Nuala
Der Schlaf hat einen eigenen Rhythmus, hat seine Melodie
Wie der Tod, mal still, mal lauter werdend
In schöner Harmonie, nur beinahe erinnert
Wenn man aus dem einen oder dem anderen flieht.
Aus Die Goldene Zunge:
Gedichte von Steven Slaughter
James schlief viel. Man brauchte kein Gehirnchirurg zu sein, um dahinterzukommen, dass er schlief, wenn er gelangweilt oder unglücklich war oder sich einredete, dass er nicht unglücklich sei. Er schlief auch zu den unmöglichsten Tageszeiten, zum Beispiel mitten im Unterricht oder ganz spät am Nachmittag, so dass er dann hellwach war, wenn der Rest der Welt schlief. Seine lässige Schlaf-wann-du-willst-Haltung hatte seinen dämlichen Zimmerkameraden Mondgesicht endgültig von James’ Selbstsicherheit überzeugt, aber ich erkannte, wie James sich damit selbst betrog.
Ein kühler Tag ging zu Ende, und James schlief gerade eng auf dem Bett zusammengerollt, während Mondgesicht irgendwo mit irgendetwas beschäftigt war, das mit einer Oboe zu tun hatte. Ich saß am Fußende von James’ Bett und sah ihm beim Schlafen zu. James schlief so, wie er alles andere tat: intensiv, mit Leib und Seele, als sei alles ein Wettbewerb, und er könne sich keinen Augenblick der Unachtsamkeit erlauben. Er hatte die vollgekritzelten Hände vors Gesicht gezogen und die Handgelenke so mit den Innenseiten zueinander verdreht, dass sie einen seltsamen, schönen Knoten bildeten. Seine Fingerknöchel waren weiß.
Ich rutschte ein Stück näher und hielt eine Hand ein paar Fingerbreit über seinen nackten Arm. Unter meinen Fingern bildete sich als Reaktion auf meine Nähe eine Gänsehaut, und ich bleckte die Zähne, denn ich musste unwillkürlich lächeln.
James erschauerte, wachte jedoch nicht auf. Er hatte irgendeinen Traum vom Fliegen – typisch. Bedeutete das nicht, dass man ein selbstverliebter kleiner Scheißer war? Ich glaubte mich zu erinnern, das mal irgendwo gelesen zu haben.
Nun ja. Ich konnte ihm einen Traum schenken, den er nicht wieder vergessen würde. Ich rutschte auf die andere Seite des Bettes, tanzte auf der Grenze zwischen Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit, um ihn nicht zu wecken, und blickte in sein finster verzogenes Gesicht. Eigentlich hätte ich ihm am liebsten einen Traum darüber eingegeben, wie er sich versehentlich vor einem Haufen Leute in die Hose pinkelte, oder über sonst etwas, bei dem ihm die Eier auf Erbsengröße schrumpfen würden. Bedauerlicherweise besaß ich nicht die Gabe, peinliche Träume zu erzeugen. Mir fiel es am leichtesten, jemandem einen schmerzlich schönen Traum zu schicken – etwas so Atemberaubendes, dass der Träumer es beim Aufwachen entsetzlich vermissen würde. Auf die harte Tour hatte ich gelernt, dass weniger dabei meist mehr war – einer meiner ersten Schüler hatte sich das Leben genommen, nachdem er aus einer solchen Kreation erwacht war. Also ehrlich. Manche Leute hielten aber auch gar nichts aus.
Vorsichtig legte ich die Hände auf James’ Kopf und streichelte ihm übers Haar. Er zitterte unter meiner Berührung, ob vor Kälte oder weil er wusste, was nun kam, konnte ich nicht sagen. Ich fügte mich in seinen Traum ein, wo ich, wie immer in letzter Zeit, widerlich umwerfend aussah, und rief seinen Namen.
Im Traum fuhr James zusammen. »Dee?« Seine Stimme klang flehentlich.
Allmählich fing ich an, dieses Mädchen zu hassen.
Ich hörte auf, ihn zu streicheln, und gab ihm stattdessen einen scharfen Klaps auf den Kopf, wobei ich so schnell sichtbar wurde, dass mir der Schädel dröhnte. »Wach auf, du Wurm.«
James verzog das Gesicht. Ohne die Augen zu öffnen, sagte er: »Nuala.«
Finster starrte ich ihn an. »Auch bekannt als das einzige weibliche Wesen, das sich je in dein Bett verirren wird, du Loser.«
Er schlug sich die Hände vors Gesicht. »Gott hab Erbarmen, mein Kopf tut furchtbar weh. Töte mich gleich, Ausgeburt des Bösen, und erlöse mich von meinen Qualen.«
Ich drückte einen Finger an seine Kehle, gerade so fest, dass er mich quasi um Erlaubnis fragen musste, wenn er schlucken wollte. »Bring mich nicht auf Ideen.«
James rollte sich unter meinem Finger weg und drückte das Gesicht in sein blaukariertes Kopfkissen. Seine Stimme klang gedämpft. »Du hast so eine gewinnende Art, Nuala. Sag, wie lange beglückst du Gottes schöne Erde schon mit deiner wahrhaft strahlenden Persönlichkeit?« In seinem Kopf sah ich, wie er riet – hundert Jahre, zweihundert Jahre, tausend Jahre. Er dachte, ich sei wie die Übrigen.
»Sechzehn«, erwiderte ich barsch. »Hast du noch nie davon gehört, dass es nicht nett ist, so etwas zu fragen?«
James wandte den Kopf, so dass er mich ansehen konnte. Er hatte die Brauen gerunzelt. »Ich bin kein sonderlich netter Mensch. Sechzehn Jahre kommen mir nicht besonders lange vor. Wir sprechen doch von Jahren und nicht von Jahrhunderten, oder?«
Eigentlich brauchte ich ihm gar nichts zu verraten, tat es aber trotzdem. Verächtlich erklärte ich: »Nicht Jahrhunderte.«
James rieb das Gesicht an seinem Kissen, als könnte er sich die Schläfrigkeit abwischen. Dann sah er mich wieder an und zog eine Augenbraue hoch. Sein Blick blieb auf mein Gesicht gerichtet, aber seine Miene war eindeutig anzüglich, als er sagte: »Im Vergleich zu Menschen, äh, entwickeln Feen sich wohl viel schneller.«
Ich glitt vom Bett und hockte mich davor, so dass ich ihm gerade und aus wenigen Zentimetern Abstand in die Augen schaute. »Möchtest du eine bezaubernde Gutenachtgeschichte hören, Mensch?«
»Ist sie umsonst?«
Mit zusammengebissenen Zähnen fauchte ich ihn an.
Er gähnte und machte eine Geste, die so aussah, als sei es allein meine Sache, was ich tat und was nicht.
»Es war einmal, vor sechzehn Jahren, eine Fee, die in Virginia erschien. Sie war vollkommen entwickelt, hatte aber nichts im Hirn. Sie konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, wie sie dorthin gekommen war, nur an irgendein Feuer. Sie ging fröhlich ihres Weges, begegnete anderen Feen und fand ziemlich schnell heraus, dass ihr Dasein wie das der anderen Feen unendlich war. Und dass sie, im Gegensatz zu anderen Feen, alle sechzehn Jahre an Halloween komplett verbrannt wird und dann auf ach so magische Weise wieder erscheint – ohne Erinnerung und brandneu. So lebt sie dann glücklich bis ans beschissene Ende der nächsten sechzehn Jahre. Punkt.«
Ich wandte das Gesicht ab. So viel hatte ich nicht sagen wollen.
Nach langem Schweigen sagte James: »Du hast sie ›Feen‹ genannt.«
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber das gewiss nicht. »Und?«
»Und ich dachte, sie – du – ihr hasst es, so genannt zu werden.« James setzte sich auf. »Ich dachte, wir sollten euch mit reizenden Euphemismen bezeichnen wie ›das schöne Volk‹ oder ›er, dessen Name nicht genannt werden darf‹. Scheiße, ich glaube, da bin ich mit den Genres etwas durcheinandergeraten.«
Ich sprang auf, stürmte rastlos in dem kleinen Zimmer umher und suchte nach etwas Schwerem oder Spitzem, das ich ihm an den Kopf werfen konnte. »Tja, ich bin eigentlich keine von denen, oder? Egal. Scheißegal. Warum habe ich dir das überhaupt erzählt? Du bist viel zu ichbezogen, um dich einen feuchten Dreck um irgendjemanden außer dir selbst zu scheren.«
»Nuala.« James wurde nicht laut, aber die Intensität seiner Stimme veränderte sich so, dass er ebenso gut hätte schreien können. »Jetzt will ich dir mal eine nette Gutenachtgeschichte erzählen. Vor knapp zwei Monaten bin ich aus dem Krankenhaus gekommen. Ich habe den Sommer damit verbracht, den Kopf wieder zusammengezimmert und die Lunge geflickt zu bekommen.« Mein Blick huschte zu der Narbe über seinem Ohr, die noch neu war und kaum von seinem kurzen Haar verborgen wurde, und meine Gedanken richteten sich auf die bedeutungslose Narbe an meinem Hüftknochen – für James war sie nicht bedeutungslos, denn sonst wäre sie nicht da gewesen.
James fuhr fort: »Sie haben mein Auto zerstört, mein Wahnsinnsauto, an dem ich jeden Sommer meines Teenagerlebens gearbeitet habe, bis es perfekt war. Sie haben das Leben meiner besten Freundin ruiniert, mich beinahe umgebracht, und wir haben dabei nichts gewonnen außer Narben und nun dich an meinem Bett.«
Ich starrte ihn an.
Er stand auf, sah mir direkt in die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. Auf tragische Weise war er so tapfer. Die goldenen Funken in ihm glitzerten so hell, dass ich vor Verlangen beinahe schwankte. »Also, Nuala, dann verrate mir mal, warum ich mich zurzeit ›einen feuchten Dreck‹ um irgendjemanden als mich selbst scheren sollte?«
Darauf hatte ich keine Antwort.
Er wandte sich ab und nahm in einer abweisenden Geste ein braunes Kapuzenshirt vom Fußende seines Bettes.
Ich platzte heraus: »Weil ich sie sehen kann und du nicht.«
James erstarrte. Einfach so. Er zuckte nicht zusammen oder reagierte sonst irgendwie, er hörte nur einfach auf, sich zu bewegen. Eine lange, lange Pause entstand. Als er sich zu mir umdrehte und sich das Shirt über den Kopf zog, war er wieder er selbst. »Eine deiner zahlreichen Begabungen. Ich glaube, ich habe von euch allen für den Rest meines Lebens genug gesehen. Das geht nicht gegen dich persönlich oder deine …« Er wies in meine Richtung. »… körperliche Entwicklung.«
Ich verzog verächtlich den Mund. »Ich würde das Gegenteil behaupten. Wohin willst du so plötzlich?«
Hastig zog James seine Turnschuhe an, und seine Miene wirkte sehnsüchtig. Wir beide wussten, dass er hinausrannte, um den Dornenkönig zu beobachten.
»Ich weiß nicht, was du von mir willst.« James schob sich an mir vorbei, als sei ich unbedeutend. Als sei ich nur einer von vielen Menschen in seinem Leben. Keiner von denen bedeutete ihm etwas, abgesehen von der dummen Dee, die sich einen Dreck um ihn scherte. »Ich werde nie ja sagen.«
Er öffnete die Tür und zog sie hinter sich zu. Leise. Ich hätte sie zugeknallt. Das hätte ich auch im Moment gern getan. Ich blieb lange Minuten in seinem Zimmer stehen und stellte mir vor, dass er sich jetzt wie jeden Abend durch ein Zimmer im Erdgeschoss hinausschlich, um nicht an Sullivans Zimmer vorbeizumüssen.
Ich hätte aufgeben können. Ich hätte mir einen anderen Jungen suchen können, der vor Verheißung golden leuchtete, und sein Leben stehlen, aber was hätte das genützt? Mir blieb ohnehin nur noch Zeit bis Halloween. Selbst wenn ich keinen anderen Jungen fand, würde ich vermutlich nicht vorher sterben – seit dem letzten war noch nicht allzu viel Zeit vergangen, oder? Tatsache war, dass ich absolut nichts zu verlieren hatte. Und dass ich ihn wollte.
Ich wirbelte zum Fenster hinaus in den dunkelblauen Himmel, tastete mich an den abstrakten Gedanken von Menschen entlang und fand James – eine kleine, glimmende Gestalt im trockenen, goldenen Gras der Hügel. Er musste mich gespürt haben, als ich mich still neben ihn kniete, doch er sagte nichts, während ich langsam sichtbar wurde. Die Abendluft an meiner Haut war beißend kalt.
Zornig riss ich ein dickes Büschel Gras aus und begann, die Halme in kleine Stücke zu zerrupfen. Einmal hatte ich dabei zugesehen, wie eine Fee einen Menschen zerrissen hatte, als ich noch jünger gewesen war. Oder jedenfalls neuer. Der Mensch hatte einen Sumpf hinter seinem Haus trockengelegt und dabei unwissentlich die Feen getötet, die im Wasser gelebt hatten. Die Fee, die in seinem Brunnen gelebt hatte, war herausgekommen, hatte den Menschen zu dem alten Moorgebiet geschleift und ihn in Stücke gerissen. Ich hatte gefragt, welches Verbrechen er begangen haben sollte, wenn er doch nicht gewusst hatte, dass diese Feen im Sumpf gewesen waren. Unwissenheit ist keine Entschuldigung für ein Verbrechen, hatte die Fee, die scheinbar komplett aus Kiemen und Haar bestanden hatte, mich angezischt. Da war mir zum ersten Mal klargeworden, dass ich offenbar anders war als andere Feen.
Erbarmen, so nannten sie das, was ich hatte und andere Feen nicht. Und das war nur der Anfang einer langen Liste.
Ich warf das restliche Gras hin. »Darf ich fragen, warum du dir die Mühe machst, jeden Abend hier herauszukommen? Hast du nicht irgendeine Art von, du weißt schon, Schrein zur Selbstbeweihräucherung, an dem du stattdessen basteln könntest?«
James brummte. Weit in der Ferne hörte ich die ersten paar Noten des Liedes. Er schloss die Augen, als bereiteten die Laute ihm körperliche Schmerzen. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern und zutiefst sarkastisch. »Ich finde die Gefahr so erregend, wenn ich mich jeden Abend hinausschleiche. Ich bin schon total aufgedreht. Fühl mal meine Brustwarzen. Hart wie Stein.«
Ich verzog das Gesicht. »Solange es dir Spaß macht.«
»Oh, Baby.« Sein Blick war auf den Horizont gerichtet, und er wartete darauf, dass der gehörnte Kopf dort erschien.
»Du weißt aber, dass das gefährlich ist, oder?«, fragte ich. »Erinnerst du dich daran, dass ich dir gesagt habe, es liefen noch viel Schlimmere als ich hier draußen herum? Das ist eines von diesen schlimmeren Wesen, die ich gemeint habe. Bist du eigentlich total bescheuert?«
James antwortete nicht, doch ich wusste, dass die Gefahr einen Teil des Reizes ausmachte.
Ich sah das gewaltige, dunkle Geweih eine Sekunde vor James und packte ihn, zog ihn tiefer ins Gras, bis wir beide verborgen darin kauerten. Wir hatten uns nebeneinander zusammengerollt, die Knie unters Kinn gezogen, mein Arm berührte seinen Arm, mein Kopf seinen Kopf. Ich spürte, wie er immer wieder wegen meiner Fremdartigkeit schauderte, weil sein seltsamer Körper, der eines Sehers, ihn vor meiner Anwesenheit warnte. Trotzdem rührte er sich nicht.
Ganz nah flüsterte ich ihm ins Ohr: »Cernunnos. Gwyn ap Nudd. Hades. Hermes. Der König der Toten.«
Das Lied war jetzt laut, klagend, heulend, und ich fühlte, wie James gegen die Anziehung kämpfte. Vielleicht hatte er endlich erkannt, dass ich seine Gedanken ebenso klar verstand wie seine Worte, denn er flüsterte so leise, dass es nicht zu hören war: »Was singt er da?«
Ich übersetzte – mit gedämpfter Stimme, nur für seine Ohren:
Ich behüte die Toten, und die Toten behüten mich.
Wir sind kalt und dunkel, wir sind eins und viele,
wir warten und wir warten, so singen die Toten.
Und so singe ich: Wachset, erhebet euch, folget mir.
Und so singe ich: Die ihr nicht Himmel noch Hölle angehört,
wachset, erhebet euch, folget mir.
Ungetaufte, Ungesegnete, kommt zu mir, die ihr dort flattert in den Zweigen alter Eichen.
Jämmerliche Halbdämonen, die ihr euch in der Erde krümmt,
gefangen durch meine Macht, erhebet euch, folget mir.
Euer Tag ist nah.
Hört meine Stimme. Ein Festmahl sollt ihr haben.
James erschauerte, zog den Kopf ein und bedeckte ihn mit den Händen. So blieb er hocken, und seine Fingerknöchel schimmerten weiß an seinem Hinterkopf, bis das Lied des Dornenkönigs verklungen und die Sonne versunken war. Wir waren wieder allein in der Dunkelheit. Dann richtete er sich langsam auf, und die Art, wie er mich ansah, sagte mir, dass sich zwischen uns etwas verändert hatte. Aber nicht einmal ich wusste, was.
»Hast du je das Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren könnte?«, fragte James, aber im Grunde war das keine Frage.
Ich richtete mich auf. »Ich bin das Schreckliche, das passiert.«
James zog sich die Kapuze über den Kopf und stand auf. Schließlich – o Wunder – streckte er die Hand aus, um mir aufzuhelfen, als sei ich ein Mensch. Seine Stimme klang rauh. »Wie du schon sagtest: Es gibt schlimmere Wesen als dich.«
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An:
James
Es sind die daoine sidhe. Die, bei denen luke lebt. Ich habe 1 von ihnen erkannt, brendan. Ich weiß nicht, was er will. Sie haben vor dem klassenzimmer auf mich gewartet. Er hat mich gefragt, ob ich luke wiedersehen will.
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