James

Eleanor-vom-Himmel, du hast nicht die Wahrheit gesprochen.« Cernunnos ging am Rand unseres Kreises entlang. Wie die Toten kam auch er nicht näher, rückte aber auch nicht weiter ab. Er war in dieser Umgebung irgendwie noch beängstigender – er stand auf der Bühne, auf der ich meinen Text geübt hatte, ging an der Klavierbank vorbei, auf der Nuala und ich gesessen hatten. Er gehörte nicht hierher. Cernunnos wandte den Kopf mit dem großen Geweih nach unserem Kreis um, und ich erschrak, als ich zum ersten Mal seine Augen sah. Die Iris war leer und schwarz, umgeben von einem schwelenden roten Kreis, und Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart waren darin vermischt. In diese Augen zu schauen, das war wie zu ertrinken. Wie zu fallen. Wie ein Blick in den Spiegel. Ich schloss einen Moment lang die Augen.

»Ich spreche nur die Wahrheit«, sagte Eleanor. Sie klang ein wenig gereizt. »Ich kann gar nicht anders.«

»Du hast mir einen Nachfolger versprochen.« Cernunnos schaute in den Kreis. Ich hatte das Gefühl, dass er nur mich ansah. »Nicht drei.«

Eleanor hielt das Herz ihres Gefährten hoch. »Tja, die Dinge sind ein wenig aus dem Ruder gelaufen.« Sie sah mich an und schürzte die Lippen. »Ich nehme an, Ihr würdet uns keinen Augenblick Zeit lassen, um das in Ordnung zu bringen?«

»Die Dinge sind, wie sie sind«, gab Cernunnos zurück. »Der Kreis ist gezogen. Ich bin hier. Drei befinden sich darin, und nichts wird sich hier ändern, bis ein Nachfolger erwählt ist.«

Eleanor schloss die Augen und öffnete sie wieder. »So sei es.«

Cernunnos rief: »Ich bin der König der Toten. Ich behüte die Toten, und sie behüten mich. Ich habe mir meinen Platz hier verdient. Ich habe die Reihen der Toten gemehrt, ehe ich mich ihnen angeschlossen habe. Sind diese drei würdig? Wer unter den Toten verbürgt sich für sie?«

Die Toten regten sich, wirbelten durcheinander, arrangierten sich neu.

Ein dunkler Fleck wuchs vor uns, wie ein verschmierter Fingerabdruck, und eine Stimme drang daraus hervor. Siobhans Stimme. »Ich bin durch die Hand des Pfeifers gestorben.«

Ein geflügeltes, krabbenartiges Ding kletterte über die Stühle hinweg, und seine Augen leuchteten wie rote Lampen in seinem dunklen Schädel. »Ich bin durch die Hand des Gefährten gestorben.«

Dee schloss die Augen und drückte die Stirn an meine Schulter.

Die giftige Wolke, die Linnet war, trieb vorwärts. »Das Kleeauge hat mich ermordet.«

Ich dachte im Ernst, das müsste eine Lüge sein. Aber es erschien mir ziemlich dumm, Cernunnos zu belügen – selbst für jemanden, der bereits tot war. Ich flüsterte Dee zu: »Stimmt das?«

Sie schüttelte an meiner Schulter den Kopf. »Sie haben mich hereingelegt. Sie wussten, dass ich jemanden töten musste, damit das hier funktioniert. Sie wollten nur mein Herz, für ihn

Ich betrachtete Karre, auf dessen Stirn schillernde Schweißtropfen standen, und erkannte, was Eleanor hatte erreichen wollen. Ich stellte mir einen königlichen Gemahl vor, der zugleich ein Kleeauge und der König der Toten war – die Feen wären dann Verbündete der gierigen Macht, die Delia verschlungen hatte. Sie könnten gehen, wohin sie wollten. Auf einmal erkannte ich, welche Motivation vorhin die grüngekleidete Fee zu mir ans Feuer getrieben hatte.

»Also seid ihr alle würdig«, sagte Cernunnos. »Doch es kann nur einer herrschen.« Sein Blick blieb an Dee hängen, und mir wurde eiskalt.

Unvermittelt stieß ich hervor: »Warum braucht Ihr einen Nachfolger?«

Der gehörnte Kopf wandte sich mir langsam zu. »Ich bin müde, Pfeifer. Ich will dieses Amt niederlegen. Jahrhunderte sind vergangen, seit ich selbst in diesem Kreis stand.«

»Und so entscheidet Ihr, wer Euch nachfolgt?«, fuhr ich fort. »Wer auch immer in diesen Kreis gestoßen wird oder hineinstolpert, ist mächtig genug, sie zu beherrschen?« Ich deutete auf die wogende Masse.

»Mein Nachfolger wird es lernen«, antwortete Cernunnos, und seine Stimme klang weder zorniger noch leidenschaftlicher, als hätte ich gar nichts gesagt. »Wie ich es gelernt habe. Und mein Nachfolger wird viele Lebensspannen Zeit haben, das zu entdecken, was ich entdeckt habe.«

»Ihr glaubt also, jeder von uns könnte tun, was Ihr tut?« Ich zeigte auf Karre hinunter. »Er? Wie klug kann einer sein, der in den Kreis kommt und bereits tot ist? Und Dee?« Ich trat von ihr zurück und musterte sie. »Sie kann nicht einmal den Gedanken ertragen, dass sie jemanden getötet hat.«

»Und du?«, fragte Cernunnos.

»Ich?« Ich zeigte ihm meine mit Worten bedeckten Hände. »Ich kann mich nicht einmal selbst beherrschen, geschweige denn eine Armee von Toten. Und ich bin ein dreister kleiner Klugscheißer, der sich um niemanden außer um mich selbst schert. Da könnt Ihr jeden fragen.«

Cernunnos neigte das Geweih in meine Richtung. »Das ist nicht die Wahrheit, Pfeifer. Ich weiß, was du im Herzen trägst. Und deshalb erwähle ich dich zu meinem Nachfolger.«

Es herrschte Schweigen. Kein Laut war zu hören.

Ich ließ die Hände sinken. Sein Lied summte in meinem Kopf. Ich konnte spüren, wie tot er war, wie fremdartig, wie alt, dunkel und bitter, und all das umströmte mich.

»Nein«, flüsterte Dee. »Nicht du, James. Du hast genug für mich getan.« Sie blickte zu Cernunnos auf. »Nehmt mich an seiner Stelle.«

Cernunnos schüttelte den Kopf. »Nein, Kleeauge. Der Pfeifer hat die Wahrheit über dich gesagt.«

»Dann nehmt mich«, sagte Sullivan. Ich sah ihn langsam zu uns in den Kreis schlurfen, die Hand immer noch an den Bauch gedrückt und mit Blut beschmiert.

»Die Anzahl im Kreis kann sich nicht ändern«, erklärte Cernunnos.

»Nicht, ehe ein Nachfolger erwählt ist«, erwiderte Sullivan. Hastig trat ich über den Gefährten hinweg, um Sullivan zu stützen. Ich rechnete damit, dass er meine Hilfe zurückweisen würde, doch er lehnte sich schwer auf meine Schulter. Bei der Bewegung strömte mehr Blut zwischen seinen Fingern hervor und rann über den eisernen Ring. »Ihr habt gewählt, und nun bin ich hier. Wenn Ihr einen Nachfolger ausgewählt habt, könnt Ihr es Euch doch noch einmal anders überlegen – wer wollte Euch das verbieten? Also ändert Eure Entscheidung. Nehmt mich.«

Die rotumrandeten Augen musterten uns beide. »Weshalb sollte ich meine Entscheidung ändern, Paladin?«

»Weil ich alles bin, was James ist, aber ich sterbe.«

»Gibt es jemanden unter den Toten, der sich für dich verbürgt?«

Einen langen Augenblick zögerte Sullivan, doch dann nickte er. Außerhalb des Kreises erhob sich langsam eine dunkle, gekrümmte Gestalt, die noch immer knisterte vor Wut. Auf der anderen Seite des Gefährten verzog Dee das Gesicht.

»Ich verbürge mich für ihn«, fauchte Delia. »Er hat mir meinen Schutz geraubt. Ich bin durch seine Hand gestorben.«

Mit zitternder Hand griff Sullivan in die Hosentasche und holte drei Zweige heraus, die mit rotem Band zusammengebunden waren, genau wie das Bündel, das er mir gegeben hatte. Er drehte es vor Cernunnos hin und her, als wollte er beweisen, dass es tatsächlich Delia gehört hatte.

Ich wusste nicht so recht, ob ich wollte, dass Cernunnos es sich anders überlegte. Ich wollte nicht, dass Sullivan starb, aber das hier wünschte ich ihm auch nicht. Ich wünschte mir, dass alles vorbei wäre und er ganz normal weiterleben könnte, als hätten die Feen ihn nie angerührt. Er sollte der lebende Beweis sein, dass das möglich war.

Neben mir zuckte Sullivan krampfhaft, taumelte und stützte sich auf mich. Ich hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten, und wandte das Gesicht dem Dornenkönig zu. »Cernunnos. Bitte. Tut etwas.«

»Paladin«, sagte Cernunnos zu Sullivan. »Du bist mein Nachfolger. Ich ernenne dich zum König der Toten. Du behütest die Toten, und die Toten behüten dich. Du …«

Während Cernunnos sprach, zog Dee mich rückwärts weg von Sullivan. Ich musste einen kleinen Satz machen, um nicht auf Karre zu treten.

»Lass mich los«, fuhr ich sie wütend an, doch dann entdeckte ich, warum sie mich wegzog. Sullivan wurde dunkel, sog Licht in sich auf. Er streckte die Arme zu beiden Seiten aus, und sein dunkler Umhang wirbelte auf und breitete sich um ihn aus. Er senkte den Kopf. Kränklich hörte ich Cernunnos’ Lied in meinem Kopf heulen, und es drehte mir den Magen um. Ich wollte nicht sehen, wie ein Geweih aus Sullivans Haar spross.

Doch das geschah nicht. Wir alle wichen immer weiter vor ihm zurück, sogar Cernunnos. Wir gaben ihm mehr Raum und beobachteten, wie er da mit ausgebreiteten Armen und gesenktem Kopf stand.

Dann, von einem Augenblick zum anderen, breiteten sich gewaltige dunkle Schwingen hinter ihm aus. Er hob den Kopf und öffnete die Augen.

Das waren immer noch seine Augen.

Ich stieß die Luft aus, die ich unbewusst viel zu lange angehalten hatte.

Auf Sullivans anderer Seite brach Cernunnos den Kreis, indem er mit dem Fuß etwas Asche beiseiteschob. In der Sekunde, als der Kreis geöffnet war, stürzten sich die Toten auf uns. Jeder dunkle Schemen im Saal kroch, flog oder wankte auf die Lücke im Kreis zu, und Delia führte alle an.

Sullivan sagte sehr leise: »Halt.«

Und sie hielten inne.

Er wandte sich mir zu. Ich bemühte mich, nicht auf die Flügel zu starren. Abgefahren. »James«, sagte er mit seltsamer, rauher Stimme. »Du und Deirdre kehrt zu den Herbstfeuern zurück. Niemand wird euch anrühren.«

Bei den letzten Worten sah er Eleanor an. Ihr Mund bildete ein kleines, umgekehrtes U, so fest presste sie die Lippen zusammen. »Wie Ihr befehlt.«

Hinter Sullivan stieg Cernunnos die Treppe hinunter und ging durch den Saal auf die Tür zu. Er hatte seine Bürde abgelegt, dachte ich, für ihn war hier Schluss. Wer konnte wissen, wohin er ging? Oder woher er gekommen war? Vielleicht war er einmal ein ganz normaler Kerl gewesen, wie ich oder Sullivan.

»Sullivan …«, sagte ich und richtete den Blick von seinen Flügeln auf sein Gesicht.

»Beeil dich«, herrschte er mich an und klang nun eher wie der Sullivan, den ich kannte. »Es ist Halloween, und ich bin der König der Toten. Ich will dich nicht töten. Geh.«

»Danke«, sagte ich, und diesmal fühlte es sich nicht mehr so seltsam an, das auszusprechen.

Ich nahm Dees Hand, und wir rannten los.