Nuala

Was fühle ich so dick in meiner Kehle stecken?

Es schmeckt nach Nektar und brennt wie Wespenstiche.

In liebevoller Achtsamkeit muss ich entdecken

Die Form deiner Hände und andere Eindrücke

Die nicht wichtig sind.

Aus Die Goldene Zunge:
Gedichte von Steven Slaughter

Wenn ich an diesen Nachmittag zurückdenke, fallen mir die vielen Möglichkeiten ein, wie ich hätte verhindern können, dass Eleanor sah, was ich für James empfand. Ich male mir aus, wie ich hätte verhindern können, dass sie mich überhaupt zu sehen bekam. Aber wenn ich mich schon nicht verstecken konnte, hätte es zumindest eine Chance geben müssen, meine Beziehung zu James zu verbergen.

James wartete mit dem Mondgesicht an der Bushaltestelle. Die dumme Dee war zur Schule zurückgekehrt. Anscheinend war es sehr anstrengend für sie gewesen, dafür zu sorgen, dass James sich so beschissen fühlte, und jetzt brauchte sie ihren Schönheitsschlaf. Mondgesicht kannte ein paar Zaubertricks – offenbar besaß er verborgene Talente – und ließ Büroklammern in seinen Händen erscheinen und wieder verschwinden. Mir fiel es natürlich leicht, den Taschenspielertrick zu durchschauen, mit dem er das machte, aber ich musste zugeben, dass er nicht übel darin war. Er führte seine Tricks auf eine beiläufige, ungekünstelte Art vor, als wollte er damit sagen: Na und? Natürlich gibt es Magie.

Und James lächelte darüber dieses ironische Lächeln, das ich allmählich furchtbar liebgewann. Er lächelte, weil er wusste, dass es Magie wirklich gab und dass das, was Mondgesicht ihm da zeigte, keine Magie war. Trotzdem ließ er sich zum Narren halten, und ihm gefiel dieser Widerspruch.

Ich saß ein paar Meter entfernt im Gras, so weit weg, dass James mich nicht spüren konnte, aber nah genug, damit ich die Unterhaltung der beiden verstand. Wie immer brannte James von innen heraus in leuchtendem Gold, und zum ersten Mal seit Monaten spürte ich, dass ich Hunger hatte.

In diesem Augenblick wurde mir klar: Wenn ich vor Halloween keinen Pakt mit einem Menschen schloss, würde es wahrscheinlich sehr schmerzhaft für mich werden.

Im selben Moment bemerkte ich, dass ich James keines seiner Jahre wegnehmen wollte, selbst wenn er ja gesagt hätte.

Ich hatte das Gefühl, im Ungewissen zu treiben. Ich wusste nicht mehr, wer ich war.

»Wartest du auf deinen Bus?«

Die glatten, moosgrünen Schuhe, die vor mir standen, erkannte ich nicht, aber ich erkannte Eleanors Stimme. Ich blickte auf und sah Eleanor mit ihrem namenlosen menschlichen Gefährten an ihrer Seite. Er beugte sich leicht nach vorn und streckte mir die Hand hin, als wollte er mir aufhelfen, doch Eleanor gab ihm einen leichten Klaps auf die Finger, und er zog die Hand zurück.

»Ts, ts. Das ist keine gute Idee, mein Lieber. Sie hat Hunger, und wie du weißt, bist du ein Leckerbissen.« Eleanor schaute auf mich herab und bot mir ihre eigene Hand. An jedem ihrer Finger steckte ein Ring, und ein paar davon waren durch lange Goldkettchen miteinander verbunden, die von ihrer Hand herabhingen. Ich blieb sitzen. Eleanor runzelte die Stirn und sah mich mit einem Ausdruck himmlischen, qualvollen Mitleids an. »Erhebst du dich neuerdings nicht mehr vor deiner Königin, Liebes? Oder bist du zu schwach dazu?«

Ich blickte zu ihr auf. Meine Stimme klang verdrießlich, aber ich bemühte mich nicht, etwas daran zu ändern. »Warum? Werdet Ihr mich ermorden lassen, wenn ich nicht aufstehe?«

Eleanor schürzte die blassen Lippen. »Ach, du bist also diejenige, die sich neulich Nacht geweigert hat, zu helfen. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass wir hier gewisse Dinge tun, bei denen wir keinerlei Störung dulden können.«

Ihr Gefährte musterte mich. Seine Miene drückte auf sehr starre Weise aus: Steh auf. Es fiel mir immer noch sehr schwer, seine Gedanken zu lesen, aber ich erkannte, dass er erst kürzlich dem Tod begegnet war und ihn nicht so bald wiedersehen wollte.

Ich stand auf. »Ich störe keines Eurer Vorhaben.« Jedenfalls glaubte ich das. Wissen konnte ich es nicht genau. Ich sah zu James hinüber, und auch Eleanor wandte sich ihm zu. Aus einem Bus ging eine Frau auf ihn zu, die schon in ein paar Metern Entfernung die Arme ausbreitete, um ihn an sich zu drücken. James’ Gesicht strahlte vor echter Freude. Ich hatte ihn wohl noch nie zuvor glücklich gesehen.

Eleanor begann zu lachen, und sie lachte so laut, dass selbst die Menschen in einiger Entfernung erschauerten, sich umblickten und Bemerkungen über das Gewitter machten, das später aufziehen sollte. Eleanor tupfte sich die Augen – als ob sie weinen könnte! –, schüttelte den Kopf und lächelte mich ungläubig an. »Oh, kleine Leanan Sidhe, ist das dein Auserwählter dort?«

Ihr Lachen gefiel mir nicht, und es gefiel mir nicht, wie sie ihn betrachtete.

»Welch eine seltsame und doch passende Wahl du getroffen hast. Ich hätte ihn vor ein paar Monaten beinahe getötet, und die Daoine Sidhe haben ihn für das Kleeauge wieder ins Leben zurückgeholt. Und jetzt wirst du den Rest erledigen. Das hat etwas – wie ein Kreis, der sich schließt. Nett, nicht wahr?«

Ich sagte nichts. Mit verschränkten Armen stand ich da und beobachtete, wie James stolz seine Mutter anlächelte, die gerade das Mondgesicht umarmte, als hätte er sowohl die Umarmung an sich als auch seine Mutter selbst erfunden.

»Oh.« Geziert schlug Eleanor sich die Hand vor den Mund. Sie beugte sich zu ihrem Menschen hinüber, und ihre Freude war kaum zu ertragen. »Oh. Hast du das gesehen, mein Lieber?« Ihr Begleiter gab einen zustimmenden Laut von sich. Eleanor wandte sich wieder mir zu. »Deshalb also zitterst du vor Begehren, kleine Hure? Weil du es komplett entbehren musstest?«

Von wegen zittern. Es ging mir gut. Seit Steven war noch nicht so viel Zeit vergangen. »Das geht Euch nichts an.«

»Mich geht alles etwas an. Alle meine Untertanen liegen mir am Herzen, und ich fände es schrecklich, wenn du etwas entbehren müsstest.«

»Ach, tatsächlich?«, schnaubte ich.

»Du brauchst nur darum zu bitten«, entgegnete Eleanor. Sie drehte sich zu James um und lächelte leicht, als wäre sie in Erinnerungen versunken. »Was bereitet dir Schwierigkeiten? Will er keinen Pakt mit dir eingehen? Ich kann ihn dir gefügiger machen. Beim ersten Mal war er sehr leicht zu brechen.«

In ihrem Kopf sah ich die Erinnerung an ihn, gebrochen und nach Luft ringend. Ich sah sie so deutlich, dass ich wusste, sie war für mich bestimmt. Energisch erwiderte ich: »Ich will keinen Pakt mit ihm. Mein Handel geht allein mich etwas an. Ihr habt Eure Angelegenheiten, und ich habe meine. Ich mische mich nicht in Eure ein und Ihr Euch nicht in meine.«

Ich war viel zu weit gegangen, doch dieses Bild von ihm hatte irgendetwas in mir ausgelöst. Ich wandte den Kopf ab und wartete auf ihren Zorn.

Doch sie legte mir nur eine Hand auf die Schulter, schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Spar dir deine Kraft. Wenn du bis zum Tag der Toten durchhalten willst, ohne einen Pakt einzugehen, wirst du jedes bisschen davon brauchen.«

Ich schaute ihr ins Gesicht und sah, dass sie lächelte. Sie lächelte auf eine grässliche Art, die mir zeigte, dass sie ganz genau wusste, was ich für James empfand, und wie interessant sie das fand. Wie alle höfischen Feen genoss Eleanor es sehr, interessante Dinge kaputt zu machen, vor allem solche, die sie schon einmal zerbrochen hatte.

Ich schob ihre Finger von meiner Schulter, und als ich mich wieder zu ihr drehte, war sie verschwunden.

Neue Textnachricht

An:

James

 

Du hattest recht, o.k.? Es ist nicht alles o.k., u. ich hätte dir alles erzählen sollen. Aber jetzt kann ich nicht. Was, wenn du sagst, ich soll aufhören? Wenn du mich fragst, ob ich deine sms wirklich nicht bekommen habe? Wenn du mich fragst, ob ich überhaupt weiß, was ich will? Ich hasse lügen.

 

Absender:

Dee

 

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