Nuala

Der fiebrig glühende Herbst

Ist mit leuchtendem Gelb zugedeckt.

Gaben zum alljährlichen Leichenschmaus sind Blumen von der sterbenden Erde.

Hinter den warmen Tagen des Sommers versteckt,

wachsen die beißend frostigen Nächte

und verbreiten das Versprechen, dass unsere Ernte grausam werde.

Aus Die Goldene Zunge:
Gedichte von Steven Slaughter

Aus irgendeinem Grund blieb mir dieser Nachmittag, der erste Tag, an dem ich jemals von irgendwem ein »Nein« gehört hatte, besonders deutlich in Erinnerung. Ich konnte mich an alles erinnern, für den Rest meines Lebens. Nie vergaß ich das überhitzte Innere von James’ Wagen und das weiche Gefühl des abgenutzten Sitzbezugs unter meiner Handfläche. Oder die Bäume draußen, die in ihren fröhlichsten Farben leuchteten: Das Rotbraun der Eichen war dasselbe wie das Rotbraun seiner Haare. Und da war diese geballte Empfindung, die sich festgesetzt hatte wie ein Kloß hinten in meiner Kehle – Wut. Richtige Wut. Es war ewig her, dass ich zuletzt wütend gewesen war.

Es war auch schon ewig her, dass ich zuletzt etwas nicht bekommen hatte, das ich wollte.

Ich schmollte, bis die Sonne rot und dicht über den Baumwipfeln glomm und die Schüler in Grüppchen von zweien, dreien oder vieren in die Wohnheime zurückkehrten. Einige gingen auch ganz allein, hatten die Hände in die Taschen geschoben oder um Rucksackriemen geklammert, den Blick zu Boden gerichtet. Sie wären leichte Opfer gewesen – weit weg von ihren Familien und Freunden zu sein war schwer für sie, und diese einsamen kleinen Seelen hatten nur ihre Musik, die ihnen Gesellschaft leistete. Vor mir schimmerten sie leicht, in Blautönen, in Aquamarin oder in wässrigem Grün, in all den Farben meiner Augen. Doch seit dem letzten war zu wenig Zeit verstrichen, als dass ich in Versuchung geraten wäre. Ich fühlte mich immer noch stark, lebendig, unbesiegbar.

Und da war James, in einer Vierergruppe, was mir ganz falsch vorkam. Meine anvisierten Opfer hatten niemals Freunde – die Musik war ihr Leben. Jemand wie er hätte nicht so locker im Umgang mit anderen Menschen sein dürfen. Hätte sich das nicht einmal wünschen sollen. Ich hätte daran gezweifelt, ob er das wirklich war, trotz des kurzgeschorenen braunen Haars und seines frechen, großspurigen Gangs. Der sattgelbe Fleck – übrigens meine Lieblingsfarbe –, der in ihm strahlte, schrie jedoch deutlich Musik, Musik, Musik.

Nur mühsam konnte ich mich davon abhalten, hinzurennen und ihn zu zwingen, auf meinen Tauschhandel eingehen zu wollen. Oder ihm weh zu tun. Ihm sehr weh zu tun. Ich hatte da ein paar Ideen, die uns für eine ganze Weile beschäftigen würden.

Geduld. Nimm dich zusammen.

Also reihte ich mich hinter ihm und seinen Freunden ein und folgte ihnen unsichtbar. Wenn jemand auf den Gedanken gekommen wäre, sich etwas Mühe zu geben und auf die richtige Art hinzuschauen, hätte er mich wohl entdecken können, aber das tat niemand. Heutzutage tat das überhaupt niemand mehr, doch ich hatte von anderen Feen gehört, dass es nicht immer so gewesen war. Die wenigen Kinder, die mich jetzt erspürten und aufblickten, sahen nur Herbstlaub, das am Rand des Bürgersteigs aufgewirbelt wurde und in einer Spirale wieder zu Boden sank. Das war ich, immer ich: der unsichtbare Schauer in der Dämmerung, der unerklärliche Kloß in deiner Kehle, die ungebetene Träne bei längst vergessenen Gedanken.

Während die Schüler an den Wohnheimen vorbeigingen, schmolz das Grüppchen auf zwei zusammen, denn die beiden Mädchen verschwanden in ihrem Gebäude. Nun konnte ich näher herangehen, so nah, dass sein Glühen auf meiner dämmrigen Haut schimmerte. Ich hätte ihn berühren und leuchtende Stränge von Musik aus seinem Kopf hervorziehen können. Wenn er doch nur ja gesagt hätte.

James und der andere Junge unterhielten sich über Getränkeautomaten. Das Hauptmerkmal des anderen war ein unschuldsvolles, lächelndes Gesicht, und er führte Statistiken darüber an, wie viele Menschen pro Jahr von umkippenden Getränkeautomaten erschlagen würden.

»Ich glaube nicht, dass sie sich absichtlich vor die Automaten werfen«, sagte James gerade.

»Die haben Videomaterial gezeigt«, erwiderte der mondgesichtige Junge.

»Nein, ich vermute, es gibt einen rächenden Automatenengel, der sie umstößt, wenn wieder mal so ein gieriger Kerl sein Geld an die Maschine verloren hat und keinen Spaß versteht.« James tat so, als stoße er etwas um, zog ein panisches Gesicht und machte dann ein schmatzendes Geräusch. »Das wird dir eine Lehre sein, Geizhals. Nächstes Mal findest du dich gefälligst damit ab, dass du deine fünfzig Cent verloren hast.«

Mondgesicht: »Allerdings gäbe es gar kein nächstes Mal.«

»Wie recht du hast. Wenn sie tot sind, hindert sie das wohl daran, das Gelernte umzusetzen. Streichen wir das. Sagen wir einfach, die Statistik zeigt, dass Getränkeautomatentragödien keine lehrreichen Geschichten sind, sondern eine Form der natürlichen Auslese.«

Der mondgesichtige Junge lachte und schaute dann an James vorbei. »Hey, Mann, da starrt dich ein Mädchen an.«

»Tun sie das nicht immer?«, entgegnete James, wandte trotzdem den Kopf und sah an mir vorbei zu jemand anderem hin. Das Gelb in ihm flackerte auf, wirbelte hoch, schlug mir wie eine Flamme entgegen, als bettelte es darum, dass ich es verwandelte. Doch sein Blick fand nicht mich; er blieb an einem blassen Mädchen hängen. Es hatte schwarzes Haar, das Gesicht war bleich, wie ausgewaschen vom künstlichen Licht einer Straßenlaterne, und die Finger zupften nervös am Riemen seines Rucksacks. Irgendetwas fehlte in James’ Stimme, als er zu dem Mondgesicht sagte: »Ich komme gleich nach, okay? Die ist von meiner alten Schule.«

Nachdem er das Mondgesicht losgeworden war, ging James durch die Lichtkreise der Straßenlaternen zu der jungen Frau hin. Sie war von schwach orangerot glimmenden Fäden durchzogen, wie neonfarbenes Lametta. Vermutlich hätte sie eine gute Schülerin abgegeben, wenn ich nicht junge, attraktive, männliche Schüler bevorzugen würde.

James’ Stimme klang sehr tapfer, ganz lustig und stark, obwohl die Gedanken, die ich von ihm empfing, völlig chaotisch waren. »Hey, Psycho, was gibt’s?«

Sie lächelte, was ärgerlich nett wirkte – ich hatte für hübsche Menschen meines eigenen Geschlechts nicht viel übrig –, und zog ein seltsames, zerknautschtes, reumütiges Gesicht. Auch das sah ärgerlich niedlich aus. »Ich wollte gerade hoch in mein Zimmer gehen. Aber ich bin hier entlanggegangen, weil ich immer, äh, nie … weil ich den Springbrunnen noch nie beleuchtet gesehen habe. Und das wollte ich gern sehen.«

Ja, klar. Du bist hergekommen, um ihn zu sehen, willst es aber nicht zugeben. Schon gut. Hör auf, dich zu zieren. Ich funkelte sie finster an. James neigte leicht den Kopf in meine Richtung, als lauschte er, und ich rückte ein paar Schritte von ihnen ab. Doch bei meiner plötzlichen Bewegung schaute die Kleine abrupt auf. Ihr Blick folgte mir, und sie runzelte die Stirn, als könnte sie mich sehen. Mist. Ich beugte mich vor, als wollte ich mir den Schuh zubinden – als wäre ich eine ganz normale Schülerin und für alle sichtbar. Ihr Blick war nicht mehr gezielt auf mich gerichtet, nachdem ich mich gebückt hatte – sie konnte mich also nicht ganz sehen. Sie musste einen Anflug des Zweiten Gesichts haben. Auch das ärgerte mich.

»Dee«, sagte James. »Erde an Dee. Planet Dee, bitte kommen. Houston, die Funkverbindung funktioniert anscheinend nicht. Dee, Dee, bitte melden!«

Dee riss sich von mir los und sah James an. Sie blinzelte heftig. »Äh. Ja. Entschuldigung. Ich habe letzte Nacht kaum geschlafen.« Sie hatte eine sehr schöne Stimme. Vermutlich war sie eine gute Sängerin. Ich hörte auf, mir vorgeblich den Schuh zuzubinden, und ging sehr langsam auf den Brunnen zu, um mich im Wasser zu verstecken. Hinter mir hörte ich James etwas sagen, und Dee lachte. Es klang erleichtert, als hätte sie lange nichts Lustiges mehr gehört und wäre froh, dass so etwas wie Humor noch existierte.

Ich legte mich in den Brunnen – da ich unsichtbar war, spürte ich die Nässe nicht – und blickte zum Himmel auf, der sich hinter dem leicht gekräuselten Wasser allmählich verdunkelte. Ich fühlte mich sicher im Wasser, vollkommen unsichtbar, vollkommen geschützt.

Dee und James kamen an den Rand des Satyrbrunnens und blieben direkt über mir stehen, nah beieinander, aber ohne sich zu berühren. Eine verborgene Barriere trennte sie voneinander, eine Wand, die sie errichtet hatten, ehe ich auf den Plan getreten war. Die ganze Zeit machte James Witze. Er ließ einen bedeutungslosen, lustigen Spruch nach dem anderen vom Stapel und brachte sie immer wieder zum Lachen, so dass sie nicht miteinander reden mussten. Seine Qual hätte ein wunderschönes Lied abgegeben. Ich musste ihn einfach irgendwie dazu bringen, auf meinen Handel einzugehen.

Dee und James starrten den Satyr an, der zurückgrinste und für immer in seinem Tanz auf einem winzigen Eichenblatt mitten im Wasser gefangen war. »Ich habe dich üben gehört«, bemerkte Dee.

»Überwältigt von meiner Kunstfertigkeit?«

»Ich glaube tatsächlich, dass du noch besser geworden bist, seit ich dich zuletzt spielen gehört habe. Kann das sein?«

»Durchaus. Dies ist eine wunderbare, seltsame Welt.« Er zögerte. Im Wasser fiel es mir leichter, seine Gedanken zu lesen. Ich sah, wie sich in seinem Gehirn die Frage formte: Wie fühlst du dich hier? Stattdessen sagte er: »Abends wird es schon ganz schön kalt.«

»In unserem Zimmer wird es eiskalt!« Dee klang zu enthusiastisch, sie war offenbar froh über das unverfängliche Thema. »Wann stellen die hier wohl endlich die Heizung an?«

»Vielleicht ist es sogar besser, wenn sie damit ein bisschen länger warten. Wenn sie jetzt schon heizen würden, wäre es tagsüber in den Zimmern heiß genug, um Marshmallows zu toasten.«

»Das stimmt. Nachmittags ist es noch richtig warm. Das muss an den Bergen liegen.«

Ich beobachtete, wie James mit sich rang, ehe er sie aussprach: die ersten von Herzen kommenden Worte, seit er Dee unter der Straßenlaterne entdeckt hatte. »Die Berge sind wunderschön, findest du nicht? Es macht mich irgendwie traurig, sie anzuschauen.«

Dee antwortete nicht, reagierte überhaupt nicht. Wenn er nichts Lustiges sagte, war es beinahe so, als hätte er gar nicht gesprochen.

Sie entfernte sich von ihm, ging um den Rand des Brunnens herum. Er folgte ihr nicht. Ganz dicht bei meinen Füßen tauchte sie die Hände ins Wasser und sagte: »Dieser Brunnen ist echt seltsam. Warum lächelt er so?«

James streckte den Arm aus und tätschelte den Hintern des Satyrs. »Weil er nackt ist.«

»Ich bin bloß froh, dass er vor dem Jungenwohnheim steht und nicht vor unserem. Ich finde ihn ziemlich scheußlich.«

»Ich verschandle ihn für dich, wenn du willst«, bot James ihr an.

Sie lachte. Wenn sie lachte, konnte ich mir beinahe vorstellen, wie sie sang. »Schon gut. Aber ich gehe jetzt lieber rein. Ich will nicht wieder von dieser irren Lehrerin erwischt werden. Eigentlich dürften wir nicht mehr draußen sein.«

Er streckte die Hand aus, als wollte er ihre Hand nehmen. Oder ihren Rucksack. Oder sie am Arm berühren. »Ich begleite dich«, meinte er.

»Ist schon okay. Ich renne zurück«, erwiderte Dee. »Wir sehen uns morgen, ja?«

Die Haltung seiner Schultern wirkte auf einmal müde, und die Hand verschwand in seiner Tasche. »Zweifellos.«

Dee lächelte ihm zu und rannte dann in Richtung Mädchenwohnheim, wobei der Rucksack auf ihrem Rücken hüpfte. Nachdem sie verschwunden war, blieb James noch lange am Brunnen stehen, so reglos wie der Satyr und mit halb geschlossenen Augen. Sein kurzgeschorenes Haar färbte sich im Licht des Sonnenuntergangs noch rötlicher. Ich lag im Wasser und wartete.

Lange Minuten verstrichen, und die Sonne brannte sich ihren Weg durch die Bäume hinab. Immerzu betrachtete ich dieses goldene Glimmen, das in ihm flackerte, das Versprechen großartiger Kreativität. Warum hatte er nicht ja gesagt? Wollte ich ihn jetzt nur deshalb so sehr, weil er mich abgewiesen hatte? Ich konnte ihn unglaublich gut machen. Er konnte mich warm, lebendig und wach machen.

Ich würde ihm einen Traum eingeben. Genau das würde ich tun. Ich würde ihm nur ein bisschen davon zeigen, was ich möglich machen konnte, und wenn er mich wiedersah, würde er unmöglich nein sagen können.

Über mir fuhr James zusammen. Er hatte den Kopf zur Seite geneigt und lauschte wie vorhin, als er mich gespürt hatte. Jetzt vernahm er jedoch etwas anderes.

Der Dornenkönig. Ich hörte, wie die Melodie über die Hügel strömte, während er sich dort seinen Weg bahnte. Meine Ohren hatten die Laute kaum wahrgenommen, doch als ich blinzelte, war James plötzlich verschwunden. Hastig richtete ich mich auf – das Wasser plätscherte in langsamen, konzentrischen Wellen um mich herum – und sah James aus voller Kraft rennen, als liefe er um sein Leben. Er jagte auf den gehörnten König und sein langsames Lied für die Toten zu. Wer rannte denn dem Tod entgegen?

 

Lange nachdem James aus den Hügeln hinter der Thornking-Ash-Schule in sein Wohnheimzimmer zurückgekehrt war, machte ich mich selbst in die Hügel auf. Allerdings interessierte mich nicht die Musik des gehörnten Königs. Es war die Musik der Feen, die mich anzog – sie hörte sich nach einem Tanz an, so unwahrscheinlich das auch sein mochte.

Ich hatte diese Tanzvergnügen noch nie gemocht. Wenn irgendetwas in der Geschichte dieser Welt wie dafür geschaffen schien, mir das Gefühl zu geben, eine Außenseiterin zu sein, dann waren das die Tänzchen, die die Feen in ihren Feenringen abhielten. Diese Feier auf dem größten Hügel hinter der Schule machte da keine Ausnahme – aber es waren zehnmal mehr Feen gekommen, als ich je bei einem solchen Reigen gesehen hatte. Und selbstverständlich konnte keine Fee, abgesehen von mir natürlich, Eisen berühren. Die bloße Nähe von Eisen trieb die meisten tief unter die Hügel und in abgelegene Landstriche. Ganz gleich, wie verlockend die Musik aus der Thornking-Ash für meinesgleichen sein mochte: Das viele unsichtbare Eisen, das die Gebäude stützte, und die schimmernden Autos auf den Parkplätzen hätten die Umgebung zur Feen-Flugverbotszone machen sollen.

Dennoch waren da Hunderte in allen möglichen Größen und Formen, von den großen, bezaubernden höfischen Feen, die ich erwartet hatte, bis hin zu den kleinen, hässlichen Kobolden, die ich hier nicht vermutet hätte. Nur selten ließen diese ihre Plackerei sein und kamen aus ihren Höhlen, um bei einem Fest mitzufeiern. Sie alle tanzten zu zweien und zu dreien, berührten einander am Haar und bewegten ihre Körper, als würden sie sich einen einzigen teilen. Alle waren sie schön, wenn sie tanzten.

Ich hielt mich ein Dutzend Schritte zurück, so dass ich hüfttief im trockenen Wiesengras stand. Mit den Handflächen strich ich über die Ähren und seufzte. Ich war nicht gerade begeistert darüber, die anderen hier zu sehen. Ich hatte gehofft, die Thornking-Ash ganz für mich allein zu haben.

Doch ihre Musik lockte mich, zupfte an meinem Körper, unwiderstehlich. Je länger ich dastand und ihrem pulsierenden Rhythmus lauschte, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich sie selbst fühlen musste.

Die Tänzer mit ihren unmöglich verrenkten Leibern und dem sinnlichen Bild von Haut an Haut interessierten mich nicht. Es waren die Musikanten, auf die ich zuhielt. Eine Fee, ein schlanker, hübscher Junge, hielt eine Trommel auf seinem Schoß umschlungen – er war es, der dem Tanz diesen hypnotischen, urtümlichen Herzschlag verlieh. Da war außerdem ein Geiger, der seiner Fiedel klagende, anrührende Töne entlockte. Eine Fee schlug ein Tamburin als perfekten Kontrapunkt zu der dröhnenden Trommel, und ein Flötist drängte uns hektisch, beinahe wahnhaft, zum Tanzen. Doch dieser Trommler – er konnte sein Instrument klingen lassen, als würde Wasser in einen Eimer tropfen, als würden die Schritte eines Riesen oder Regen auf dem Dach hallen –, den musste man im Auge behalten. Er war derjenige, der dafür sorgen konnte, dass man sich selbst vergaß.

»Tanzen, meine Hübsche?«, fragte ein Orkney-Troll mit großen Füßen und einem Gesicht wie einer Schaufel und griff nach meiner Hand. Kaum hatte er meine Finger berührt, ließ er wieder los.

Hämisch grinste ich ihn an. »Tja, dachte ich es mir doch, dass du das lieber nicht möchtest.«

Der gedrungene Troll beugte sich zu einem seiner Freunde hinüber und sagte auf diese typisch langsame Art: »Leanan Sidhe.«

Und damit war meine Ankunft verkündet. So unterschwellig wie der schnelle, primitive Trommelschlag verbreiteten sich diese Worte und wanderten von einem Tänzer zum nächsten. Während ich mich durch die Menge bewegte, spürte ich die Blicke. Ich war nicht irgendeine Fee, nicht bloß irgendeine Einzelgängerin, ich war die Leanan Sidhe. Die niederste der Niederen. Schon beinahe menschlich.

»Ich wusste gar nicht, dass Tanzen eines deiner vielen Talente ist«, rief mir eine Fee zu, als sie an mir vorüberwirbelte. Sie und ihre Freundinnen reichten mir gerade bis zur Hüfte, und ihr Lachen brannte wie Bienenstiche. Einen Moment lang beobachtete ich sie dabei, wie sie herumwirbelten und die Füße unfehlbar im peitschenden Takt des Trommelschlags aufsetzten – bis ich ihren Schwanz unter ihrem hauchzarten grünen Kleid hervorlugen sah.

Mein Lächeln ging in ein Knurren über. »Und mir war nicht bekannt, dass das Reden eines deiner Talente ist. Ich hätte nicht gedacht, dass Affen sprechen können.«

Sie warf einen finsteren Blick in meine Richtung, rückte ihr Kleid zurecht und zog die anderen von mir fort. Hinter ihren Rücken schnitt ich eine Grimasse und bewegte mich weiter durch die Menge. Ich wusste nicht genau, wonach ich suchte – vielleicht nach einer Stelle, an der die Musik mich endlich in ihren Bann ziehen und mich den ganzen Rest hier vergessen lassen würde.

Jemand grapschte mir an den Hintern, aber als ich herumfuhr, war da nur eine Reihe grinsender männlicher Gesichter, die mich anglotzten. Es wäre nicht schwer gewesen, denjenigen darunter zu erkennen, der nicht unschuldig aussah – das Problem war eher, dass ich keinen finden konnte, der nicht schuldig schien.

»Fickt euch doch«, sagte ich zu ihnen, und alle lachten.

»Würden wir ja gern, du Schlampe«, erwiderte einer von ihnen und machte eine obszöne Geste. »Hilfst du uns dabei?«

Es hätte keinen Zweck gehabt, sich heute Abend in einen handfesten Streit verwickeln zu lassen. Also spuckte ich ihnen ungefähr mittig vor die Füße, drehte mich um und brachte möglichst viel Abstand zwischen mich und die Grapscher.

Die Trommel flehte meine Füße an, zu tanzen, doch das tat ich nicht. Die Musik war wunderschön, und an jedem anderen Abend hätte ich ihr nachgegeben. Aber heute Nacht konnte ich nur daran denken, was James und seine Sackpfeife aus dem Lied machen könnten, das die Musikanten jetzt spielten. Ich war nicht sicher, warum ich mir die Mühe gemacht hatte, herzukommen. Inmitten dieses schäumenden Meers von Tänzern war ich eine reglose Insel. Sie starrten mich ganz unverhohlen an, während sie im Sog der Musik und ihrer Mittänzer wogten, wirbelten, schwankten. Überall um mich herum wurde gelacht.

»Hast du dich verlaufen, cailín?«

Ich gebe zu, dass mich die gütige Stimme und die harmlose Anrede – schlicht »Mädchen« auf Gälisch – zu Tode erschreckten. Ich drehte mich um und sah einen Mann auf mich herablächeln. Er trug höfischen Staat, und sein prächtiger Rock war mit muschelförmigen Knöpfen bis zum Hals verschlossen.

Ein Mensch. Ganz leicht schimmerte er golden – hell genug, um mich hungrig zu machen, aber nicht strahlend genug, um mich wirklich in Versuchung zu führen. Und er sah zwar recht gut aus, mit den Lachfältchen um die Augen und seiner schiefen Nase. Doch er war weder schön noch hellhäutig genug, um ein Wechselbalg zu sein, der als Kind von den Feen geraubt worden war. Bei seinem Aussehen und der edlen Kleidung hätte ich meine Locken darauf verwettet, dass er der neue menschliche Gefährte der Königin war. Selbst ich, die am äußersten Rand der Feenwelt lebte, hatte das Getuschel über ihn gehört.

Argwöhnisch musterte ich ihn und entgegnete hochmütig: »Sehe ich denn so aus, Menschenmann?«

Sein Blick glitt über meine Jeans mit dem Riss am Hintern, die tiefausgeschnittene Folklorebluse und meine unverschämt hohen Korkabsätze. Sein Mund verzog sich, als hätte er eine Zitrone probiert und fände sie recht appetitlich. »Man kann sich nur schwer vorstellen, dass du irgendwo hingeraten könntest, wo du nicht sein willst«, gestand er.

Ich kräuselte die Lippen zu einem Lächeln.

»Du hast ein ausgesprochen boshaftes Lächeln«, bemerkte er.

»Das liegt daran, dass ich ausgesprochen boshaft bin. Hast du das noch nicht gehört?«

Der Blick des königlichen Gemahls richtete sich wieder auf mein Gesicht, und er kniff seine ohnehin schon schmalen, lächelnden Augen noch ein bisschen mehr zusammen. Seine Stimme klang unbekümmert, verspielt. »Sollte ich das, Menschenfrau?«

Ich lachte laut über seinen Fehler. Jetzt wusste ich zumindest, warum er mich angesprochen hatte – er hielt mich für seinesgleichen. Sah ich wirklich so schlimm aus? »Es liegt mir fern, dich deiner Illusionen zu berauben«, entgegnete ich. »Du wirst bald genug dahinterkommen. Fürs Erste genieße ich aber deine Unwissenheit, wenn ich ehrlich sein soll.«

»Hier kann niemand etwas anderes sprechen als die Wahrheit«, erwiderte der Gefährte der Königin.

Erneut verzog ich den Mund zu einem Lächeln.

»Ich sehe schon, bei dieser Unterhaltung drehen wir uns doch nur im Kreis«, sagte er und streckte die Hand aus. »Würdest du stattdessen mit mir tanzen? Nur einen Tanz?«

Ich tanzte nicht gern mit Feen, aber er gehörte ja nicht zu ihnen. Mit einem kleinen Lächeln antwortete ich: »So etwas wie einen einzigen Tanz gibt es nicht in diesem Kreis.«

»In der Tat. Also tanzen wir, bis du halt sagst, und dann – halten wir an?«

Ich zögerte. Mit Eleanors Gefährten zu tanzen, ohne sie zuerst um diese Ehre zu bitten, schien mir keine so gute Idee zu sein. Was das Ganze umso reizvoller machte. »Wo ist meine verehrte Königin?«

»Sie kümmert sich um andere Angelegenheiten.« Einen Moment lang glaubte ich fast, einen Ausdruck der Erleichterung über sein Gesicht huschen zu sehen, der jedoch blitzschnell wieder verschwunden war. Er hielt mir immer noch die Hand hin, und ich legte meine hinein.

Dann ergriff uns die Musik. Meine Füße verfielen dem Rhythmus, seine waren bereits davon erfasst, und wir wirbelten in die Menge hinein. Irgendwo da draußen war die Nacht, aber sie schien von diesem Hügel sehr weit entfernt zu sein. Hier war alles hell erleuchtet von den Sternen und dem Staub, der in der Luft hing.

Bei unserem Tanz wurden wir ständig beobachtet. Er hielt meine Hände sehr fest, als müsse er mich aufrecht halten, und ich hörte Stimmen, Gesprächsfetzen, während wir zwischen anderen hindurchtanzten.

»… die Leanan Sidhe …«

»… wenn die Königin das wüsste …«

»… warum tanzt sie mit …«

»… zum König gekrönt werden, noch ehe …«

Ich umklammerte die Finger des Gefährten fester. »Du wirst also der neue König: Deshalb bist du hier.«

Seine Augen strahlten. Wie alle Menschen war er bereits halb trunken von der Musik, als er kaum zu tanzen begonnen hatte. »Das ist kein Geheimnis.«

Ich wollte sagen: Für mich schon, aber dann hätte ich wie eine Idiotin dagestanden. »Du bist nur ein Mensch.«

»Dafür kann ich tanzen«, protestierte er. Und das konnte er wirklich. Sehr gut für einen Menschen. Der Trommelschlag trieb seinen Körper hierhin und dorthin, seine Füße zeichneten verschlungene Muster in das niedergetrampelte Gras. »Und ich verfüge auch über Magie, wenn ich später König bin.« Er wirbelte mich herum.

»Wie kommst du darauf, Menschenmann?«

»Die Königin hat es mir versprochen, und ich glaube ihr. Sie kann nämlich nicht lügen.« Er lachte laut und wild. Dadurch erkannte ich, wie hingerissen er von der Musik war, wie betört vom Tanz, wie hilflos er uns ausgeliefert war. »Sie ist sehr schön. Sie tut mir weh mit ihrer Schönheit, cailín

Das wunderte mich nicht. Die Schönheit der Königin schmerzte jeden, der sie sah. »Magie liegt nicht einfach so herum, Menschenmann.«

Wieder lachte er auf, als hätte ich etwas Lustiges gesagt. »Natürlich nicht! Sie bewegt sich von einem Körper zum anderen, richtig? Also nehme ich an, dass sie von irgendjemand anderem kommen wird.«

Ich betrachtete mich selbst als reichlich finsteres Geschöpf, doch diese Aussage klang sogar in meinen Ohren sehr finster. »Von einem anderen magischen Jemand, hm? Man fragt sich allerdings, wo sie einen solchen Jemand finden könnten. Und was dann mit diesem Jemand geschehen würde.«

»Die Königin ist sehr gerissen.«

Ich dachte daran, wie lange sie still hinter dem Rücken der alten Königin auf ihr Ziel hingearbeitet hatte, damit die Krone in ihrem – Eleanors – Schoß landen würde, wenn sie der anderen vom Kopf fiel. »O ja, sie ist sehr raffiniert. Aber für mich hört sich das so an, als würde jemand anders für deine Magie sehr leiden müssen.«

Der Gefährte zog ein ungläubiges Gesicht. »Meine Königin ist nicht grausam.«

Ich sah ihn nur an. Das glaubte er doch wohl nicht im Ernst. Es sei denn, er war als Kind einmal auf den Kopf gefallen. Aber er nahm die Worte nicht zurück. Also sagte ich: »Nicht jeder kann die Magie an sich binden, selbst wenn es ihm gelingt, sie zu finden.«

»Halloween, cailín. Der Tag der Toten. Dann ist die Magie unbeständiger. Und – sie würde mir nichts schenken, das ich nicht behalten könnte. Sie kennt meine Schwächen. Ich glaube fest daran, dass ich bald einer von euch bin.«

»Halt!«, fauchte ich und blieb so plötzlich stehen, dass er meinen Arm mit sich weiterzog und mir die Schulter verdrehte. »Ich fürchte, du weißt nicht, was du da sagst.«

Er ließ meine Hand los und stand mit schlaff herabhängenden Armen vor mir. Die Tänzer um uns herum drehten die Köpfe und betrachteten uns. Murmelnd und flüsternd erhoben sich ihre Stimmen.

»Ich an deiner Stelle hätte es nicht so eilig, meine Menschlichkeit wegzuwerfen«, erklärte ich und trat weiter von ihm zurück. »Ehe du gesehen hast, was es wirklich bedeutet, zu den Feen zu gehören.«

Meine Worte stießen auf taube Ohren. Er starrte mich nur an.

Inmitten der Feen ließ ich den Gefährten der Königin stehen. Bevor ich auch nur halbwegs unsichtbar geworden war, hatte eine große, rothaarige Fee schon nach seiner Hand gegriffen. Bis ich meine körperliche Gestalt ganz aufgegeben hatte und mich auf menschlichen Gedanken und Träumen davonmachte, war der königliche Gefährte bereits wieder in den Tanz hineingezogen worden. Von oben konnte ich ihn nicht mehr von den Feen unterscheiden, und ich hätte auch nicht genau bestimmen können, welches Gefühl da in meiner Brust brannte. Doch ich ließ sie alle zurück und war froh, sie los zu sein: Ich hatte einen Traum zu bescheren.

Neue Textnachricht

An:

James

 

Habe noch mehr feen gesehen. Die orchestermusik hat sie hergelockt. Sie haben auf den freien stühlen getanzt. Sonst konnte sie niemand sehen, also habe ich auch so getan. Sie waren schön, ich habe musik unter ihrer haut gesehen.

 

Absender:

Dee

 

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