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Auf der Landmauer, Konstantinopel
Alexios verließ seinen Abschnitt der Wehrmauern nicht mehr. Zweimal am Tage kamen die Frauen und Kinder, fromme Lieder singend, zu den Stellungen und versorgten die Kämpfer – ihre Väter, Brüder und Söhne – mit Speis und Trank. Der Fürst freute sich auf diesen Moment des Friedens, wenn er Ioanna und Zoë sah. Stets suchte er seine Frau davon zu überzeugen, die Stadt zu verlassen, doch Ioanna bestand darauf, bei ihrem Mann zu bleiben.
Mit Kanonen und Wurfgeschossen feuerten die Belagerer auf die Stadt. Doch die Verteidiger nutzten die Nacht, um die Mauern wieder auszubessern und die Gräben, die von den Türken zugeschüttet wurden, erneut auszuheben. So kamen sie nicht zur Ruhe. Doch in Alexios regte sich Hoffnung, als er sah, wie geschickt Giustiniani, auf dessen Abschnitt der Hauptangriff der Türken prallte, die Verteidigung organisierte. Die Türken gruben Tunnel, Giustiniani ließ Gegentunnel ausheben, um die Türken mit Feuer zu erwarten.
Loukas Notaras verteidigte mit Diedo die Einfahrtssperre in das Goldene Horn gegen die gesamte türkische Flotte. Es gelang sogar einem großen kaiserlichen Versorgungsschiff, das ein gewisser Flatanella führte, im Zusammenwirken mit drei genuesischen Trieren im Kampf gegen sechzig türkische Kriegsschiffe das Goldene Horn zu erreichen. Loukas ließ die Kette einholen, schickte seine Schiffe als Empfangsschutz entgegen und holte die vier Schiffe sicher ins Goldene Horn, bevor er die Kette wieder schließen ließ und seine Schiffe hinter der Kette erneut in Stellung brachte.
In diesen Tagen erreichte ihn ein Bote von Halil Pascha, der ihm ausrichten ließ, dass der Sultan der Verzweiflung nahe sei, weil es ihm nicht gelang, den Widerstand der Verteidiger zu brechen. Jeden Tag wurde die Stadt beschossen, jeden Tag griffen die Landtruppen an, doch außer großen Verlusten erreichten sie nichts. Die Stimmung im Heer des Sultans kippte. Wenn sie noch wenige Tage durchhalten würden, dann gingen sie als Sieger aus dem Kampf hervor.
Loukas informierte den Kaiser, der diese Botschaft auf den Mauern und in den Kirchen verlesen ließ. Als der Großadmiral zu seinen Stellungen zurückkehrte, verschlug es ihm die Sprache. Mehmed hatte eine Art Seilbahn gebaut, mit der er seine Schiffe, die im Bosporus lagen, über den gegenüberliegenden Hügel, nordwestlich im Bereich der süßen Quellen, transportieren ließ. Und um die Griechen zu narren, erlaubte er sich den Scherz, dass die Schiffe mit gesetzten Segeln über die Bergkuppe transportiert wurden, so als führen sie im Wasser.
Loukas rief Trevisano und seine Kapitäne zusammen, um zu beraten, was zu tun sei. Giacomo Coco, ein Kapitän, den Loukas gut kannte, schlug vor, dass zwei große Lastschiffe vorausfahren sollten, die mit Baumwollballen gegen den Beschuss gesichert wären. Zwei große Galeeren mussten diesen Schiffen Begleitschutz bieten, gefolgt von zwei kleineren Ruderbooten, die sich im Schutz der großen Schiffe den türkischen Schiffen zu nähern hatten, um diese in Brand zu stecken. Trevisano hieß den Plan gut, bat aber um ein paar Tage, um die Schiffe entsprechend vorzubereiten.
»Wir dürfen keine Zeit verlieren«, hielt Coco dagegen.
»Wir brauchen die Zeit«, blieb Trevisano hart, und Loukas gab ihm recht.
Zwei Tage später machten Francesco Draperio und zwei weitere Genuesen, die Loukas nicht kannte, ihm Vorhaltungen, dass die Venezianer diesen Anschlag allein durchführen und den ganzen Ruhm ernten würden.
»Wir verlangen, beteiligt zu werden!«, forderte Draperio unmissverständlich, und Loukas gab nach, denn er wollte den ohnehin brüchigen Frieden zwischen den Genuesen und Venezianern nicht gefährden.
So gingen noch einmal zwei Tage ins Land, bis die Genuesen ihr großes Handelsschiff vorbereitet hatten, denn nun sollten ein venezianisches und ein genuesisches Schiff voranfahren.
An einem Sonnabend, kurz vor Morgengrauen, stand Loukas auf der Seemauer und beobachtete die Ausfahrt der Schiffe. Sie hatten das Goldene Horn fast durchquert und die türkischen Schiffe erreicht, als er das kurze Aufblinken eines Lichtes von einem Turm von Galata aus entdeckte. Wenig später geriet die kleine Flotte unter heftigen Beschuss. Loukas stockte der Atem. Sie waren verraten worden! Ihm dämmerte, dass kein anderer dahinterstecken konnte als Francesco Draperio, mit dem er so lange zusammengearbeitet und dem er doch niemals vertraut hatte. Warum diesmal? Er hätte wissen müssen, dass Draperio nur seinem Gewinn verpflichtet war. Und diesen hoffte er nun bei Mehmed zu finden.
Der Kaiser in voller Rüstung, über die er den Purpurmantel trug, mit einem Helm, an den eine Krone geschmiedet war, stand neben Loukas Notaras und beobachtete die Hinrichtung der gefangenen Matrosen. Er wandte sich zu einem seiner Gardisten. »Lass als Antwort zweihundert von ihren Gefangenen vor ihren Augen hinrichten.« Dann trat er auf Loukas zu. »Wir haben das Goldene Horn verloren.« Und es klang, als ob der Krieg verloren war. Tatsächlich nahmen die Kämpfe und die Heftigkeit der Angriffe in den nächsten Tagen zu.
Dann blieb es einige Tage überraschend ruhig, doch Alexios wusste nur zu gut, was das zu bedeuten hatte. Am Vormittag des 28. Mai 1453 verließ er die Mauern, um Frau und Kind zu besuchen. Sie saßen zusammen, um Erinnerungen auszutauschen. Ihm schien, dass sie kaum angefangen hatten zu erzählen, da läuteten alle Glocken Konstantinopels Sturm. Er blickte in gleißenden Sonnenschein, der die Verteidiger blendete. So viel erkannte er schon, dass im türkischen Lager eine große Unruhe entstanden war. Die Kanone des Sultans wurde abgefeuert und riss ein Loch in die Mauer. Alexios befahl, es so schnell als möglich zu schließen. Giustiniani tauchte neben ihm auf. »Es geht los, Herr Fürst. Wenn wir diesen Angriff überstehen, haben wir es geschafft«, sagte der Genuese.
»Mit Gottes Hilfe schaffen wir es«, antwortete der Fürst und schlug Giustiniani freundschaftlich vor den Brustpanzer. Schatten kam von den heranfliegenden Geschossen. Die Türken schossen mit allem, was sie hatten. Ihre Musiker stimmten einen heillosen Lärm an, und die Truppen gingen mit Strickleitern, fahrbaren Belagerungstürmen und Sturmleitern zum Angriff über.
Immer wieder duckte sich Alexios vor den Geschossen, dann streckte er sich wieder und schlug mit dem Schwert auf Hände und Köpfe von Türken, die versuchten, die Mauer zu überwinden. In seiner unmittelbaren Nähe überwanden sie die Verteidiger. Alexios griff sofort drei Türken an, die versuchten, den kleinen Brückenkopf für nachstürmende Soldaten zu halten. Er erstach den Ersten, zertrümmerte dem Zweiten das Brustbein und enthauptete den Dritten. Er wollte die Janitscharentechnik nur einmal ausprobieren. Die Türken zogen sich schließlich zurück. »Wir haben’s überstanden«, murmelte ein gutmütig aussehender Mann neben ihm, dem der Brustharnisch nur schlecht stand und der in seiner Pausbäckigkeit eher an einen Bäcker erinnerte, und atmete erleichtert aus. Mit einer Mischung aus Rührung und Stolz auf diesen einfachen Mann, der das Kriegshandwerk nie erlernt hatte und dennoch seine Stadt verteidigte, sagte er: »Das waren erst die Hilfstruppen, es ist noch nicht vorbei!« Der Fürst hatte kaum ausgesprochen, als der Beschuss erneut begann. Ein gewaltiger Knall zerriss die Nacht. Kurz darauf bebte die Erde, und Holz flog ihnen um die Ohren. Mehmeds große Kanone hatte ein breites Loch in die Palisadenwand gerissen, durch die Türken strömten. Schon erhob sich ihr Ruf. »Die Stadt ist unser!«
Alexios rannte die Treppe der Wehrmauer hinunter. Unten traf er auf den Kaiser und seine Garde, die sich sofort auf die hereinflutenden Türken stürzten. Es gelang ihnen schließlich, die Feinde zurückzudrängen. Konstantin und Alexios nickten einander zu. Dann lief der Fürst die Treppe wieder hinauf, während er den Kaiser noch befehlen hörte, dass die Halbwüchsigen und die Alten das Loch wieder schließen sollten. Wäre Alexios nicht so oft die Treppe hinauf und hinab gerannt, wäre er in der Dunkelheit sicher gestürzt, doch inzwischen kannte er den Weg im Schlaf.
Sie hatten den zweiten Angriff überstanden. Nun hatte Mehmed nur noch seine Janitscharen, die er noch nicht in den Kampf geschickt hatte. Eine Angriffswelle mussten sie noch überstehen, nur noch ein einzige. Es grenzte fast an ein Wunder. Hatte Gott ein Einsehen mit ihnen?
Das zarte Morgenrot, das die Stadt vom Hinterland her wie ein Heiligenschein umgab, versprach schönes Wetter. Das war jedoch das einzig Gute, was man über den anbrechenden Tag, den 29. Mai 1453, sagen konnte.