James
Die Lobby der Seward Hall war ein ungeheuer sicherer Ort, und ich hatte es inzwischen bitter nötig, mich irgendwo sicher und geborgen zu fühlen. Dort standen vier der bequemsten Sessel der Welt, was für einen sicheren Ort ungeheuer wichtig ist, und dazu vier weiche Fußschemel. Außerdem gab es je eine Nische in allen vier Ecken, die jeweils ein Weltwunder enthielten. Nördliche Ecke: ein Flügel, der älter war als Moses und sich anhörte wie eine Dampforgel. Südliche Ecke: die Reproduktion einer griechischen Statue – irgendein kopfloses Weib mit makellosen Titten. Östliche Ecke: ein Bücherregal mit jedem Werk der »Weltliteratur, Die Du Niemals Lesen Wirst« in beeindruckender Hardcoverausgabe. Westliche Ecke: Snackautomat (denn manchmal schaffte man es eben nicht, irgendetwas anderes als Chips zum Frühstück zu bekommen).
Es war fast zwei Uhr morgens. Ein Stück den Flur entlang schlief Sullivan hinter seiner geschlossenen Tür, ohne etwas von meiner Wanderschaft zu ahnen. Irgendwo im dritten Stock schnarchte Paul. Ich beneidete ihn um diese Fähigkeit, zu schlafen. Ich hatte das Gefühl, auf und ab gehen oder schreien oder sonst etwas tun zu müssen – ich konnte nicht aufhören, an Halloween zu denken. Jedes Mal wenn ich daran dachte, sträubten sich mir die Nackenhaare, und eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Schultern aus. Zu schlafen schien mir völlig ausgeschlossen.
Still und dunkel hielt die Lobby den Atem an. Die Straßenlaternen vor den Fassadenfenstern tauchten sie in ein seltsam orange-rötliches Licht. Die bequemsten Sessel der Welt warfen Schatten, die sich streckten, bis sie zehnmal so groß waren wie die Sessel selbst. Ich ließ mich in einen davon fallen und blieb dort so reglos sitzen, dass es sich anfühlte, als hätte ich vergessen, wie man sich bewegt.
Ich fühlte mich allein.
Ich hatte keinen Stift dabei. Also holte ich den Troststein aus der Hosentasche und rieb ihn mit dem Daumen, bis der Drang, mir auf die Haut zu schreiben, nachließ.
Nuala, bist du da?
»Ich bin hier«, flüsterte sie aus einem der anderen Sessel; sie saß ganz vorn am Rand, als wollte sie bereit sein, notfalls sofort aufzuspringen und wegzulaufen. Ich wusste nicht, warum sie sich die Mühe machte, überhaupt zu flüstern, da niemand außer mir sie hören konnte. Doch ich freute mich so, sie zu sehen, dass ich sie nicht damit aufzog. Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit ich zuletzt auf dem Hügel geübt hatte, und beinahe hatte ich schon geglaubt, sie sei endgültig verschwunden. Halb erhob ich mich und schleifte meinen Sessel über das Parkett, bis wir einander gegenübersaßen und unsere nackten Knie sich berührten.
Ich sah Nuala ins Gesicht. Meine Frage wollte ich lieber nicht laut stellen. Glaubst du wirklich, dass wir sterben werden, wie Paul behauptet? Und meinst du, dass sie uns töten werden? Und nicht ein dämliches Feuer im Wohnheim oder so?
Im trüben Licht waren Nualas helle Augen schwarz, und ich konnte dunkle Ringe darunter sehen. »Sie töten Feen. Einzelne Feen, so wie mich. Diejenigen, die viel Kontakt zu Menschen haben. Ich habe die Leichen gesehen. Vielleicht glauben sie, wir würden euch vor etwas warnen. Nicht dass sie uns einen feuchten Dreck gesagt hätten.«
Ich fand den Gedanken seltsam, dass sie müde aussah. Sie wirkte so menschlich und verletzlich, winzig in dem mächtigen Sessel. Wenn das Dee gewesen wäre, hätte ich sie trösten oder einen Witz machen müssen, aber Nuala brauchte ich nichts vorzumachen. Sie konnte ohnehin sehen, was mir durch den Kopf ging, daher hatte es keinen Zweck, ihr irgendetwas anderes zu zeigen als die Wahrheit.
Und in Wahrheit hatte ich allmählich das Gefühl, dass alles außer Kontrolle geriet. Ich drückte die Hände vors Gesicht und rieb mir die Augen, bis ich bunte Funken sah.
»Aber hast du es nicht schon selbst gesehen? Du bist doch angeblich der Superhellseher, oder?« Nualas Stimme klang bitter, als hätte ich ihr absichtlich Warnungen vor bevorstehendem Tod und unausweichlicher Vernichtung verschwiegen.
»Nuala, alles, was Paul mir enthüllt hat … und dass du mir gesagt hast, es gäbe hier Schlimmere als dich … und dass mit Dee irgendetwas Seltsames vorgeht, das ist alles neu und unerwartet für mich. Ich bin kein guter Hellseher. Ich erkenne manchmal, wenn etwas nicht stimmt. Aber ich kann nicht sagen, was oder wann etwas passieren wird und ob ich irgendetwas dagegen unternehmen sollte. Ich habe versucht, irgendeinen Sinn darin zu entdecken, aber es geht nicht. Das sind nur Gefühle, keine Worte. Und um ganz ehrlich zu sein: Hier geht so viel Seltsames vor sich, dass ich nicht mal herausfinden kann, wovon genau mir die Haare zu Berge stehen. Ich bin einfach …« Ich verstummte.
»Überladen«, beendete Nuala den Satz aus meinen Gedanken heraus. »Was auch immer hier vorgeht, muss verdammt gewaltig sein.«
Ich zuckte zusammen, weil ich glaubte, draußen in der Nacht etwas gehört zu haben. Wir beide erstarrten, blieben still sitzen und lauschten, bis wir uns vergewissert hatten, dass es nur der ferne Lärm der Lastwagen auf dem Highway war – dass wir uns nur verrückt machten.
Obwohl sich im Wohnheim nichts regte, sprach ich jetzt nicht mehr laut. Ich strich mit den Daumen über Nualas schlanke, nackte Knie und fuhr die Umrisse der Knochen nach, bis zu der Stelle, wo ihre Kniescheiben gegen meine drückten. Was zum Teufel ist hier los, Nuala? Warum lassen sie uns nicht in Ruhe? Was wollen sie nur von uns?
Lange schwieg sie und betrachtete meine bekritzelten Finger auf ihrer Haut. Ihre Stimme zitterte leicht, als sie antwortete: »Macht. Sie will Macht. Ich glaube, sie hat sich mit den Daoine Sidhe verbündet.«
Das sind diejenigen, die von Musik herbeigelockt werden, nicht wahr? Ich dachte, sie seien Feinde der Königin.
»Der alten Königin. Derjenigen, die deine Nicht-Freundin in ihrer jugendlichen Brillanz hilfreicherweise in den Tod geschickt hat. Damals konnten die Daoine Sidhe nur zur Sonnenwende erscheinen oder mit Hilfe von besonders großartiger Musik. Aber irgendetwas hat sich verändert. Das könnte nicht passieren, wenn die neue Königin es nicht zulassen würde. Die Fee – der Kerl, den …« Nuala brach ab und versuchte es noch einmal. »Der Kerl, den du gesehen hast – das Arschloch, das als Schwan davongeflogen ist: Er war einer von ihnen. Es hätte ihm gar nicht möglich sein dürfen, mit den anderen zu tanzen, außer zur Sonnenwende.«
»Ich würde ihn gern in die Finger bekommen.« Die Worte überraschten mich. Ich sprach sie laut und voller Zorn aus.
Nuala musterte mich mit glühenden, dunklen Augen, und ihre Miene sagte: Ich auch.
»Du siehst müde aus.« Aus irgendeinem Grund gefiel es mir nicht, sie müde zu sehen. Dieses Zaudern in ihrer Stimme hatte ich genauso wenig gemocht, als sie von dem Schwanentypen gesprochen hatte.
Sie überlegte nicht einmal, ehe sie antwortete, was ich inzwischen als Anzeichen dafür auffasste, dass sie log. »Nein, tue ich nicht.« Sie wandte den Blick von mir ab und sagte dann abrupt: »Ich werde herausfinden, was sie treiben. Ich habe nichts zu verlieren. In anderthalb Wochen bin ich ohnehin tot.«
Ich seufzte, drückte die flachen Hände seitlich an ihre Beine und wartete darauf, dass sich auf meinen Armen eine Gänsehaut bildete. Nichts passierte. »Aber du wirst neu geboren werden. Wie ein Phönix, oder? Aus der Asche. Also wirst du gar nicht richtig sterben.«
Mit einer barschen Geste wies Nuala auf ihre Brust. »Dieses Mädchen wird sterben. Alles, was mich ausmacht, so, wie ich jetzt bin, wird verschwinden. Dass ein neuer Körper aus der Asche ersteht, bedeutet nicht, dass ich das bin.«
Ich schob die Hand an ihren Oberschenkeln entlang, bis ich ihre Hände erreichte, die sie zwischen die Beine geklemmt hatte. Ich zog sie heraus und umfasste sie. Sie hatte so lange, weiche Hände. Nicht wie meine rechteckigen, schweren Handflächen und Finger, die vom vielen Dudelsackspielen schon muskulös waren. »Ich würde ausflippen, wenn ich du wäre. Du bist so mutig, dass ich mir daneben ziemlich klein vorkomme.«
»Du bist mutig«, entgegnete Nuala. »Bis zur Dummheit. Das ist Teil deines besonderen Charmes.«
Ich schüttelte den Kopf. »Bevor ich den Autounfall im Sommer hatte, wusste ich, dass ich verunglücken würde. Ich wusste es in dem Moment, als ich morgens aufgewacht bin und zu dem Auftritt wollte. Ich wusste es den ganzen Tag lang. Ich habe ständig darauf gewartet, dass es gleich passiert.« Auf eine wenig heitere Art lachte ich. »Den ganzen Tag lang war ich ein nervöses Wrack. Und als es dann passiert ist, konnte ich nur denken: Das ist es also.«
»Du kannst meine Gedanken nicht lesen.« Nualas Finger fühlten sich angespannt an. »Ich flippe sehr wohl aus. Du würdest mich nicht für so mutig halten, wenn du eine Ahnung hättest, was ich denke.«
Ich sah sie an. »Was denkst du denn?«
Sofort senkte sie den Blick auf unsere Hände. Irgendwie hatten wir sie miteinander verschlungen. Meine rauhen, bekritzelten Finger waren um ihre schlanken, makellosen gewunden. »Wie schwer es ist. Wie unfair. Dass es verflucht weh tun wird, bei lebendigem Leib verbrannt zu werden.« Sie lachte heiser und unglücklich.
»Warum gehst du dann hin? Wenn du weißt, dass du an Halloween in einem großen Feuer sterben wirst, warum schließt du dich nicht einfach irgendwo ein? Wenn sie das Feuer anzünden und nach dir rufen, sagst du ihnen, sie sollen sich ihre Streichhölzer dahin stecken, wo nie die Sonne scheint.«
Nuala warf mir den vernichtendsten Blick in der Geschichte der vernichtenden Blicke zu. »Was für eine schlaue Idee. Darauf wäre ich nie gekommen. Und ich bin sicher, sämtliche früheren Versionen meines Selbst haben auch noch nie daran gedacht. Idiot.«
»Okay, okay. Schon gut. Das wird mir vermutlich einen weiteren vernichtenden Blick einbringen, aber – bist du dir sicher?«
»Bei was? Dass du ein Idiot bist?« Nuala lachte abfällig, doch ihre Finger zitterten in meinen. Ich hielt sie fester, damit es aufhörte.
»Sicher, dass du verbrennen wirst.«
»Warst du sicher, dass du bei einem Autounfall ums Leben kommen würdest?«
Da hatte sie recht. Ich verzog das Gesicht.
»Ich weiß es einfach, okay? Alle anderen wissen es, und eine Million Feen haben es mir gesagt, aber ich wusste es auch schon vorher. Ich kann nicht einmal die Nähe einer Kerze ertragen.« Nualas Schultern zitterten, und sie presste die Arme an den Körper. »Die letzten paar Jahre dachte ich, dass das Sterben am meisten weh tun müsste, weil ich schließlich nichts hatte, woran ich mich unbedingt erinnern wollte. Nichts, was ich nicht einfach noch einmal tun konnte, verstehst du? Aber jetzt ist es das Vergessen. Ich will nicht vergessen.«
»Was ist denn jetzt anders?«
Mit wütendem Gesicht starrte Nuala mich an. »Du, du Arschloch! Du hast alles verdorben. Du hast alles unmöglich gemacht.«
Wenn die Leute sagen »Mir blieb das Herz stehen«, ist das Blödsinn. Was sie damit eigentlich meinen, ist, dass das Herz irgendwie stottert und kurz darüber nachdenkt, stehenzubleiben, ehe ihm wieder einfällt, dass ihm das Schlagen besser bekommt. O Scheiße, nicht, Nuala. Nicht ich. Nicht das dumme Großmaul James.
Sie zerrte an meinen Händen. »Sei still! Ich weiß schon, dass du ein Arsch bist.«
»Na, dann ist es ja gut.«
Nuala ersparte mir die Notwendigkeit, mir einfallen zu lassen, was ich als Nächstes sagen sollte. »Ich habe über Anziehung nachgedacht. Ich habe eine Theorie darüber. Über die Liebe.« Sie wich meinem Blick aus.
Ich schluckte, brachte aber hervor: »Da bin ich ja mal gespannt.«
Nuala schaute mich böse an. »Halt den Mund. Ich glaube nicht, dass Liebe etwas damit zu tun hat, wie die andere Person ist. Na ja, vielleicht ein bisschen. Ich glaube, worauf es wirklich ankommt, ist man selbst. Ich meine, du weißt schon … Nehmen wir mal an, du lie… du magst einen ichbezogenen Idioten. Das spielt keine Rolle. Es zählt nur, welches Gefühl dir dieser Idiot gibt. Wenn du dich in seiner Nähe fühlst wie der beste Mensch auf der Welt, dann bringt dich das dazu, ihn zu mögen. Es geht überhaupt nicht darum, ob er ein netter Mensch ist oder nicht.«
Mit der Zunge fuhr ich mir über die Unterlippe. »Das gefällt mir. Könnte ein Buchtitel sein: Einführung in die Liebe für Egoisten. Ich bin nicht in dich, Baby, ich bin in mich selbst verliebt.«
Verlegen lächelte Nuala vor sich hin. »Ich wusste doch, dass du verstehen würdest, was ich meine.« Sie zögerte, und als sie wieder zu reden anfing, war es, als könnte sie nicht aufhören, als platzten die Worte einfach von selbst aus ihr heraus. »Es gefällt mir, wie ich jetzt aussehe. Es gefällt mir, wie ich mich verhalte. Alle glauben, ich würde dir auflauern und dir das Leben aussaugen, weil ich dich so sehr will, weil du ein so großartiger Pfeifer bist. Sie glauben, ich könnte nicht widerstehen. Aber das kann ich. Da sitzt du nun und siehst unglaublich aus, und ich habe nichts von dir genommen. Ich will gar nicht. Ich meine, ich will schon, ich sterbe vor Gier, aber ich will nicht, dass du auch nur einen Tag von deinem Leben für mich opferst. Das ist mir noch nie passiert. Ich bin … stolz auf mich. Ich bin nicht nur ein Parasit. Ich bin nicht bloß irgendeine Fee. Ich will dich nicht benutzen. Ich will nur die sein, die ich bin, wenn ich mir dir zusammen bin.«
Darauf fiel mir keine Antwort ein. Ich wusste nicht, was ich dabei empfand. Mir war nicht danach, etwas auf meine Hände zu schreiben. Mir war auch nicht danach, aufzuspringen und davonzulaufen. Mir war das weder peinlich noch unheimlich, ich fror nicht, war nicht hungrig oder sonst irgendetwas. Mir war einfach danach, hier zu sitzen, mit meinen Knien an ihren Knien und meiner Stirn an dem Knäuel unserer verschlungenen Finger.
»Ich will nicht vergessen, dass ich mich in dich verliebt und dich deshalb nicht getötet habe«, sagte Nuala. Ihre Stimme klang komisch – es fiel ihr schwer, all das auszusprechen. »Du brauchst nichts zu sagen. Ich weiß, dass du in die dämliche, egoistische Nicht-Freundin verliebt bist, nicht in mich. Das ist okay. Ich habe nur …«
Ich beugte mich vor und küsste sie. Ich weiß, dass ich sie damit überraschte, denn ihre Lippen formten immer noch ein Wort, als meine Lippen sie berührten. Meine Haut kribbelte vor Kälte, nur ein bisschen, aber ich bekam keine Gänsehaut.
Ich ließ mich in meinem Sessel zurücksinken und schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Sog die Unterlippe zwischen die Zähne, die ganz nach Sommer und Nuala schmeckte, und schob sie dann wieder hinaus.
Nuala sah mich an.
»War das okay?«, fragte ich.
Ihre Stimme klang so unglaublich beiläufig, dass mir klar war, welche Anstrengung dazu nötig war. »Das war ein guter Kuss. Ich meine, bilde dir bloß nichts ein, das war nicht gerade der beste Kuss, den die Welt je gesehen hat, aber …«
»War es okay, dich zu küssen?«, wiederholte ich. Ich sagte das ganz langsam und vorsichtig, weil ich versuchte, diese Frage auch für mich selbst zu beantworten.
Nuala starrte mich nur an, und ich starrte zurück. Dann löste sie vorsichtig meine Finger von ihren, zog ihre Knie von meinen zurück und stand auf. Sie starrte weiter, und das blonde Haar umrahmte ihr Gesicht, während sie auf mich herabschaute wie ein mordender Engel. Ich erwiderte einfach nur ihren Blick, und ich tat das so intensiv, dass ich ganz vergaß, auf meinen Gesichtsausdruck zu achten.
Ganz langsam stieg Nuala auf meinen Sessel, setzte sich auf meinen Schoß und zog die glatten, nach Sommer duftenden Beine links und rechts von mir an. Heilige Scheiße. Ich versuchte immer noch, eine gewisse Kontrolle über mein Hirn zu behalten, als sie meine Arme anhob, einen nach dem anderen, und sie um ihren Oberkörper schlang.
Schließlich beugte sie sich mit einem verschwörerischen, durchtriebenen Lächeln zu mir herab, das mich so anmachte, wie mich noch nie irgendetwas angemacht hatte.
Und dann küsste sie mich.
Vermutlich kommt man in die Hölle, wenn man mit einer Fee herumknutscht.
Ich erwiderte den Kuss.
Eine Sekunde, bevor ich ihre Stimme hörte, wachte ich auf.
»Wach auf!« Nuala sprach direkt in mein Ohr. »Da draußen ist jemand.«
Ich öffnete die Augen. Mein rechtes Bein war eingeschlafen, weil Nuala daraufsaß, die sich neben mich in den bequemsten Sessel der Welt gequetscht hatte. »Verdammt«, zischte ich ihr zu. »Mein Bein ist taub.«
Nuala glitt von meinem Schoß, landete lautlos neben dem Sessel, blickte auf ihre Hand hinab und machte ein überraschtes Gesicht, als sie merkte, dass ich immer noch ihre Finger festhielt. Ich benutzte sie als Gegengewicht, um mich aus dem Sessel zu hieven, und verzog das Gesicht, als mein kribbelnder Fuß den Boden berührte. Ich konnte nichts hören.
Was tun wir jetzt?
Nualas Stimme war kaum zu verstehen. »Ich will zuhören.«
Hand in Hand gingen wir auf die Hintertür zu. Na ja, Nuala ging. Ich humpelte und kam mir ziemlich dumm vor. Wir blieben direkt hinter der Doppeltür stehen, waren in warme Dunkelheit gehüllt. Einen guten Meter standen wir voneinander entfernt, aber wir hielten uns immer noch fest an den Händen. Als spielten wir »Der Kaiser schickt seine Soldaten aus« und warteten darauf, dass etwas zur Tür hereinstürmte und versuchte, unsere Verteidigung zu durchbrechen.
Jetzt nahm ich auch wahr, was Nuala gehört hatte.
Sullivan.
Vor der Tür redeten zwei Leute miteinander, und eine der Stimmen gehörte unzweifelhaft Sullivan. Er sprach präzise und heftig. »… wissen, was Sie hier zu suchen haben. Mitten in der Nacht vor unserem Wohnheim.«
Die andere Stimme klang hochmütig, weiblich und irgendwie vertraut. »Ich zelte in der Nähe. Ich konnte nicht schlafen, also wollte ich einen Spaziergang in den Ort machen.«
»Schwachsinn. Ich habe gesehen, wie Sie den Thymian angezündet haben. Ich weiß, wozu das dient. Glauben Sie, ich hätte nicht gemerkt, dass hier etwas läuft?«
Rasch neigte Nuala sich zu mir herüber, presste die Lippen an mein Ohr, damit ihre Worte zu niemand anderem dringen konnten, und flüsterte: »Ich erkenne ihre Stimme. Sie hat einige Feen ermordet.«
Mir blieb keine Zeit, mich darüber zu wundern, dass die Stimme sowohl Nuala als auch mir bekannt vorkam. Die Unterhaltung auf der anderen Seite der Tür wurde fortgesetzt.
»Sie halten sich vermutlich für sehr viel klüger, als Sie wirklich sind«, sagte die Frauenstimme. Ich konnte sie beinahe zuordnen, allein deshalb, weil sie so vor Verachtung troff. »Aber Sie wissen im Grunde gar nichts. Ich finde, Sie sollten jetzt meinen Arm loslassen, ehe ich richtig wütend werde und beschließe, der Polizei etwas wenig Angenehmes über Sie zu erzählen.«
Nuala sah mich an. »Sie ist ein Mensch«, flüsterte sie.
»O nein, Ma’am.« Sullivans Stimme erreichte etwa zwanzig Grad minus. »Drohen Sie mir nicht. Ich habe schon so viel Schlimmere kennengelernt als Sie.« Eine Pause, leises Scharren. »Sie gehen nirgendwohin, bevor Sie mir nicht gesagt haben, wie Sie dazu kommen, sie direkt hinter dem Wohnheim meiner Jungs zu beschwören. Und erzählen Sie mir keinen Mist von wegen Camping oder Heilkräutern. Ich weiß Bescheid. Ich weiß es.«
»Das geht Sie nichts an. Wenn Sie tatsächlich irgendetwas über sie wissen, dann wissen Sie auch, dass es besser für Sie wäre, Ihre Nase nicht dort hineinzustecken, wo sie Ihnen abgehackt werden könnte.«
Delia, dachte ich plötzlich, und Nuala schaute mich stirnrunzelnd an, da sie den Namen nicht kannte. Dees Tante. Jetzt erkenne ich ihre Stimme. Die Feen haben ihr vor langer Zeit das Leben gerettet, und seither hilft sie ihnen.
Nuala zog scharf die Augenbrauen hoch.
»Sagen Sie mir nicht, was gut für mich ist. Ich habe die letzten beiden Jahre meines Lebens geopfert, um dafür zu sorgen, dass diese Kinder nicht durchmachen müssen, was ich durchgemacht habe.« Sullivans Stimme war ein Knurren. »Aber die ganze Zeit über wäre ich nicht im Traum darauf gekommen, dass ihnen Gefahr von einem Menschen drohen könnte. Und jetzt sagen … Sie … mir, was Sie hier wollen.«
Delia klang eisig. »Na schön. Ich habe nur die Musik hier als Unterstützung benutzt, um jemanden von den Daoine Sidhe herbeizurufen. Einer von denen schuldet mir einen Gefallen.«
»Sie halten mich wohl für ungeheuer leichtgläubig.«
»Ich halte Sie eher für ausgesprochen verletzlich.« Eine lange Pause folgte, und ich fragte mich, was auf der anderen Seite der Tür vor sich ging. »Sie sehen aus wie jemand, der eine Menge zu verlieren hat, und ich kenne gewisse Individuen, die Ihnen nur zu gern dabei helfen würden, alles zu verlieren.«
Grimmig entgegnete Sullivan: »Da irren Sie sich. Ich bin wunderbar frei und werde nicht durch Bindungen und angehäufte Besitztümer behindert wie die meisten Menschen. Das verdanke ich Ihren Freunden. Für Sie kann es allerdings sehr unangenehm werden, wenn Sie mir jetzt nicht verraten, was Sie hier wollen.«
»Ich erweise der neuen Königin gewisse Gefälligkeiten«, fauchte Delia. »Unterstütze ihre Pläne, tue das, wozu sie selbst nicht in der Lage sind.«
»Neue Königin?« Sullivans Stimme hörte sich plötzlich dünn an. »Eleanor?«
Mir blieb das Herz stehen. Woher kannte Sullivan ihren Namen?
»Ja, Eleanor. Ich tue etwas für sie, und sie tut etwas für mich. Eine Hand wäscht die andere.«
»Warum ist sie hier?«, fragte Sullivan angespannt.
Schweigen. Folgte darauf ein Nicken oder ein Kopfschütteln, das wir nicht sehen konnten? Oder einfach nichts?
Dann hörte ich wieder Sullivan, der beunruhigt wirkte. »Wir haben ein Kleeauge hier?«
Delia lachte. »Und Sie sollen diese Kinder schützen! Sie wissen ja nicht das Geringste.«
»Wer ist es?«, fragte Sullivan fordernd.
Eine Minute lang blieb es still, und dann machten Nuala und ich einen Satz rückwärts, als die Tür donnernd in den Angeln bebte.
Ich erkannte Sullivans Stimme kaum, als er knurrte: »Ich habe eine von ihnen getötet, und ich bin sicher, bei einem Menschen wäre das noch viel leichter. Reizen Sie mich nicht.«
Delia sprach langsam und ungerührt, und ihre Worte troffen vor Gift. »Nimm die Hände von mir, Bursche.«
Die Tür bebte erneut.
»Ich werde Ihnen nur eines sagen«, erklärte Delia mit seltsam gedämpfter Stimme. »Also hören Sie gut zu. Sie wollen das, was sie auch wollen. Sie wollen, dass sie aus der Menschenwelt verschwinden, und sie wollen uns aus ihrer Welt vertreiben. Ich töte jede Fee, die mit Menschen zu schaffen hat, und sie werden jeden Menschen töten, der sich mit Feen einlässt. Ja, ein paar von Ihren Kindern«, sagte sie voller Verachtung, »könnten sterben. Aber langfristig betrachtet, wäre es sehr dumm von Ihnen, sich einzumischen.«
Sullivan klang wieder wie er selbst. »Warum? Warum jetzt?«
»Wenn Sie Eleanor kennen würden, müssten Sie wissen, dass man sie nicht nach ihren Gründen fragt«, entgegnete Delia. »Und, hören Sie sie kommen? Es würde ihnen nicht gefallen, wenn sie sehen müssten, wie Sie mich bedrängen. Ja, ich an Ihrer Stelle hätte mich jetzt auch losgelassen.«
»Ich will Sie nie wieder irgendwo auf dem Schulgelände sehen.«
»Keine Sorge, Sie sehen mich sicher nicht wieder.«
Dann herrschte Schweigen. Nuala und ich wichen in die Dunkelheit zurück und warteten darauf, dass Sullivan hereinkam. Aber die Tür blieb geschlossen und Sullivan mit seinen Geheimnissen dahinter.
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An:
James
Ich gehöre nicht hierher. Ich gehöre zu ihnen. Sie sind aus musik gemacht u. ich auch. Ich gehöre zu luke. Er hat mir gestern nacht gesagt, dass er mich liebt. Das hat so gutgetan. Er ist so seltsam u. hell, dass ich mich manchmal erinnern muss, wie er aussah.
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