James

Es war noch so früh, dass das Tageslicht sehr zart wirkte – so als könnte der Horizont davonwehen und sich in der Dunkelheit auflösen, wenn man kräftig pustete. In diesem eiskalten Dämmerlicht fand ich Nuala auf dem steilsten Hügel hinter der Schule. Mein braunes Kapuzenshirt nützte nichts gegen die Kälte, und ich kniete nur ein paar Minuten neben ihr, bis ich selbst zu zittern begann.

»Nuala«, wiederholte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte.

Ich kannte sie sonst nur mächtig, stark und knallhart, und jetzt konnte ich nicht aufhören, sie da im Gras anzuschauen. Sie erinnerte mich an so einen Umriss, den die Polizei in Kreide um eine Leiche zieht, die Arme über den Kopf gestreckt, die langen, nackten Beine gekreuzt. Sie war im Grunde nur ein Mädchen. Nur ein zerbrechlicher Körper, der ein wenig so aussah, als hätte Nuala sich mit den Sachen einer anderen verkleidet, um älter zu wirken.

Warum wachst du nicht auf? Sie atmete so langsam, als könnte ihr Atem ganz leicht einen Zug aussetzen und dann den nächsten und noch einen.

Ich biss die Zähne zusammen, wappnete mich gegen die Kälte, zog mir das Sweatshirt aus und legte es ihr über die Beine. Ich schob einen Arm unter ihre Knie – Himmel, ihre Haut war eiskalt – und einen unter ihren Nacken, zog sie auf meinen Schoß und drückte sie an mich.

Ich bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper, aber nicht ihretwegen. Das war echte Kälte. Ich hielt ihren Kopf an meine Brust, spürte ihre eisige Wange durch mein T-Shirt hindurch und beugte mich über sie. Ihr Atem strich über mein Gesicht, und er roch nach überhaupt nichts. Nicht nach Blumen. Nach nichts.

»Was hast du denn?«, fragte ich.

Ich konnte nicht traurig oder zornig sein, weil ich mir einfach nicht erklären konnte, warum sie die Augen nicht aufmachte. Ich wusste nur, dass ich hier mit einem sterbenden Mädchen in den Armen mitten auf einer Wiese saß. Mein Verstand konnte nichts aufnehmen außer ihrem Haar und der Art, wie es ihr Gesicht umrahmte, dem in der Morgendämmerung farblosen Gras und einem Stückchen braunen Faden, der sich am Ärmel meines Sweatshirts gelöst hatte.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass da noch jemand vor mir hockte – und ich erschrak zu Tode, weil ich nicht einmal raten konnte, wie diese Person hierhergekommen und wie lange sie schon da war.

»Sentimentalität ist eine gefährliche Sache«, sagte der andere Jemand, und zu meinem Entsetzen merkte ich, dass ich diese Person kannte.

»Wie kommt Ihr darauf?«, fragte ich und zog den Arm unter Nualas Beinen hervor, damit mein eiserner Armreif sichtbar wurde.

»Ach, keine Sorge, Pfeifer«, sagte Eleanor. »Diesmal bin ich nicht hier, um dich zu töten. Ich habe nur deinen Kummer gesehen und wollte herausfinden, ob ich einem meiner sterbenden Untertanen Beistand leisten kann.«

Sie war entsetzlich schön – auf eine süße, wilde Art, die mir in der Kehle brannte. Sie kniete vor mir, streckte die langen Finger nach Nualas Stirn aus, berührte sie aber nicht. »Ich verstehe gar nicht, wie sie das Eisen erträgt, die Ärmste. Welch eine Ironie, dass es letzten Endes ein Mensch sein wird, der sie tötet.«

»Und wie kommt Ihr darauf?«

Eleanor richtete den Oberkörper wieder auf, und ihr hellgrünes Kleid breitete sich wie Blütenblätter über das Gras um sie herum. »Nun, sie ist eine Leanan Sidhe, Pfeifer. Du weißt doch gewiss, womit sie sich am Leben erhält?«

Sie hatte recht. Das wusste ich. Ich hatte mir nur nicht erlaubt, daran zu denken. »Leben, richtig? Menschliches Leben.«

»Jahre, Pfeifer. Sie nimmt jenen, die sie mit ihrer Inspiration beglückt, Jahre ihres Lebens. Dir hat sie aber nichts genommen, oder?« Sanft faltete Eleanor die Hände im Schoß und blickte zärtlich darauf hinab, als bereitete ihr das Arrangement ihrer miteinander verschlungenen Finger große Freude. »Wie gesagt, Sentimentalität ist eine gefährliche Sache. Und so menschlich.«

Ich zitterte, sowohl vor Kälte als auch wegen der Nähe zu Eleanor. Alles in mir schrie, dass sie ein altes, wildes Geschöpf war und ich fliehen musste. Es kostete mich große Willenskraft, nicht einfach Nuala hochzuheben und davonzulaufen. »Wie viel braucht sie?«

Eleanor hob den Kopf und lächelte mit einer schrecklich schönen Reihe perlweißer Zähne, und mir wurde klar, dass sie auf diese Frage gehofft hatte. Aber das war mir egal. Ich wollte es nur wissen.

»Ich denke, zwei Jahre dürften ihr bis Halloween reichen«, antwortete Eleanor und lächelte wieder auf ihre Hände hinab, ein zartes, geheimnisvolles Lächeln, das das Gras um uns herum erzittern ließ. »Sie wird verbrennen, weißt du? Ihr Körper überdauert nur sechzehn Jahre, selbst wenn sie sich menschliches Leben nicht versagt. Deshalb geht sie alle sechzehn Jahre hin und verbrennt freiwillig, das arme Ding. Wenn sie sich nicht selbst abfackelt …« Eleanor zuckte mit den Schultern. »… wird sie endgültig sterben, das ist ihr bewusst. Natürlich wird sie jetzt wohl ohnehin sterben.«

Ganz kurz schloss ich die Augen. Ich wollte sie für länger schließen, um nachzudenken. Aber die Vorstellung, Eleanor so nah bei mir zu haben und sie nicht jede Sekunde im Auge zu behalten, war einer der gruseligsten Gedanken, die es überhaupt gab. »Wie mache ich das?«

Sanftmütig sah Eleanor mich an. »Was denn, Pfeifer?«

Ich verbiss mir mühsam ein Knurren. »Wie gebe ich ihr zwei Jahre meines Lebens?« Zwei Jahre waren nicht viel. Wenn ich erst ein alter Kauz war, konnte es mir egal sein, ob ich zwei Jahre früher starb. Ich würde alles tun, um Nualas klamme Haut zu wärmen und wieder Farbe in ihre Lippen zu bringen.

»Aber du weißt, dass sie dich vergessen haben wird, wenn sie verbrannt ist.« Eleanors Lippen waren jetzt geschürzt wie eine zauberhafte Rose, doch ihre Augen glitzerten. Sie war wie ein kleines Kind, das schier platzte, weil es endlich ein Geheimnis mit jemandem teilen wollte.

»Das dachte ich vorher auch«, sagte ich. »Aber Ihr kennt vermutlich eine Möglichkeit, um das zu verhindern.«

Im Morgengrauen dehnte sich ihr Mund zu einem breiten Streifen der Freude aus, der mich an Schmetterlinge, Blumen, Sonnenschein, Tod und Fäulnis erinnerte. »Wahrhaftig«, hauchte sie. »Niemand kann behaupten, ich sei meinen Untertanen keine wohlwollende Königin. Wenn sie dir genug vertraut, um dir ihren wahren Namen zu nennen, Pfeifer, ihren richtigen Namen, der dir erlauben wird, sie zu beherrschen, die sie trotz allem eine Fee ist, dann kannst du ihre Erinnerungen retten. Du musst ihrer Verbrennung von Anfang bis Ende zusehen, und während sie brennt, musst du siebenmal ohne Unterbrechung ihren wahren Namen sagen. Wenn sie sich aus der Asche erhebt … wird sie sich an alles erinnern.«

Meine Haut kribbelte vor Misstrauen, doch was Eleanor gesagt hatte, klang plausibel. Dennoch musste ich fragen: »Warum wollt Ihr ihr helfen?«

Eleanor hob leicht die Hände, als schlage sie ein Buch auf, und zuckte geziert mit den Schultern. »Aus reiner Großzügigkeit. Und jetzt beeilst du dich besser und küsst sie, Pfeifer. Atme ihr zwei Jahre ein, wenn das dein Wunsch ist.« Damit stand sie auf und klopfte sich mit bleichen Händen die Knie ab. »Ciao.«

Die Luft erbebte um sie herum, ich spürte etwas an mir zupfen, und sie war verschwunden. Die Sonne ging auf, und Nuala ging unter.

Ich strich ihr das Haar aus dem sommersprossigen Gesicht und drückte die Lippen sacht auf ihre. Es fühlte sich nicht so an, als würde ich Nuala küssen. Es war, als küsste ich eine Leiche. Nichts geschah. Ich küsste ein sterbendes Mädchen, und nichts passierte.

Zwei Jahre, Nuala. Das ist nicht so lange. Ich möchte sie dir schenken. Nimm sie einfach. Ich küsste sie wieder und atmete in ihren Mund aus.

Noch immer schien es nicht so, als würde sich etwas tun. Verflucht. Sollte sie nicht sofort zum Leben erwachen, wenn es funktioniert hatte? Ich versuchte es noch einmal – drei ist die magische Zahl, nicht wahr? – und malte mir so deutlich wie möglich aus, dass meine Lebenskraft in sie hineinströmte. Es machte mir nichts aus, wenn sie sich zwei Jahre nahm. Oder auch zehn. Ihr Kopf fiel nach hinten, und sie bekam überall eine Gänsehaut. Die Haut sah kalt und tot aus wie bei einem tiefgefrorenen Hühnchen.

»Verdammt noch mal, Nuala!« Meine Hände zitterten. Hin und wieder schüttelte es meinen ganzen Körper vor Kälte. Ich schob die Finger in die Tasche und fischte mein Handy heraus. Mit einer Hand klappte ich es auf, schloss die Augen und versuchte, mich an die Form zu erinnern, die die Zahlen in meinem Kopf bildeten. Ich stellte mir vor, sie seien auf meine Hand geschrieben, und dann hatte ich sie. Ich drückte auf »Wählen«.

Es klingelte zweimal, bis Sullivan sich schläfrig meldete: »Hallo?« Pflichtbewusst fügte er hinzu: »Thornking-Ash, hier spricht Patrick Sullivan.«

»Ich brauche Sie«, sagte ich. »Ich brauche Hilfe.«

Die belegte Stimme klang plötzlich viel wacher. »James? Was ist los?«

Ich wusste nicht, wie ich darauf antworten sollte. In meinen Armen stirbt gerade ein Mädchen. Meinetwegen. »Ich bin … Ist sonst schon wer auf? Ich muss jemanden ins Haus bringen. Ich brauche Hilfe.« Ich merkte, dass ich mich wiederholte, und hielt den Mund.

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, aber ich schließe jetzt die Hintertür auf. Sofern du das nicht schon getan hast.«

»Ich bin in ein paar Minuten da«, entgegnete ich. Sullivan redete noch, als ich das Handy zuschnappen ließ und wieder in die Tasche steckte. Ungeschickt schob ich einen Arm unter Nualas Achsel hindurch, den anderen unter ihre Knie. »Komm schon, Süße.« Ich kam taumelnd auf die Füße. Mein Sweatshirt fiel zu Boden. Egal. Ich würde es später holen. Ich watete durch das hüfthohe Gras, bis ich das Schulgelände erreichte, und ging dann außen herum zur Rückseite des Wohnheims.

Sullivan erwartete mich in seiner Jogginghose. Schweigend hielt er mir die Hintertür auf, während ich Nuala und mich seitwärts hindurchmanövrierte.

Er sagte nur: »Meine Zimmertür ist offen.«

Bei ihm duftete es immer noch nach der Zimtkerze und den Gänseblümchen, obwohl von beidem nichts mehr zu sehen war. Dafür waren seltsamerweise Unterlagen über den gesamten Boden verstreut. Sullivan zeigte auf sein Bett, das ordentlich gemacht war. Durch das Fenster fiel kühles Sonnenlicht herein und zeichnete ein Rechteck darauf.

Ich hätte sie vorsichtig aufs Bett legen sollen, aber meine Arme brachten mich um. Also ließ ich sie halb aufs Bett gleiten, halb fallen.

Sullivan beugte sich über meine Schulter. »Ist sie eine Schülerin?«

»Nein.« Ich strich ihr das Haar aus dem Gesicht. »Helfen Sie ihr.«

Ein wenig hilflos lachte er auf. »Du setzt ja großes Vertrauen in mich. Was hat sie denn?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, es liegt an mir.« Ich sah ihn nicht an. »Sie ist eine Fee. Sie ist die Muse.«

»Herr im Himmel, James!« Sullivan packte mich am Oberarm und riss mich herum. »Du hast doch gesagt, du hättest keinen Pakt mit ihr geschlossen. Was zum Teufel macht sie dann in meinem Bett?«

Seine Finger hielten meinen Arm umklammert, und ich stand da, starrte ihn an, zitterte immer noch und schämte mich dafür. »Ich habe keinen Pakt geschlossen. Deshalb ist sie ja hier. Sie hat nichts von mir genommen, und ich glaube, sie stirbt. Sullivan, bitte.«

Er starrte mich stumm an.

»Bitte.«

Meine Stimme hörte sich seltsam an. Dünn. Verzweifelt.

Sullivan stieß den Atem aus und ließ mich los. Lange rieb er sich das Gesicht und trat dann wieder zu mir ans Bett. »James, du musst dich irren. Die Leanan Sidhe schwindet dahin, wenn sie nichts bekommt. Sie kann nicht sichtbar bleiben. Diese Fee … dieses Mädchen … Das ist eine menschliche, körperliche Reaktion.«

»Sie ist kein Mensch.«

Sullivan legte Nuala die Hand auf die Stirn und ließ den Blick über ihren Körper schweifen. »Sie ist sehr dünn«, bemerkte er. »Wann hat sie zuletzt etwas gegessen?«

»Was? Ich weiß es nicht. Sie isst kein normales Essen.« Doch noch während ich das sagte, erinnerte ich mich an das Reiskorn an ihrer Lippe.

»Gehen wir davon aus, mir zuliebe. Deck sie zu. Sie ist eiskalt.«

Er verschwand in der Kochnische, und ich hörte, wie der kleine Kühlschrank geöffnet wurde. Ich zog die Bettdecke unter Nualas Beinen hervor und deckte sie damit zu. Mit dem Finger streichelte ich über ihre kalten Wangenknochen, die tatsächlich mehr hervorzustehen schienen als bei unserer ersten Begegnung. Ich zeichnete die dunklen Ringe unter ihren geschlossenen Augen nach. Ein merkwürdiges, klägliches Gefühl gab mir den Wunsch ein, mich neben sie zu legen und auch die Augen zu schließen.

Ein fruchtiger Geruch begleitete Sullivan, als er zurückkam. »Das ist Limonade«, sagte er entschuldigend. Sein Blick blieb kurz an meinen Fingern auf Nualas Haut hängen. »Das Zuckerigste, was ich im Hause habe. Honig hätte ich auch, aber das kommt mir zu klebrig vor. Richte sie auf. Ich hoffe, sie ist noch genug bei Bewusstsein, um zu schlucken. Ich habe keine Ahnung, was ich hier tue.«

Sie passte gut in meine Armbeuge. Zusammen versuchten Sullivan und ich uns an einer miserablen Krankenschwesternnummer. Ich hielt ihren Unterkiefer, und er kippte ihr vorsichtig etwas Limonade in den Mund.

»Pass auf, dass sie nicht erstickt.«

Ich neigte ihren Kopf nach hinten und strich mit der Hand über ihre Kehle. Das hatte ich bei Dee beobachtet, wenn sie versuchte, ihren Hund dazu zu bringen, dass er eine Tablette schluckte.

Nuala schluckte.

Noch mal von vorn. Wir machten weiter, bis sie etwa ein halbes Glas Limo getrunken hatte, und dann hustete sie.

Husten war gut – oder?

»Mehr?«, fragte Sullivan. Ich wusste nicht, wen er fragte, denn ich hatte ganz sicher keine Ahnung.

Nuala schlug die Augen auf. Eine Sekunde lang war ihr Blick völlig verschwommen, doch dann sah ich, wie er sich langsam in meine Richtung bewegte, dann zu Sullivan und schließlich durchs Zimmer.

Und was sie dann sagte, war typisch Nuala. »Oh, Scheiße.«