James
Ich träumte von Musik.
Ein berauschendes, mitreißendes Lied von irgendeinem fernen Ort, wunderschön und unerreichbar.
Ich wollte es, dieses graue Lied, begehrte es.
Es war auf eine Weise echt, wie kein Traum es je gewesen war.
Ich wusste, dass dies Nualas Werk war, dieses Lied – so schön, dass es weh tat.
Ich wachte auf.
Als ich aufwachte, war mein Mund vollgestopft mit goldener Musik. Es war, als ginge mir ein Lied durch den Kopf, das aber eine Farbe hatte und das ich schmecken und spüren konnte. Holzrauch und Regenperlen an Eichenblättern und schimmernde goldene Fäden erstickten mich fast. Das Gefühl erinnerte mich daran, dass ich Dee wollte, dass ich ein besserer Dudelsackspieler sein wollte, dass ich … einfach wollte.
»Hey, James. Wach auf.« Pauls Stimme nahm das Gewicht der Musik von mir und befreite meine Brust. Ich konnte wieder atmen. »Es ist zwanzig vor acht.«
Ich tat einen tiefen Atemzug, und die Luft war beruhigend gewöhnlich: Sie roch leicht nach ungewaschener Wäsche, schalen Chips und altem Parkett. Den Geruch von Chips hatte ich vorher nie richtig zu schätzen gewusst – so menschlich. Ich klammerte mich an das Menschliche um mich herum, mein Rettungsboot in einem Meer aus Musik. Pauls Worte erschienen mir äußerst unwichtig.
»Neunzehn vor acht«, sagte Paul. Der Satz wurde vom Geräusch eines Reißverschlusses begleitet. Sein Rucksack vielleicht. Es drängte mich noch weiter aus meiner Traumwelt heraus, und ich bemühte mich, nicht ärgerlich auf Paul zu sein. »Bist du wach?«
Ich war wach. Ich brauchte nur sehr lange, um mich aus dem Schlaf mühsam hochzuziehen. Als ich meine Stimme ausprobierte, stellte ich ein wenig überrascht fest, dass sie funktionierte. »Es ist vollkommen undenkbar, dass es zwanzig vor acht sein soll. Was ist denn mit dem Wecker?«
»Der hat vor einer Viertelstunde geklingelt. Ich habe sogar auf die Schlummertaste gedrückt. Du hast dich immer noch nicht gerührt.«
»Ich war tot«, erklärte ich und setzte mich auf. Laken und Decke waren feucht von Schweiß. »Tote rühren sich nicht. Bist du sicher, dass der Wecker geklingelt hat?«
Jetzt bemerkte ich, dass Paul vollständig angezogen war. Er hatte sogar Zeit gehabt, sich das schwarze Haar mit Wasser zurückzukämmen, so dass er aussah wie ein Mafioso. »Mich hat er jedenfalls geweckt.« Er musterte mich mit runden Augen hinter der Brille. »Bist du krank?«
»Krank im Kopf, mein Freund.« Ich stieg aus dem Bett. Es fühlte sich an, als müsste ich mich von feinen Spinnennetzen aus Träumen losreißen. Zwar war ich wach, doch mein Bett roch beunruhigenderweise wie Nualas Atem – nach Herbst, Regen und Sehnsucht. Oder vielleicht roch ich so, meine Haut. Dieser Gedanke war geradezu unangenehm. Ich riss mich zusammen und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf Paul. »Aber nicht krank im herkömmlichen Sinne, fürchte ich. Meinst du, ich kann so zum Unterricht gehen?« Ich wies auf mein T-Shirt und die Boxershorts.
»Mann, nicht mal ich will dich so sehen. Kommst du mit frühstücken? Du musst dich beeilen.«
Auf dem Boden suchte ich nach einem halbwegs sauberen Paar Jeans, während Paul sich an der Tür herumdrückte – offenbar wollte er nicht ohne mich gehen. Ich schlüpfte in irgendwelche Klamotten und verstrubbelte mir das plattgedrückte Haar. »Ja, ich komme. Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages, lieber Paul. Die würde ich um nichts in der Welt versäumen. Denkst du, es wird irgendwem auffallen, dass ich die Hose gestern schon getragen habe?« Paul antwortete nicht, denn er hatte die Frage klugerweise als rhetorisch erkannt. »Ich bin fertig. Gehen wir – Moment.«
Ich kniete mich hin und zog meinen Seesack unter dem Bett hervor. Während ich darin herumkramte, kam ich mir vor, als beantwortete ich eine Prüfungsfrage.
Kreuzen Sie die richtige Antwort an: Was in James’ Seesack wird ihm helfen, eine übernatürliche Gefahr mit einem ausgesprochen knackigen Po abzuwehren?
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eine Uhr, die nicht richtig geht
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ein Roman – irgendein Science-Fiction-Thriller mit grässlichem Cover –, den seine Mutter ihm mitgegeben hat, weil ihr nicht klar war, dass James in jeder wachen Minute etwas lesen muss, das irgendein Lehrer ihm in die zitternden Finger gedrückt hat
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eine Handvoll Müsliriegel als Notration für den Fall eines atomaren Weltkriegs mit darauffolgender Nahrungsmittelknappheit
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ein eiserner Armreif, der ihm im Sommer einen Scheißdreck geholfen hat, bei anderen Leuten aber gut zu funktionieren schien.
Meine Finger schlossen sich um den Armreif – er war dünn, uneben und hatte knubbelige Kugeln an beiden Enden. Ich holte ihn heraus. Wortlos sah Paul zu, wie ich den Armreif um mein Handgelenk legte und zurechtrückte.
Es hatte Wochen gedauert, bis die Verfärbung, die das Ding an meinem Handgelenk hinterlassen hatte, endlich verschwunden war. Mit dem Eisen an meiner Haut fühlte ich mich jedoch besser. Geschützt, unbesiegbar.
Ich war seit jeher ein Ass im Lügen, sogar wenn ich mich selbst belog.
Ich drückte die Kugeln zusammen, bis sie mir in die Haut kniffen. »Jetzt können wir gehen.«
Das Frühstück war so wie immer. Ein Haufen Musikstreber, die sich zu früh am Morgen im Speisesaal versammelten. Aber wer auch immer diesen Speisesaal entworfen hatte, war clever gewesen: Hohe Fenster an der Ostseite reichten vom Boden bis zur Decke. Die Morgensonne durchflutete den Raum und beleuchtete die verkratzten hölzernen Tischplatten und die verblassten Wandmalereien. Zu jeder anderen Tageszeit wirkte der Saal gewöhnlich, fast ein wenig schäbig. Doch in der Frühe, im ersten Tageslicht, war er die reinste Kathedrale.
Die gedämpften Unterhaltungen wurden zum Großteil übertönt von Löffeln, die in Müslischalen klapperten, und Gabeln, die auf dem Weg durch schlabberiges Rührei über Teller kratzten. Ich rührte in meinen Frühstücksflocken herum, bis ich Brei in der Schüssel hatte, denn ich hatte noch den Geschmack der Musik aus meinem Traum im Mund.
»James, kann ich dich kurz sprechen? Wenn du mit dem Essen fertig bist?«
Das war Sullivans Stimme. Die meisten Lehrer, die auf dem Schulgelände wohnten, aßen später in ihrem separaten Esszimmer und nicht zusammen mit uns Zirkusäffchen. Aber Sullivan frühstückte oft mit den Schülern. Da er die erste Stunde hatte, musste er ohnehin um Viertel nach Morgengrauen da sein. Und mit wem hätte er schon frühstücken sollen, wenn nicht mit uns?
»Ich halte gerade Hof«, erklärte ich ihm.
Über den Rand seiner Müslischale hinweg musterte Sullivan meine Tischgenossen. Die üblichen Verdächtigen: Megan, Eric, Wesley und Paul. Praktisch jeder außer der Person, die ich dabeihaben wollte. Konnte sie nicht einmal mehr an einem Tisch mit mir sitzen? Sullivan sagte zu den anderen: »Kann der Hofstaat James wohl einen Augenblick entbehren?«
»Hat er Ärger?« Megan hatte irgendetwas über britische Schimpfwörter geschwafelt, doch sie hielt inne, um uns zu beobachten.
»Nicht mehr als gewöhnlich.« Sullivan wartete die Antwort nicht ab. Er nahm meine Müslischale und ging damit zu einem leeren Tisch, als sei er ganz sicher, dass ich meinem Frühstück folgen würde.
»Anscheinend wünscht eine Autoritätsperson meine Gesellschaft.« Ich zuckte mit den Schultern. Die anderen würden mich bestimmt nicht vermissen, denn ich war heute sowieso wenig unterhaltsam. »Wir sehen uns im Unterricht.«
Damit ging ich zu Sullivan hinüber und setzte mich ihm gegenüber. Da ich nicht vorhatte, meine breiigen Frühstücksflocken zu essen, beobachtete ich ihn dabei, wie er sorgfältig die Nüsse aus seinem Müsli pickte. Er hatte sehr lange Finger mit knubbeligen Gelenken. Überhaupt war er ein sehr langer Mensch mit einem zerknautschten Äußeren, als hätte man ihn in den Wäschetrockner gesteckt und gleich angezogen, ohne ihn zu bügeln. Aus dieser Nähe konnte ich erkennen, dass er noch ziemlich jung war. Höchstens Anfang dreißig.
»Ich habe von der Sache mit deinem Dudelsacklehrer gehört«, meinte Sullivan. Der säuberliche Haufen Nüsse auf seiner Serviette geriet ins Rutschen, als er eine weitere hinzufügte. »Oder sollte ich sagen, deinem ehemaligen Dudelsacklehrer?« Er zog eine Braue hoch, blickte aber nicht von seiner gewissenhaften Nusssuche auf.
»Das trifft es eher«, stimmte ich zu.
»Und, wie gefällt es dir an der Thornking-Ash?« Endlich führte er einen Löffel voll Müsli zum Mund und begann zu essen. Selbst von meinem Platz aus konnte ich das Knirschen hören – es war keine Milch in seiner Schüssel.
»Besser als die chinesische Wasserfolter.« Aus irgendeinem Grund blieb mein Blick an der Hand hängen, in der er den Löffel hielt. An einem seiner knochigen Finger steckte ein breiter metallener Ring, in den etwas eingeritzt war. Hässlich und stumpf, wie der Reif an meinem Handgelenk.
Sullivan fing meinen Blick auf. Seiner huschte zu meinem Handgelenk und dann zu seinem eigenen Ring. »Möchtest du ihn dir näher ansehen?« Nachdem er sein Besteck weggelegt hatte, begann er, an dem Ring zu drehen und ihn über einen Fingerknöchel zu ziehen.
Eine kränkliche, ungewisse Melodie erklang in meinen Ohren. Vor mir fiel Sullivan zu Boden, stemmte sich dann auf Hände und Knie hoch und erbrach Blumen und Blut.
Einen Moment lang kniff ich die Augen zu und öffnete sie wieder. Noch immer zerrte Sullivan an dem Ring.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, lieber nicht. Bitte lassen Sie ihn an.«
Die Worte waren heraus, ehe ich darüber nachdenken konnte, ob sie sich normal anhörten. Im Nachhinein fand ich, dass ich mich wie ein Irrer angehört hatte, aber Sullivan schien das nicht aufzufallen. Jedenfalls behielt er den Ring an.
»Tja, du bist jedenfalls kein Idiot«, gab Sullivan zurück. »Und du bist nicht dumm. Also weißt du sicher, warum ich dich beiseitegenommen habe. Dies ist eine Musikschule, und du hast praktisch schon mit der Bestnote abgeschlossen, ehe du richtig angefangen hast. Ich habe mir deine Akte angesehen. Eigentlich musst du doch gewusst haben, dass es hier ganz sicher keinen Lehrer auf deinem Niveau geben würde.«
Wenn ich nicht einmal meiner eigenen Familie eingestanden hatte, warum ich wirklich hergekommen war, würde ich es ganz sicher nicht irgendeinem Lehrer erklären. »Vielleicht bin ich doch ein Idiot.«
Sullivan schüttelte den Kopf. »Von denen habe ich genug gesehen, um einen zu erkennen.«
Am liebsten hätte ich gegrinst. Sullivan war in Ordnung.
»Schön, gehen wir davon aus, dass ich kein Idiot bin.« Ich schob meine Müslischale aus dem Weg und stützte mich auf die Unterarme. »Gehen wir davon aus, dass ich nicht vorhatte, hier den Obi-Wan des Dudelsacks zu finden. Und gehen wir der Einfachheit halber außerdem davon aus, dass ich Ihnen nicht sagen werde, warum ich hier bin – einmal angenommen, ich hätte überhaupt einen guten Grund dafür.«
»Ja, gehen wir davon aus.« Sullivan warf einen Blick auf die Uhr und sah dann wieder mich an. Der Ausdruck seiner Augen hatte eine Intensität, an die ich bei Lehrern nicht gewöhnt war – er war nicht nur einer von den vielen, die sich in der Tretmühle des Erwachsenenlebens abstrampelten. »Ich habe Bill gefragt, was ich seiner Meinung nach mit dir machen sollte.«
Ich brauchte einen Moment, bis mir einfiel, dass Bill der Dudelsacklehrer war.
»Er fand, ich sollte dich einfach in Ruhe lassen. Du weißt schon, dich zu den Zeiten allein üben lassen, wenn du normalerweise Unterricht hättest, und es dabei belassen. Aber ich finde, das pervertiert irgendwie die Idee, eine Musikschule zu besuchen. Stimmst du mir da zu?«
»Es kommt einem schon ein wenig seltsam vor«, gab ich zu. »Ich würde vielleicht nicht so weit gehen, zu behaupten, dass es eine Perversion …«
Sullivan unterbrach mich. »Deshalb dachte ich mir, wir machen dich mit irgendeinem anderen Instrument bekannt. Keine Flöten oder andere Holzbläser. Das würdest du viel zu schnell lernen. Vielleicht Gitarre oder Klavier. Etwas, bei dem du länger als fünf Minuten brauchst, um es zu beherrschen.«
»Um ganz offen zu sein«, sagte ich, »spiele ich ein bisschen Gitarre.«
»Um ganz offen zu sein«, wiederholte Sullivan meine Worte, »ich auch. Am Klavier bin ich allerdings besser. Spielst du das auch?«
»Ich werde Unterricht von Ihnen bekommen?«
»Die Kurse der echten Klavierlehrer sind schon übervoll mit echten Klavierschülern. Doch ich möchte nicht, dass du deine Zeit hier verschwendest. Deshalb werde ich zwischen den grauenhaften Essays, die ich benoten muss, irgendwo die Zeit finden, um dir Musikstunden zu geben. Und die werden dir dann auf die Musiknote angerechnet. Wenn dir das recht ist.«
Leute, die ohne erkennbaren Grund nett waren, machten mich immer misstrauisch. Leute, die ohne erkennbaren Grund nett zu mir waren, machten mich sogar noch misstrauischer. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass das so eine Art wissenschaftlicher Versuch oder eine Buße ist.«
»Ja«, erwiderte Sullivan und stand mit seiner fast leeren Schüssel Kaninchenfutter auf. »Du erfüllst meine ›Studenten helfen, die mich an mich selbst erinnern, als ich noch jung und dumm war‹-Quote. Danke. Ich würde gern diese Woche anfangen, aber da ist ja der Ausflug nach Washington D.C., also sehen wir uns nächsten Freitag um fünf in einem der Übungsräume. Ach, und wenn es für dein Wohlbefinden nicht unbedingt notwendig ist, kannst du dein Ego gern in deinem Zimmer lassen. Wir werden es nicht brauchen.«
Freundlich lächelte er mich an und neigte den Kopf wie diese Leute, die nicken, wenn sie sich verabschieden. Die Japaner?
Ich holte einen Stift aus meiner Tasche und schrieb Fr 5 Klavier auf meine Hand, damit ich es nicht vergaß. Andererseits würde ich das wohl ohnehin nicht.
Die Übungsräume waren in einem eigenen Gebäude, der Chance Hall, untergebracht und kamen mir vor wie Ausnüchterungszellen. Sie waren winzig, quadratisch und gerade groß genug für ein Klavier und zwei Notenständer, und sie mieften nach tausend Jahren Körpergeruch. Ich warf einen verächtlichen Blick auf die Notenständer – Pfeifer prägen sich alles ein – und stellte meinen Dudelsackkoffer neben die Klavierbank. Dann holte ich meine Übungspfeife heraus und setzte mich, wobei die Bank ein furzendes Geräusch machte.
Meine Klavierstunde war erst in ein paar Tagen. Ich war jedoch noch nie in den Übungsräumen gewesen und wollte mir vor dem Freitagstermin ansehen, wie es hier war.
Das Zimmer war alles andere als inspirierend. Eine Übungspfeife hat von vornherein keinen schönen Klang – am ehesten denkt man dabei an eine strangulierte Gans –, und ich rechnete nicht damit, dass die erbärmliche Akustik dieses Raumes ihn verbessern würde.
Ich betrachtete die Tür. Sie hatte einen von diesen kleinen Riegeln am Türschloss, so dass man sich einsperren konnte – vermutlich, damit nicht dauernd jemand hereinplatzte, während man übte. Spontan kam mir der Gedanke, dass die Übungsräume wunderbar für einen Selbstmord geeignet wären. Alle würden einfach annehmen, dass man da drin war und übte, bis man irgendwann zu riechen begann.
Ich verriegelte die Tür.
Dann setzte ich mich ganz ans Ende der Bank und hob die Übungspfeife an die Lippen. Mit dem Spielen wollte ich nicht so recht anfangen, weil mir das Stück aus meinem Traum immer noch im Hinterkopf herumspukte. Ich fürchtete, es könnte mir ungebeten aus den Fingerspitzen fließen, wenn ich jetzt spielte. Und es würde phantastisch sein. Das Lied flehte mich aus meinem Gedächtnis an, es zu spielen und zu entdecken, wie wunderschön es klingen würde, wenn ich es in die Freiheit entließ. Aber ich hatte Angst, dass ich, wenn ich diesem Drang nachgab, ja zu etwas sagte, das ich nicht wollte.
Ich überlegte hin und her, mit dem Rücken zur Tür. Ich weiß nicht, wie lange ich reglos dagesessen hatte, als ich ein Zupfen im Kopf spürte, ein Kribbeln von irgendetwas. Ich sah zu, wie sich eine Gänsehaut auf meinen Armen ausbreitete. Und ich wusste, dass irgendetwas bei mir in diesem Raum war, obwohl die Tür kein Geräusch gemacht und ich auch keine Schritte gehört hatte.
Tief und lautlos holte ich Luft und fragte mich, ob es schlimmer wäre, nachzusehen oder es nicht zu wissen. Ich drehte mich um.
Die Tür war zu. Immer noch verriegelt. Mir war eiskalt, und mein sechster Sinn schrie mir zu: Hier stimmt was nicht, du bist nicht allein! Abergläubisch berührte ich den eisernen Reif an meinem Handgelenk, und diese Bewegung verlieh mir neue Konzentration. Dicht bei mir – sehr nah – roch ich etwas Seltsames, wie Ozon. Wie der Geruch nach einem Blitzschlag.
»Nuala?«, riet ich.
Ich bekam keine Antwort, spürte aber eine Berührung, einen leichten Druck an Rücken und Schultern. Nach ein paar Sekunden fühlte ich mehr als Druck: Das war Wärme, Schulterblätter an meinen Schulterblättern, Rippen an meinen Rippen, Haar an meinem Nacken. Nuala – wenn sie es denn war – sagte nichts, sondern saß nur still hinter mir auf der Klavierbank, den Rücken an meinen gelehnt. Meine Haut kribbelte, die Gänsehaut legte sich, und dann prickelte es wieder, als könnte sich meine Haut nicht an ihre Gegenwart gewöhnen.
»Ich trage Eisen«, sagte ich – sehr leise.
Der Körper an meinem Rücken rührte sich nicht. Ich bildete mir ein, das sachte Klopfen eines Herzschlags spüren zu können. »Das habe ich bemerkt.«
Ganz langsam und durch die Zähne ließ ich die Luft in meiner Lunge wieder ausströmen. Ich war erleichtert, denn das war Nualas Stimme. Ja, Nuala war übel – aber ein unbekanntes Wesen, das sich von hinten an mich lehnte und in meinem Rhythmus atmete, wäre noch schlimmer gewesen.
»Das ist sehr unbequem«, meinte ich und nahm dabei intensiv wahr, wie sich beim Sprechen meine Brust spannte und eine ganz leichte Reibung meines Rückens an ihrem verursachte. Das Gefühl war grauenerregend und sinnlich zugleich. »Das Eisen, meine ich. Anscheinend sind die ungemütlichen Umstände ganz umsonst gewesen. Dabei habe ich es nur für dich angelegt.«
»Sollte ich jetzt geschmeichelt sein?«, fragte Nuala spöttisch. »Es laufen viel schlimmere Wesen als ich da draußen herum.«
»Tröstlicher Gedanke. Wie schlimm bist du eigentlich, wo wir gerade beim Thema sind?«
Nuala machte ein leises Geräusch, als hatte sie etwas sagen wollen und es sich anders überlegt. Das Schweigen hing zwischen uns, dick und hässlich. Schließlich sagte sie: »Ich bin nur gekommen, weil ich dir zuhören wollte.«
»Du hättest anklopfen sollen. Diese Tür habe ich aus gutem Grund verriegelt.«
»Du solltest doch gar nicht merken, dass ich da bin. Was bist du eigentlich – ein Seher oder so? Hast du irgendwelche übernatürlichen Kräfte?«
»Oder so.«
Nuala rückte von mir ab und wandte sich dem Klavier zu. Der Verlust ihrer Berührung traf mich ins Herz, eine unbestimmte, schmerzhafte Sehnsucht erfüllte meine Brust. »Spiel etwas.«
»Verdammtes Geschöpf.« Ich rutschte zum Klavier herum, so dass ich sie sehen konnte, und schüttelte den Kopf, um mich von der Qual zu lösen. »Du bist schwierig.«
Sie beugte sich vor, tief über die Tasten, um mein Gesicht zu betrachten, während ich sprach. Dabei fiel ihr das Haar vor die Augen, und sie musste sich die zotteligen hellen Strähnen hinters Ohr streichen. »Dieses Gefühl bedeutet nur, dass du mehr sein möchtest, als du bist. Es bedeutet, du hättest ja statt nein sagen sollen.«
Sicher wollte sie mich mit diesen Worten überreden, doch sie hatten die gegenteilige Wirkung. »Wenn ich es in diesem Leben zu irgendetwas bringe, dann liegt das allein an mir. Geschummelt wird nicht.«
Nuala zog hinter ihren Sommersprossen eine hässliche Fratze. »Du bist wirklich undankbar. Du hast das Lied, zu dem ich dir verholfen habe, noch nicht einmal ausprobiert. Das hat nichts mit Schummeln zu tun. Du hättest es irgendwann selbst geschrieben. Wenn du so etwa dreitausend Jahre alt werden könntest.«
»Ich sage nicht ja«, erklärte ich.
»Ich habe das nicht im Tausch gegen ein Ja getan«, fuhr Nuala mich an. »Ich habe es dir geschenkt, um dir zu zeigen, was wir zusammen erreichen könnten. Als dein verdammtes vierwöchiges Probeabo. Kannst du diese Chance einfach nutzen? Nein, natürlich nicht! Denn du musst alles hinterfragen und zu Tode analysieren. Manchmal hasse ich euch alle, ihr dummen Menschen.«
Ihr Zorn ließ meinen Kopf schmerzen. »Nuala, bitte. Halt mal einen Moment lang den Mund. Du machst mir grässliche Kopfschmerzen.«
»Sag mir nicht, dass ich den Mund halten soll«, erwiderte sie, tat es aber.
»Bitte fass das jetzt nicht falsch auf«, sagte ich, »aber ich traue dir nicht so recht.«
Ich legte meine Übungspfeife weg – sie kam mir vor wie eine Waffe, die Nuala gegen mich benutzen konnte – und legte die Finger stattdessen auf die kühlen Klaviertasten. Im Gegensatz zu der Pfeife, die mir vertraut war und die voll vielfältiger Möglichkeiten steckte, waren die glatten Tasten bedeutungslos und unschuldig. Ich sah Nuala an, die einfach schwieg. Ihr Blick wirkte so falsch, war so blendend nichtmenschlich – aber sie hatte recht. Als ich ihr in die Augen sah, schaute ich mich selbst daraus an. Ein Ich, das mehr wollte, als ich war. Ein Ich, das ahnte, wie viel Genialität da draußen zu finden war, die ich sonst nicht einmal ansatzweise entdecken würde.
Vorsichtig stieg Nuala von der Bank, damit die nicht furzend knarrte. Unter meinem Ellbogen hindurch schob sie sich zwischen mich und das Klavier, bis sie in meinen Armen wie in einem Käfig saß. Sie presste sich gegen mich, so dass ich auf der Bank zurückweichen musste und sie auf der Kante Platz fand. Dann griff sie nach meinen Händen, die stümperhaft auf den Klaviertasten ruhten.
Sie legte die Finger auf meine. »Ich kann kein einziges Instrument spielen.«
Es war seltsam intim, dass sie so im Rahmen meiner Arme saß, den Körper genau an meinen angepasst, die langen Finger präzise auf meinen. Ich hätte einen Lungenflügel darum gegeben, so mit Dee dazusitzen. »Wie meinst du das?«
Nuala drehte den Kopf gerade so weit, dass ich deutlich ihren Atem riechen konnte, der ganz nach Sommer und Verheißung duftete. »Ich kann selbst nichts spielen. Ich kann nur anderen helfen. Und wenn mir das beste Lied auf der ganzen Welt einfallen würde – ich könnte es nicht spielen.«
»Du kannst es körperlich nicht?«
Sie wandte das Gesicht wieder von mir ab. »Ich kann es einfach nicht. Musik zu machen ist für mich unmöglich.«
Etwas schnürte mir leicht und unangenehm die Kehle zu. »Zeig es mir.«
Sie zog eine Hand von meiner und drückte mit dem Zeigefinger eine Taste nieder. Ich sah zu, wie die Taste heruntergedrückt wurde – einmal, zweimal, fünfmal, zehnmal –, aber nichts geschah. Nur das leise, gedämpfte Geräusch der gedrückten Taste selbst war zu hören. Nuala nahm meine Hand, zog sie zu derselben Taste und drückte meinen Zeigefinger herunter. Der Ton erscholl wie eine Glocke, die verstummte, sobald ich den Finger wieder hob.
Sie sprach kein Wort. War auch nicht nötig. Die Erinnerung an diesen einzelnen Ton hallte in meinem Kopf nach.
Nuala flüsterte: »Schenk mir nur ein Lied. Ich werde dir nichts wegnehmen.«
Ich hätte nein sagen sollen. Wenn ich gewusst hätte, wie furchtbar die Schmerzen später sein würden, hätte ich nein gesagt.
Vielleicht.
Stattdessen erwiderte ich nur: »Versprich es. Gib mir dein Wort darauf.«
»Du hast mein Wort. Ich werde dir nichts wegnehmen.«
Ich nickte. Dann fiel mir ein, dass sie es ja nicht sehen konnte, doch sie schien es trotzdem zu wissen. Sie legte die Finger auf meine und lehnte sich an mich. Ihr Haar duftete nach Klee. Worauf wartete sie? Darauf, dass ich spielte? Ich konnte aber nicht Klavier spielen, verdammt.
Nuala deutete auf eine Taste. »Fang da an.«
Ein wenig umständlich, weil ihr Körper zwischen mir und dem Klavier steckte und ihr was zum Teufel das auch sein mochte zwischen mir und meinem Hirn, drückte ich auf die Taste. Am ersten Ton erkannte ich das Lied, das mir durch den Kopf ging, seit ich aufgewacht war. Ungeschickt stolperte ich zum nächsten Ton weiter und traf unterwegs ein paar falsche – das Klavier war wie eine Fremdsprache für mich, die mir nur schwer über die Lippen ging. Dann den nächsten Ton, und nun riet ich schon schneller. Und den nächsten, diesmal war nur ein falscher dazwischen. Den nächsten traf ich beim ersten Versuch. Und dann spielte ich die Melodie, meine andere Hand stimmte ein und fand sich zaghaft in die tiefe Begleitstimme ein, die ich im Kopf hörte.
Es war zäh, amateurhaft, wunderschön. Und es war mein Werk. Es klang nicht wie ein Lied, das ich Nuala gestohlen hatte. Ich erkannte das Stück einer Melodie, an der ich seit Jahren hin und wieder herumprobierte, eine aufsteigende Basssequenz, die ich auf einem Audioslave-Album bewundert hatte, und einen Riff, mit dem ich auf der Gitarre experimentiert hatte. Die Musik war meine, aber intensiviert, konzentriert, poliert.
Ich hörte zu spielen auf und starrte das Klavier an. Ich konnte nichts sagen, weil ich es so sehr wollte. Was sie mir anbot, wollte ich haben, und das tat weh, weil ich nein sagen musste. Ich kniff die Augen zu.
»Sag doch etwas«, bat Nuala.
Ich öffnete die Augen. »Mist. Ich habe Sullivan gesagt, ich könne nicht Klavier spielen.«