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Auf der Landmauer, Konstantinopel

Sie brauchten nicht lange zu warten. Wieder ging über sie ein Geschosshagel hernieder. Alexios sah es seinen Männern an, dass sie erschöpft waren. Natürlich versuchte Mehmed, die Verteidiger der Stadt zu ermüden, bevor er seine besten Truppen schickte. So ging er von Mann zu Mann und sprach ihnen Mut zu. Dem einen sagte er, dass er für seine Familie kämpfe, dem Nächsten versicherte er, dass nur noch ein einziger Angriff abzuwehren wäre. Er sprach mit jedem, so wie er es brauchte.

Nach den Geschützen setzte die Musik der Türken mit nie gehörter Lautstärke ein, und die Kirchenglocken der Stadt hielten tapfer dagegen. Die Janitscharen marschierten stoisch in Reih und Glied. Ihre Harnische blinkten im Sonnenlicht und blendeten die Verteidiger. Präzise stellten die Elitetruppen ihre Sturmleitern an und rissen mit großen Haken die Palisaden ein.

Wieder eilte Alexios die Treppen hinunter. Wieder kämpfte er an der Palisade. Der Kaiser stieß zu ihm. Ihre Bemühungen schienen belohnt zu werden. Die Janitscharen erlahmten.

Da kam Giovanni Giustiniani Longo, gestützt von zweien seiner Leute, die Treppe heruntergeschwankt. Aus seinem Brustharnisch ragte ein Bolzen, um den herum Blut heraussickerte.

»Wo wollt Ihr hin?«, fuhr ihn der Kaiser an. Alexios erschreckte der triefende Blick des Genuesen, der zu kämpfen verstand wie kein Zweiter. Jegliche Kühnheit war aus ihm gewichen.

»Ich bin verwundet. Es ist aus. Lasst mich gehen!«, brachte er müde hervor.

»So schlimm ist die Verwundung nicht. Auf Euren Posten, Giustiniani!«, herrschte ihn der Kaiser an.

»Ich habe Euch geholfen, so gut ich konnte. So entlasst mich jetzt aus Euren Diensten. Es ist vorbei!« Er machte seinen beiden Helfern ein Zeichen und ging auf sie gestützt Richtung Hafen, um sich nach Galata übersetzen zu lassen. Als die Genuesen merkten, dass ihr Anführer sie verließ, machte sich unter ihnen Verunsicherung breit. Einige hatten ihre Posten schon verlassen. Bevor der Kaiser eingreifen konnte, meldete ihm ein Bote, dass der Feind durch die Kerkoporta eingebrochen sei. Dies war eine kleine Ausfallpforte, die sich an der Ecke der Mauer von Blachernae befand, kurz bevor diese an die Landmauer stieß. »Kommt, Alexios!«, rief Konstantin und stieg auf sein Pferd, während der Fürst sich auf das Ross des Boten schwang. So schnell es ging, ritten die beiden Männer an der Mauer entlang zu der Pforte. Immer mehr Janitscharen drangen durch die Kerkoporta. Sie kamen zu spät. Jemand musste den Türken die Pforte geöffnet haben. »Wenn wir zugrunde gehen, dann durch Verrat!«, rief Alexios dem Kaiser zu.

Konstantin wendete sein Pferd, um zum Lykos-Tal zurückzureiten. Doch dort brach vor seinen Augen die Verteidigung zusammen. Flüchtende Genuesen retteten sich durch ein Tor in der Innenmauer, aber auch in Panik geratene Griechen folgten ihnen. Sie drängten und stießen andere zurück, um sich retten zu können, während die Türken über die Mauer setzten. Schließlich gelang es einem Hünen von Türken, die Palisadenwand einzureißen, und nun strömten die Janitscharen in großer Zahl herein.

Während die Soldaten durch die Pforte flohen, verteidigte der Kaiser gemeinsam mit seinem Schwager Theophilos, mit Alexios Angelos und dem Katalanen Don Francisco de Toledo die Pforte eine Stunde lang gegen die anstürmenden Türken. Dann rief Konstantin seinen Gefährten zu: »Es ist vorbei!«, und ging dem Feind entgegen, Theophilos folgte ihm mit dem Ruf: »So will ich nicht länger leben!« »Nun ja«, sagte der Katalane, spuckte aus und schritt hinter den beiden her. Alexios blieb einen Moment stehen, als er sah, wie zehn Türken sich auf Konstantin warfen und es einem von ihnen gelang, den Kaiser zu enthaupten. Er wusste nicht, wen er getötet hatte, denn er warf den Kopf achtlos weg und kämpfte weiter. Noch gab es Konstantinopel, aber es hatte keinen Kaiser mehr, fuhr es Alexios durch den Kopf. Er drängte sich durch die Pforte, sprang auf das Pferd und ritt in Richtung der Paläste. Unterwegs fiel ihm eine alte Prophezeiung ein. Wenn die Not am größten sei und die Feinde die Stadt stürmen würden, dann gelänge es ihnen, bis zur Säule des Kaisers Justinian, die unweit der Hagia Sophia im Augusteion stand, vorzudringen. Dort käme aber ein Engel mit glühendem Schwert vom Himmel und würde Tod über den Feind bringen und die Stadt befreien, so hieß es. Engel … Angelos? Lautete nicht so sein Name? War ihm nicht prophezeit, die Kaiserkrone zu tragen? Alexios stürmte in den kaiserlichen Palast, den er verlassen vorfand, ohne Diener und Besucher. Schnellen Schrittes durcheilte er den Audienzsaal, warf einen flüchtigen Blick auf das Bild, das die Schlacht von Berat darstellte, in der Kaiser Michael VIII. gesiegt hatte, und erreichte so die Garderobe des Kaisers. Dort nahm er einen Purpurmantel und eine Krone; in der Waffenkammer des Kaisers suchte er sich einen Brustharnisch, Arm- und Beinschienen, die mit dem Doppeladler verziert waren, und ein Schwert. Noch kam nicht alle Rettung zu spät! Er, Kaiser Alexios aus dem Geschlecht der Engel, würde die Stadt retten! Also hatte der Hermaphrodit damals nicht gelogen. Nun war er der Kaiser der Rhomäer.

In diesem Bewusstsein verließ er die Residenz und ritt zu seinem Palast. Frau und Tochter setzte er vor sich auf das Pferd, dann trieb er das Tier zu höchster Eile an. An der Seemauer entlang ritten sie zum Neorion-Hafen. Die ersten türkischen Seeleute landeten bereits jenseits der Mauer, denn auch hier war in der allgemeinen Panik die Verteidigung zusammengebrochen. Im Hafen traf er auf den venezianischen Kapitän Alviso Diedo, der gerade ablegte. »Wo wollt Ihr hin?«, fragte Alexios ihn ruhig.

»Es ist vorbei. Wir laufen aus. Nach Hause. Nach Venedig, verzeiht, Herr«, sagte der Kapitän bekümmert.

»Bringt meine Frau und meine Tochter nach Epiros zu Thomas Palaiologos«, bat er ihn.

»Dann steigt ein!«, sagte Diedo.

»Kann ich mich auf Euch verlassen?«

»Ja, bei meiner Ehre.«

»Ich danke Euch, trefflicher Diedo.«

Zoë umklammerte ihren Vater. »Komm mit, komm mit, sonst fahre ich auch nicht!«, rief sie. Sanft, aber bestimmt machte er sich von ihr los. »Versprich mir, meine Prinzessin, dass du mir alle Ehre machen wirst, versprich es mir.«

»Wir müssen, Herr«, drängte Diedo.

»Ich will dich nicht verlieren, ich brauche dich doch, Papa!« Das Mädchen schaute zu seiner Mutter, obwohl es kaum noch etwas sah, weil die Welt in Tränen verschwamm. »Warum sagst du denn nichts?«

»Weil dein Vater es so beschlossen hat. Und weil ein Angelos die Stadt nicht verlässt, nicht im Guten, nicht im Schlechten.« Ioanna sah auf seine Kleidung und ging auf die Knie: »Kaiser Alexios!«

Er bat sie aufzustehen und umarmte sie zum Abschied. Erst hob er Zoë, dann Ioanna an Bord. Während die Matrosen das Schiff vom Ufer abstießen, schwang sich Alexios in den Sattel und zog das Schwert heraus. Noch einmal winkte er Frau und Tochter, dann trieb er sein Pferd an.

Wenige Minuten später erreichte er die Säule des Justinian. Auf dem Platz standen Menschen, zum Teil bewaffnet, aber mit erloschenen Augen und gesenkten Häuptern. Einer entdeckte ihn und rief voller Begeisterung: »Der Kaiser!« Ein Raunen ging durch die Menge.

»Was macht ihr hier, und warum seid ihr bewaffnet?«

»Wir wollen nicht in die Sklaverei verkauft werden! Wenn es noch Rettung gibt, dann hier, wie es in der Legende heißt.«

»Dann kämpft mit mir, siegt mit mir, sterbt mit mir!« Ein Alter sah zu ihm auf. Seine Gesichtszüge gerieten in Verzückung. »Der Engel des Herrn.«

Eine Janitscharenabteilung, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Hagia Sophia zu entweihen und zu plündern, drängte auf den Platz.

»Nun gilt es!«, rief Alexios und sprang vom Pferd. Bewaffnet oder nicht, sie folgten ihm alle. Schon erschlug er den ersten, dann den zweiten, schließlich den dritten Türken, wobei die Überraschung ihm half. Ein griechischer Junge, ein Greis und ein Mädchen nahmen sich die Säbel der Toten. Nur aus den Augenwinkeln nahm Alexios wahr, wie ein Grieche nach dem anderen fiel. Die meisten von ihnen besaßen keine Ausbildung. So hatten die Elitesoldaten des Sultans leichtes Spiel. Nur mit ihm nicht, mit Alexios Angelos. Mit der Präzision eines Gebetes tötete er einen Feind nach dem anderen. Die bedrängten Türken riefen nach Verstärkung. Schließlich legten zehn Bogenschützen auf den Fürsten an. Aber ihre Pfeile prallten am Panzer ab. Sie holten Armbrustschützen, christliche Mietsoldaten. Der erste Bolzen durchstieß den Harnisch im Rücken, der zweite in Brusthöhe. Alexios spürte den dumpfen Schlag und den Druck, wie damals beim Turnier gegen Hunyadi. Er stolperte. Ein Janitschar mit dem Gesicht eines griechischen Bauern glaubte, dass Alexios Angelos das letzte Leben verröchele, und wollte ihn enthaupten. Das wurde ihm zum Verhängnis. Denn der Fürst richtete sich auf, schleuderte ihm den Säbel aus der Hand und rammte ihm das Schwert in die Kehle, dass ihm die Augen aus den Höhlen traten. Dann erschlug er den Mann, der danebenstand. Wieder traf ein Bolzen, diesmal ins rechte Bein. Alexios stürzte zu Boden. Die Angreifer wagten nicht, sich ihm zu nähern. Der nächste Bolzen traf ihn in den Hals und schleuderte ihn nach hinten. Mühsam kam er röchelnd und nach Luft japsend wieder auf die Knie. Da sah er ihn. Auf einem Strahl reinen Lichts kam der Erzengel Georg herab. Er reichte ihm die Hand, und die Bolzen flogen aus seinem Körper und die Wunden schlossen sich. Gemeinsam verjagten sie die Türken aus Konstantinopel, aus Rumelien und aus Anatolien. Die Herrscher der Erde erkannten seine Oberherrschaft an. Alexios aber regierte mit Weisheit, sodass ein jeder Mensch geachtet wurde und niemand Hunger und Not leiden musste im Reich der Rhomäer. Er verfügte, dass die Bankiers und Wechsler neue Berufe lernen mussten, und er kontrollierte die Händler. Zur Rechten beriet ihn Georgios Plethon, zur Linken ein Mann, der sich Platon nannte. Otto von Weißenburg, den er dringend verheiraten musste, sang schöner denn je. So erstand in der Stunde seiner größten Erniedrigung das Reich der Rhomäer neu und wurde groß und mächtig, nicht durch Krieg, nicht durch Betrug, nicht durch Verrat, sondern durch Gerechtigkeit.

In ihrer Wut zerhackten die Janitscharen den Leichnam des Fürsten, der so viele der Ihren getötet hatte und den sie nur durch Armbrustbolzen zu Fall hatten bringen können.

Der Weg zur Hagia Sophia stand offen. Als sie den mit Menschen gefüllten Kirchenraum betraten, entdeckten sie einen Mann in der Kutte eines Mönches, der eine Ikone – den fehlenden Stellen in der Ikonostase nach zu urteilen nicht die erste – abnahm und mit ihr verschwand. In der Wand, einfach so. Es kam ihnen wie Spuk vor, deshalb verfolgten sie ihn nicht. Demetrios, der mit der Rettungsikone nicht fertig geworden war, hatte beschlossen, die Ikonen der Bilderwand zu verstecken, um sie vor Plünderung, Entweihung und Zerstörung zu bewahren. Er kannte die geheimen Ausgänge der Kirche, deshalb glaubten die Türken, dass er in der Wand verschwunden sei. Zu seinem Leidwesen konnte er keine weitere Ikone mehr retten, denn jetzt hausten die Sieger in der Hagia Sophia.