat weh, weil der Dudelsack dafür geschaffen worden war. Vielleicht war ich selbst für dieses Lied geschaffen worden. Geboren, um dieses Lied zu spielen, mit Nualas sommerlichem Atem im Gesicht und dieser Stille in meinem Herzen und nichts, was im Moment zählte, außer dieser Musik.

Beinahe konnte ich Nualas Stimme hören, die mir die Melodie ins Ohr summte. Als ich halb den Kopf drehte, sah ich, dass ihre Augen geschlossen waren. Sie lächelte das schönste Lächeln auf der Welt, und ihr sommersprossiges Gesicht war voller Freude.

Dies war die ganze Welt, dieser Augenblick. Der Wind drückte das goldene Gras zu Boden und richtete es wieder auf, und das tiefe, reine Blau des Himmels über uns war alles, was uns auf der Erde festhielt. Ohne das Gewicht dieses blauen Himmels wären wir davongeflogen, hinauf in die hohen weißen Wolken und fort von dieser unvollkommenen Welt.

Nuala ließ die Arme sinken und trat zurück.

Der Dudelsack verstummte mit einem Seufzen, und ich wandte mich zu ihr um.

Ich stand so kurz davor zu sagen: Bitte schließe den Pakt mit mir. Lass mich nicht nein sagen. Lass mich keine Sternschnuppe sein, die in irgendeinem Büro verglüht. Doch ihr Gesichtsausdruck ließ mich erstarren.

»Bitte mich nicht darum«, erklärte sie. »Ich nehme alles zurück. Ich werde keinen Pakt mit dir eingehen.«