James
Da Sullivan mir keinen Verweis gegeben hatte, weil ich verschlafen hatte, glaubte ich, weiteren Strafen entgangen zu sein. Offenbar hatte ich mich getäuscht. Am nächsten Tag vor dem Unterricht fing Sullivan mich auf dem Flur vor dem Klassenzimmer ab.
»Ich gebe dir die Stunde frei, James«, sagte er.
Kaffeeduft kam aus dem Zimmer. »Dann werde ich Hamlet verpassen.«
»Das hat dir in der letzten Stunde auch keinen Kummer bereitet.«
»O Gott, geht es etwa immer noch um die letzte Stunde?«
Sullivan warf mir einen Blick zu, mit dem man Spiegeleier hätte braten können, und ließ meinen Arm los. »Nur indirekt. Du bekommst heute frei, weil du einen Termin bei Gregory Normandy hast.«
Das letzte Mal hatte ich den Namen Gregory Normandy in den Aufnahmeunterlagen gesehen, die die Schule mir geschickt hatte – auf einer Visitenkarte mit dem Wort »Schulleiter« darunter. Ich fühlte mich wie eine Katze, die zu einer vollen Badewanne getragen wird. »Kann ich nicht einfach eine Million Mal schreiben ›Ich werde nie wieder den Unterricht versäumen‹?«
Sullivan schüttelte den Kopf. »Welch eine Verschwendung deiner hochbegabten Finger, James. Geh zu Normandy. Er erwartet dich. Sein Büro ist in der Verwaltung. Und versuche bitte, deine sarkastischen Bemerkungen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Er steht auf deiner Seite.«
Eigentlich hatte ich mich schon auf Hamlet gefreut. Ich fand es ziemlich unfair von Sullivan, mich noch vor dem Mittagessen einer Autoritätsperson auszuliefern.
Ich fand Gregory Normandys Büro in McComas Hall, einem kleinen, achteckigen Gebäude mit Fenstern an sämtlichen Seiten. Drinnen quietschten meine Turnschuhe auf dem Parkett der achteckigen Eingangshalle. Acht Männer und Frauen in diversen Stadien des Stirnrunzelns und Haarausfalls blickten von den Porträts an den Wänden auf mich herab. Vermutlich die Gründer dieses stolzen Instituts. Es roch nach Blumen und Pfefferminz, obwohl ich weder von dem einen noch von dem anderen irgendetwas sehen konnte.
Ich las die braunen Kunststoffschilder an sieben Türen, bis ich Normandys Namen fand. Ich klopfte an.
»Die Tür ist offen.«
Ich schob sie ganz auf und blinzelte ins Sonnenlicht. Normandys Büro lag nach Osten hin, und die Morgensonne in den großen Fenstern hinter seinem Schreibtisch blendete mich. Als meine Augen sich daran gewöhnt hatten, entdeckte ich Gregory Normandy an einem Schreibtisch mit Stapeln von Papier und zwei Vasen mit Gänseblümchen. Vor allem wegen dieser Gänseblümchen war ich ein wenig überrascht, als ich feststellte, dass sein Kopf fast kahl rasiert war. Seine Arme und die Brust wirkten außerdem so muskulös, als könnte er mich mühelos zu Brei schlagen. Selbst in einem edlen Hemd mit Krawatte sah er nicht unbedingt schulleiterisch aus – es sei denn, es ginge um eine Ausbildung zum Preisboxer.
Normandys Blick blieb dicht über meinem Ohr hängen. Ich brauchte einen Moment, bis mir klarwurde, dass er die Narbe betrachtete. »Du musst James Morgan sein. Freut mich, dich persönlich kennenzulernen. Setz dich doch.«
Ich nahm ihm gegenüber Platz und versank prompt fünf Zentimeter tief in dem dicken Kissen. Durch das Fenster hinter Normandy konnte ich den Satyrbrunnen sehen. »Danke«, sagte ich vorsichtig.
»Wie findest du es bei uns hier an der Thornking-Ash?«
»Ich weiß die Möglichkeit sehr zu schätzen, jeden Abend Pizza zu bestellen«, antwortete ich.
Ich war mir nicht sicher, ob mir Normandys Miene gefiel. Es war eine wissende Miene, als hätte Sullivan ihn gewarnt, dass ich ein Klugscheißer war, oder als hätte ich irgendeine andere Erwartung erfüllt, die er an mich als Klugscheißer hatte. Das fand ich nicht angenehm.
»Nun, du hast bereits festgestellt, dass unser Sackpfeifenlehrer nicht den Anforderungen entspricht«, meinte er.
Ich dachte über mehrere Antworten nach, zuckte dann aber nur leicht mit den Schultern.
Normandy schraubte eine Colaflasche auf und trank einen Schluck daraus, ehe er sie auf seinen Schreibtisch stellte. »Weshalb du dich jetzt natürlich fragst, warum wir dich überhaupt an der Thornking-Ash haben wollen.«
»Ja, tatsächlich habe ich mich das schon gefragt. Obwohl ich mich natürlich trotzdem geschmeichelt fühle.«
»Wie kommt deiner Meinung nach deine Freundin Deirdre hier zurecht?«
Blitzartig überzog eine Gänsehaut meine Arme, und meine Stimme klang schärfer, als ich beabsichtigt hatte. »Ist sie der Grund, weshalb ich hier bin?«
Mit beiden Mittelfingern schob Normandy ein paar Unterlagen auf dem Schreibtisch hin und her, eine Geste, die eigenartig zierlich wirkte. »Was meinst du, was für eine Schule wir sind, James?«
»Eine Musikschule«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass das nicht die richtige Antwort war.
Weiterhin schob er die Papiere herum, ohne mich anzusehen. »Wir interessieren uns für Musik, so wie Ärzte sich für Fieber interessieren. Wenn sie ein Fieber bemerken, sind sie ziemlich sicher, dass es eine Infektion geben muss. Wenn wir Kinder mit herausragender musischer Begabung sehen, sind wir ziemlich sicher, dass …«
Normandy schaute zu mir auf und wartete offenbar darauf, dass ich den Satz beendete.
Stumm hielt ich seinem Blick stand. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass er tatsächlich das meinte, wovon ich glaubte, dass er es meinte. Was hatte Sullivan noch gleich gesagt – dass an den Lehrern mehr dran war, als man auf den ersten Blick vermutete?
»Was wollen Sie jetzt von mir hören?«, erkundigte ich mich.
Normandy konterte mit einer weiteren Frage. »Woher hast du diese Narbe? Die ist wirklich prachtvoll. Dein ›Unfall‹ stand in der Zeitung. Ich habe den Ausschnitt bei deinen Bewerbungsunterlagen aufbewahrt.«
Ich schluckte, und als ich sprach, merkte ich überrascht, dass ich argwöhnisch klang. »Was wollen Sie von mir?«
»Ich will, dass du mir Bescheid sagst, wenn du irgendetwas Merkwürdiges beobachtest – und ganz besonders, wenn Deirdre Monaghan etwas Seltsames mitbekommt. Wir sind aus gutem Grund hier.« Er stieß mit dem Zeigefinger auf seinen Schreibtisch, um diese Worte zu unterstreichen. »Wir wollen dafür sorgen, dass Kinder wie du und Deirdre es erfolgreich ans College schaffen. Ohne … Störungen.«
Mit den Handflächen rieb ich über meine Gänsehaut. »Warum sagen Sie mir das?«
»Mr.Sullivan hat dich spielen gehört. Er meint, du seiest gut genug, um die falsche Art von Aufmerksamkeit zu erregen. Und Deirdre habe ich selbst schon gehört, daher weiß ich, wie gut sie ist.«
Es klang seltsam, dass er sie ständig Deirdre nannte statt Dee. Wie konnte jemand, der sie nicht einmal gut genug kannte, um sie Dee zu nennen, irgendetwas von ihren Problemen wissen? »Ich sage Ihnen Bescheid«, erklärte ich. Eine lange Pause entstand. »Ist das alles?«
Normandy nickte leicht, und ich stand auf. Er blickte zu mir hoch. »Ich weiß, dass du nicht über sie sprechen willst. Und das solltest du auch nicht. Dir brauche ich nicht zu sagen, dass es nicht gut ist, offen über sie zu reden. Aber bitte sag es Patrick – Mr.Sullivan –, falls du ihn siehst.«
Ich teilte ihm nicht mit, was ich dachte. Es war nicht so, dass ich ihm nicht traute – ich traute ihm nur nicht zu, dass er hilfreich sein könnte. Die Erwachsenen, die diesen Sommer von den Feen gewusst hatten, hatten überhaupt nichts getan oder alles nur noch schlimmer gemacht.
»Danke, dass Sie sich Gedanken um uns machen«, sagte ich höflich.
Das war mein erster und einziger Besuch in seinem Büro.