Nuala
Wir tanzen, wir tanzen
Du hältst meinen Seelenfaden
Du drehst dich, du drehst dich
Und wickelst den Teil vom Ganzen ab
Wir lachen, wir lachen
Ich bin dem Anfang schon so fern
Ich falle, ich falle
Und ich vergesse, dass ich bin.
Aus Die Goldene Zunge:
Gedichte von Steven Slaughter
Zum zweiten Mal suchte ich den Feentanz hinter der Thornking-Ash auf. Sobald ich in den Feenring trat, wich die scharfe Kühle der Oktobernacht der Hitze von tanzenden Leibern und Feenlichtern. Die aufpeitschende Musik erfasste sofort meinen müden Körper, zog mich hierhin und dahin und löschte jeden Gedanken bis auf einen aus: Tanze.
Wie immer bewegte ich mich auf die Musikanten zu und beobachtete die Muster, denen ihre Körper folgten, während sie Fiedeln, Flöten und Harfen die Melodie entlockten. Ich blieb neben ihnen stehen, schwankte leicht und ließ die dröhnende Trommel den Schlag meines Herzens leiten. Dann wandte ich mich um und betrachtete die zahllosen Feen auf dem Hügel. Ich hatte es für eine gute Idee gehalten, hierherzukommen, weil solche Feste die Zungen lösten und Prahler ermunterten. Doch als ich nun hier war, erstarrte ich angesichts der schieren Anzahl von Tänzern und der ungeheuren Aufgabe, die vor mir lag.
Eine Hand schob sich in meine und riss mich von den Musikanten fort. Taumelnd drehte ich mich um und sah einen der Daoine Sidhe, dessen Gesicht und Haar so leuchtend blass waren wie die Unterseite eines Blattes. Ich versuchte mich loszureißen, und mein Magen verkrampfte sich.
»Halt«, sagte er, und eine weibliche Daoine Sidhe erschien an seiner Seite. Sie trug ein Ballkleid, dessen Rock aufgerissen war und mit Ketten bedeckte Cargohosen enthüllte. Derjenige, der mich festhielt, fuhr fort: »Ich wollte mich nur vergewissern, dass du es wirklich bist. Ich hielt dich für tot.«
Mit der freien Hand zerrte ich an seinen Fingern. »Und wie kommst du darauf?«
Er beugte sich vor. »Ich dachte, du wärest auch ermordet worden. Wegen deines Umgangs mit Menschen.«
Die Frau schräg hinter ihm zog sich den Zeigefinger quer über den Hals, nur für den Fall, dass ich die Bedeutung des Wortes »ermordet« nicht verstanden haben sollte.
Ich hörte auf, mich gegen ihn zu wehren. »Wer seid ihr?«
Die Frau sagte: »Una. Und das ist Brendan.« Und dann lachte sie, als sei das irgendwie lustig.
Ich kniff die Augen zusammen. »Und weshalb, bitte sehr, interessiert ihr euch für mich?«
Brendan blickte zu den anderen Feen um uns herum.
»Tanz mit uns«, meinte Una, nahm Brendan bei der Hand und bot mir die andere dar.
»Du hältst meine Hand zu fest«, fauchte Brendan sie an, doch er ließ mein Handgelenk los und drehte die Hand als Aufforderung zum Tanz um. Als ich zögerte, fügte er hinzu: »Es geht um den Pfeifer.«
Ich nahm seine Hand.
Wir drei wirbelten in den Tanz hinein, bildeten einen Kreis innerhalb eines Kreises, und Una ließ meine Hand gerade lange genug los, um mit einem Finger über uns herumzuwedeln. Einen Augenblick lang sah ich einen schimmernden Kreis in der Luft über uns, der uns schließlich wie ein leichtes Spinnennetz umgab, als Una wieder meine Hand ergriff.
Ein seltsames Gefühl überkam mich: Es war, als würde mir der Klang der Musik aus den Ohren gepresst, bis er nur noch ein schwaches Summen im Hintergrund war.
»Wir wollen doch nicht, dass uns jemand belauscht«, sagte Una. »Bleib hübsch im Takt, sonst fallen wir auf. Und bewundere mein Können, Leanan Sidhe.«
»Das ist beeindruckend«, versicherte ich ihr. »Was ist also mit dem Pfeifer?«
»Es dreht sich gar nicht um den Pfeifer«, entgegnete Brendan. »Das hat sie nur behauptet, damit du mitkommst. In Wahrheit geht es um die Toten.«
»Womit es sich nun doch wieder um den Pfeifer dreht, weil er bald tot sein wird«, setzte Una mit strahlendem Lächeln hinzu. »Und du auch. Also dreht es sich ebenso sehr um dich.«
»Zuerst musst du uns sagen, wem du die Treue hältst«, erklärte Brendan. »Der Fee in dir oder deiner menschlichen Seite?«
»Und keine Tricks«, warnte Una mich.
Ihre Hände umklammerten meine fest, während wir uns im Tanz drehten. Ich fühlte mich gefangen. Ich konnte nicht lügen, aber ich konnte ihnen auch nicht die Wahrheit sagen. Was würden diese Feen tun, wenn sie wüssten, was ich empfand? Mein Schweigen fühlte sich an wie ein Schuldeingeständnis.
Mit einer besonderen Befriedigung musterte Brendan mein Gesicht. »Gut. Ich hatte gehofft, dass du den Pfeifer liebst. Die Daoine Sidhe hegen eine gewisse Schwäche für die Menschen, doch diesmal brauchen wir sie. Du bist so menschenähnlich, wie es eine Fee nur sein kann, und deine Liebe zu ihm gibt mir noch mehr Gewissheit – wir können also darauf vertrauen, dass du dich auf ihre Seite stellst.«
Meine Stimme klang barsch. »Was wollt ihr von mir? Ich sterbe ohnehin. Ich habe keine Lust, den Dienstboten für euch zu spielen.«
»Unsere neue Königin …« Bei diesem Wort klang Brendans Stimme ziemlich giftig. »… fühlt sich gestört dadurch, dem menschlichen Kleeauge folgen zu müssen, wohin es ihm zu gehen beliebt. Es gibt Gerüchte, dass sie sich mit den Toten verbünden will, um die Macht des Kleeauges zu brechen. Allerdings weiß ich nicht, mit welch finsterer Magie sie das zu erreichen gedenkt.«
»Aber du kannst sicher sein, dass Blut dazu nötig sein wird«, bemerkte Una. »Viel, viel Blut!«
»Ja«, stimmte Brendan zu. »Menschenblut. Menschliche Verluste. Keine auf Seiten der Daoine Sidhe.«
»Was interessiert euch das? Wo ihr doch für Menschen nur eine gewisse Schwäche habt?«, wollte ich wissen.
»Es ist eine Sache, frei zu sein«, erklärte Brendan. »Und eine ganz andere, den einen Herrn gegen den anderen auszuwechseln. Sollen wir denn das Kleeauge gegen den gehörnten König eintauschen und unsere Verbindung zu den Menschen verlieren, um zu werden wie die verlorenen Seelen und dunklen Feen, die er bereits beherrscht? Es ist wahrlich schon schwer genug, Eleanor überhaupt zu folgen, auch wenn sie uns nicht an jenen finsteren Ort führt.«
Da konnte ich nur zustimmen. »Und was wollt ihr von mir?«
»Schütze das Kleeauge«, sagte Brendan. »Gib an Halloween auf sie acht.«
Das war genau das, was ich an meinem letzten Tag in diesem Leben tun wollte: den Babysitter für Dee spielen.
»Ich fürchte, ich werde ein wenig abgelenkt sein«, erwiderte ich barsch. »Ich werde brennen, schon vergessen?«
»Dazu ist ja der Pfeifer da«, erklärte Brendan. »Sag es ihm. Er liebt sie.«
Ich stolperte. Una zog mich wieder hoch. Um uns herum schienen sich die Tanzenden schneller zu drehen, die Musik klang fieberhaft drängend. Während wir herumwirbelten, erhaschte ich einen Blick auf Eleanor und ihren Gemahl, die den Kreis betraten, und die Luft erzitterte vor ihrer Schönheit. Als Eleanor nicht hinsah, schaute ihr Gefährte sie an, und in diesem kurzen Moment wirkte er verängstigt.
Ich stolperte erneut.
»Sie kann nicht mehr tanzen«, meinte Una zu Brendan.
»Ich entscheide selbst, wann ich genug habe«, fuhr ich sie an. »Das weiß niemand außer mir.«
Doch sie ließen meine Hände los, und die Musik brandete wieder in meinen Ohren auf, lauter als zuvor.
Ich wirbelte davon, denn ohne die beiden war ich leichter. Die Tänzer machten Platz für mich, während ich für mich allein tanzte. Der Trommelschlag pulsierte in meinen Adern, aufpeitschend, im Gleichklang mit meinem Herzen. Ich erlaubte mir ganz kurz, mir vorzustellen, James wäre hier im Kreis und tanzte mit mir. Sobald ich den Gedanken einmal gefasst hatte, konnte ich ihn nicht wieder loslassen, und die Vorstellung von ihm – von seinen sonnengebräunten Armen um meine Taille, von seinem sicheren, heißen Körper an meinem, von seiner kratzigen Wange an meiner glatten Haut – erfüllte mich mit einem so feurigen Verlangen, dass ich kaum mehr atmen konnte.
Es war wie in einem Wachtraum. Die dumpfen Trommelschläge versprachen endloses Tanzen und ewiges Leben, und ich schloss die Augen und gab mich dem Tagtraum hin. James’ Finger pressten sich an die nackte Haut in meinem Kreuz, während wir herumwirbelten, und ich schien zu brennen. Sein Geruch nach Leder und Seife, seine Stirn an meiner Stirn, seine Hüften an meinen, unsere Körper, die sich wie ein nahtloses Ganzes, wie ein einziges Instrument bewegten, wogten, sprangen, sich drehten. Die Musik trieb uns an und drängte tanzt tanzt tanzt, und mein Körper schrie gellend nach mehr mehr mehr.
Ich wusste nicht mehr, ob die Welt sich drehte oder ich mich.
Ich wollte es. Ich wollte ihn hier haben, wollte mit ihm tanzen, so sehr, dass ich beinahe seine Stimme hören konnte.
Nuala.
Nuala. Mach die Augen auf.
Der Hügel wurde dunkel. Die Nacht überwältigte den Schein der Feenlichter. Die Musik verklang. Ich konnte nur noch die Trommel hören, die pochte wie mein Herz.
Verdammt, Nuala.
Ich konnte Sterne über mir sehen, und nun konnte ich ihn sogar riechen, seinen Dudelsack, seinen Atem und seine Haut.
Nuala, sag mir doch, was ich tun soll. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Sag mir, wie ich dir helfen kann.
Ich konnte nur an eines denken: Wenn er früher gekommen wäre, hätten wir miteinander tanzen können.
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An:
James
Ich kann nicht glauben, dass ich jemanden getötet habe. Ich bin eine mörderin. U. was hat luke getan? Mit den schultern gezuckt. Ich habe mich die ganze zeit selbst belogen. Der echte luke ist nicht mehr da, u. ich hab versucht, ihn trotzdem zu lieben. Er wusste, was mit mir passieren wird, u. hat es nicht verhindert.
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Dee
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An:
James
O gott, das war gar nicht luke. Das war die ganze zeit jmd. anderes. Was soll ich jetzt machen?
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Dee
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An:
James
Der mensch, dem ich vertrauen kann, war die ganze zeit vor meiner nase. Ich habe ihm viele sms geschrieben u. keine abgeschickt. Wie diese, die ich auch nie schicken werde. Jetzt ist es zu spät, u. ich will nicht, dass du das ertragen musst. Ich kann sie hören. Sie kommen. Ich liebe dich.
Absender:
Dee
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