James

Weil ich kein richtiger Musikschüler war und weil Sullivan einfach kein Organisationstalent besaß, mussten wir uns für meine Klavierstunde im alten Auditorium treffen. Es hatte sich herausgestellt, dass sämtliche Übungsräume freitagnachmittags um fünf von richtigen Klavierschülern, richtigen Klarinettenschülern und richtigen Cellisten mit all ihren richtigen Lehrern und Orchesterleitern besetzt waren.

Stattdessen suchte ich mir jetzt den Weg zur hässlichen Brigid Hall. Wie um zu beweisen, dass Brigid kein nützliches Mitglied der Thornking-Ash-Riege mehr war, hatten die Gärtner die Wiese zwischen Brigid und den anderen akademischen Gebäuden herbstlich verwildern lassen und Buchsbaum und Efeu erlaubt, die trübseligen Mauern aus gelblichem Backstein zu erobern. Die deutliche Botschaft an alle Eltern, die zu Besuch kamen, lautete: Machen Sie keine Fotos von diesem Teil des Schulgeländes. Das Gebäude wurde als zu hässlich für die akademische Nutzung befunden. Glauben Sie nicht, wir hätten das übersehen.

Auf dem Weg piepste mein Handy in der Hosentasche. Ich holte es hervor und sah eine SMS von Dee. Als ich sie aufrief, waren die ersten Worte, die ich erblickte:

James, es tut mir so leid.

Mir wurde schlecht. Ich löschte die Nachricht, ohne weiterzulesen. Dann steckte ich das Handy wieder ein und ging um die Brigid Hall herum zum Eingang.

Die abblätternde rote Farbe der Tür kam mir irgendwie bedeutungsvoll vor. Ich konnte mich nicht erinnern, sonst irgendwo auf dem Campus noch andere rote Türen gesehen zu haben. Ein Einzelgänger wie ich. Aus Solidarität ballte ich eine Hand zur Faust und grüßte den Knauf sacht mit den Fingerknöcheln. »Du und ich, Kumpel«, hauchte ich. »Wir verstehen uns.«

Ich öffnete die Tür und stand in einem langen, schmalen Raum voller Klappstühle, die alle aufmerksam zu einer niedrigen Bühne am anderen Ende des kleinen Gebäudes schauten. Es roch nach Moder und altem Parkett und dem Efeu, der sich an den Milchglasscheiben empordrängte. Auf der Bühne beleuchteten in die Decke eingelassene Scheinwerfer einen Flügel, der so alt und hässlich war wie das Gebäude selbst. Das Ganze wirkte wie ein Crashkurs in Scheußlichkeiten der 50er-Jahre-Architektur, die man am besten vergisst.

Sullivan saß am Flügel, und seine knochigen Finger spielten mit den Tasten. Nichts Überwältigendes, aber er war offensichtlich mit dem Instrument vertraut. Und immerhin klang der Flügel nicht halb so schlimm, wie er aussah. Ich ging durch das Publikum aus Klappstühlen, schnappte mir einen aus der ersten Reihe und nahm ihn mit auf die Bühne.

»Sei gegrüßt, Sensei«, sagte ich zu ihm und ließ meinen Rucksack auf den Stuhl neben dem Flügel fallen. »Was für eine hübsche Kreation, dieser Flügel.«

»Ja, nicht? Und ich glaube, außer mir erinnert sich niemand mehr daran, dass es dieses Gebäude überhaupt gibt.« Sullivan spielte Shave and a Haircut, ehe er von der Klavierbank aufstand. »Seltsam, wenn man sich vorstellt, dass das hier mal ihr Konzertsaal war. Hässliche Bude, was?«

Mir fiel die Distanzierung auf. Nicht »unser Konzertsaal«. Sullivan sah mich stirnrunzelnd an. »Fühlst du dich nicht gut?«

»Ich habe nicht viel geschlafen.« Eine Untertreibung von kosmischem Ausmaß. Ich wollte nur noch, dass dieser Tag endlich vorbeiging, damit ich ins Bett fallen konnte.

»Du meinst, abgesehen von dem Nickerchen in meinem Unterricht«, entgegnete Sullivan.

»Manche Leute sagen, dass Zuhören in Ruhestellung am effektivsten sei.«

Er schüttelte den Kopf. »Natürlich. Ich werde den Beweis für die Effektivität in deiner nächsten Prüfung suchen.« Er wies auf die Klavierbank. »Dein Thron.«

Ich setzte mich. Die Bank quietschte und wackelte gefährlich. Der Flügel war so alt, dass der Name des Herstellers über den Tasten fast gänzlich verschwunden war. Und er miefte. Nach zermahlenen alten Damen. Sullivan hatte ein paar Blätter auf den Notenhalter gelegt – irgendetwas von Bach, das vermutlich einfach aussehen sollte, aber für Dudelsackmusik viel zu viele Linien hatte.

Sullivan drehte den Klappstuhl herum und setzte sich rücklings darauf. Seine Miene war gespannt. »Du hast also noch nie Klavier gespielt.«

Die Erinnerung an Nualas Finger auf meinen wurde irgendwie von der Erinnerung an letzte Nacht gefärbt. Ich ballte die Finger zur Faust und ließ wieder locker, damit sie nicht zitterten. »Nach unserer Unterhaltung habe ich es mal ausprobiert. Ansonsten …« Als ich diesmal mit den Fingern über die Tasten strich, erschauerte ich bei dem Gedanken an Nuala und zuckte ganz leicht zusammen. »… sind wir uns praktisch fremd.«

»Du kannst also die Musik da auf dem Notenhalter nicht spielen.«

Ich sah mir die Noten an. Das war wie eine Fremdsprache – keine Chance, dass ich das spielen könnte. »Verstehe nur Bahnhof.«

Sullivans Stimme veränderte sich, sie klang jetzt hart. »Und die Musik, die du mitgebracht hast?«

»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«

Mit dem Kinn deutete Sullivan auf meine Arme, die in den langen Ärmeln meines schwarzen ROFLMAO-Shirts steckten. »Irre ich mich?«

Ich wollte ihn fragen, woher er das wusste. Er konnte geraten haben. Die Zeichen auf meinen Händen, teils Worte, teils Musik, wurden von beiden Ärmelsäumen verdeckt. Vielleicht hatte ich sie auch vorhin in seinem Unterricht hochgeschoben. Ich konnte mich nicht daran erinnern. »Ich kann auf dem Klavier nicht nach Noten spielen.«

Sullivan stand auf, winkte mich von der Bank und setzte sich auf meinen Platz. »Aber ich. Roll die Ärmel hoch.«

In der orange-gelben Bühnenbeleuchtung blieb ich stehen und krempelte die Ärmel hoch. Meine beiden Arme waren ganz dunkel vor lauter Musikfetzen, die ich in winziger Handschrift auf hastig gestrichelten Notenlinien daraufgemalt hatte. Die Noten zogen sich um meine gesamten Arme herum und waren am rechten hässlicher und schwerer zu lesen, weil ich mit der linken Hand hatte schreiben müssen. Ich sagte nichts. Sullivan betrachtete meine Arme mit einem Gesichtsausdruck voller Zorn oder Entsetzen oder Verzweiflung.

Doch er sagte nur: »Wo ist der Anfang?«

Ich musste kurz danach suchen und fand ihn in der linken Armbeuge.

Er begann zu spielen. Die Musik klang viel älter als in meiner Erinnerung daran, wie ich sie mit Nuala gesummt und gesungen hatte. Sehr modal, sie tanzte auf der Grenze zwischen Dur und Moll. Außerdem klang sie viel genialer. Sie war geheimnisvoll, schön, sehnsuchtsvoll, dunkel, hell, tief und hoch. Eine Ouvertüre. Eine Sammlung all der Melodien und Themen, die wir in unser Stück einarbeiten würden.

Sullivan erreichte das Ende der Noten auf meinem linken Arm und hielt inne. Er deutete auf seine flache, lederne Notentasche, die am Bein des Flügels lehnte. »Gib mir das.«

Ich reichte sie ihm und sah zu, wie er hineingriff und dasselbe kleine Tonbandgerät hervorholte, das er damals auf den Hügel mitgebracht hatte. Er stellte es auf den Flügel und schaute es an, als enthalte es alle Geheimnisse dieser Welt. Dann drückte er auf »Play«.

Ich hörte meine Stimme, leise und etwas blechern: »Sie haben das Band bis jetzt nicht mitlaufen lassen?«

Sullivans Stimme wirkte sehr jung und kraftvoll, wenn sie nicht direkt aus seinem Körper kam. »Ich wusste nicht, ob das nötig sein würde.«

Langes Schweigen, das Tonband rauschte leise, Vögel sangen in der Ferne.

Und dann Nualas Stimme: »Sag nichts.« Mir war nicht sofort klar, was es bedeutete, dass ich Nualas Stimme auf dem Band hörte. »Du bist im Moment der Einzige, der mich sehen kann. Wenn du also mit mir sprichst, wird es aussehen, als hättest du zu lange ohne Sauerstoff im Geburtskanal gesteckt oder so.«

Sullivan hob die Hand und drückte auf »Stop«.

»Sag mir, dass du nicht auf den Handel eingegangen bist, James.«

Er klang so ernst und angespannt, dass ich einfach die Wahrheit sagte. »Bin ich nicht.«

»Sagst du das jetzt nur so? Bitte sag mir, dass du ihr nicht ein einziges Jahr deines Lebens gegeben hast.«

»Ich habe ihr überhaupt nichts gegeben.« Allerdings wusste ich nicht, ob das stimmte. Es fühlte sich nicht wahr an.

»Das würde ich zu gern glauben«, entgegnete Sullivan wütend. Er packte meine Hand und riss sie hoch, so dass ich auf meine eigene Haut starrte, die sich nur Zentimeter vor meinem Gesicht befand. »Aber ich muss dir sagen, dass sie dir das nicht umsonst geben. Du bist mein Schüler, und ich will wissen, was oder wen du ihnen versprochen hast, um das zu bekommen. Es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass dumme, brillante Jugendliche wie du nicht zu Tode kommen, und ich werde die Sache jetzt bereinigen müssen.«

Ich hätte etwas zu sagen haben sollen. Wenn schon nichts Witziges, dann zumindest irgendetwas.

Sullivan ließ meine Hand los. »Warst du denn allein noch nicht gut genug? Als verdammt noch mal bester Sackpfeifer in ganz Virginia musstest du einen Handel schließen, um noch mehr zu bekommen? Ich hätte wissen müssen, dass dir das nicht genügen würde. Vielleicht dachtest du, es würde niemand sonst betreffen? Es betrifft aber niemals nur dich allein.«

Ich zerrte meine Ärmel herunter. »Sie wissen nicht, wovon Sie reden. Ich habe keinen Pakt geschlossen. Sie wissen gar nichts.«

Vielleicht wusste er doch etwas. Ich hatte ja keine Ahnung, was zum Teufel er wusste.

Sullivan betrachtete die fast abgeriebenen Lettern über der Klaviatur, ballte die Hand zur Faust und löste sie wieder. »James, ich weiß, du hältst mich für irgendeinen Idioten. Du glaubst, ich sei ein Musiker, der die Träume seiner Jugend verkauft hat, um Fußabtreter untersten Ranges an einer schicken Privatschule zu werden. Das denkst du doch von mir, nicht wahr?«

Nuala, die tatsächlich Gedanken lesen konnte, hätte es vielleicht besser ausdrücken können, aber für eine nichtübernatürliche Instanz kam er der Sache ziemlich nahe. Ich zuckte mit den Schultern, weil ich eine nonverbale Antwort hier für die beste Idee hielt.

Er schnitt der Klaviatur eine Grimasse und strich mit den Fingern über die Tasten. »Ich weiß das, weil ich selbst in deiner Lage gewesen bin – vor zehn Jahren. Ich würde einmal jemand sein, dachte ich damals. Niemand würde mir im Wege stehen, und eine ganze Menge Leute am Juilliard-Konservatorium haben mich darin unterstützt. Das war mein Leben.«

»Ich halte nicht viel von moralischen Märchen«, erklärte ich.

»Oh, dieses hat ein überraschendes Ende«, erwiderte Sullivan bitter. »Sie haben mein Leben ruiniert. Ich wusste nicht einmal, dass es sie überhaupt gibt. Ich hatte keine Chance. Aber du hast eine. Ich sage dir, sie benutzen Leute wie uns allein zu ihrem eigenen Vorteil. Weil wir das wollen, was sie zu bieten haben, und weil uns die Welt nicht gefällt, so wie sie ist. Eines musst du dabei bloß verstehen, James: Dass wir wollen, was sie haben, und dass sie wollen, was wir haben, bedeutet noch lange nicht, dass nachher jeder etwas bekommt, das ihm gefällt. Wir haben nachher gar nichts.«

Er rutschte auf der Bank zurück und stand auf. »Jetzt setz dich.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also gab ich immerhin die halbe Wahrheit preis. »Ich will eigentlich gar nicht Klavier spielen.«

»Wollte ich auch nicht«, sagte Sullivan. »Aber zumindest ist es keines von den Instrumenten, die sie besonders schätzen. Deshalb ist es gut für uns beide. Setz dich.«

Ich nahm Platz, aber ich glaubte nicht, dass Sullivan so viel über Nuala wusste, wie er glaubte.

Neue Textnachricht

An:

James

 

Du hast mal gesagt, du kannst hellsehen. Würde dich gern nach meiner zukunft fragen. Bin ich immer so? Stehe ich immer nur draußen und schaue hinein? Das habe ich an luke so geliebt. Er hat mir das gefühl gegeben, irgendwo dazuzugehören.

 

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Dee

 

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