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Notaras-Palast, Konstantinopel

Solange er seine Mutter und Demetrios trösten konnte, schützte ihn das Gefühl, dass nicht ihn, sondern nur die anderen dieser Schlag getroffen hatte und es seine Pflicht war, ihnen den Abschied so einfach wie möglich zu gestalten. Aber als Eirene ihn bei der Hand nahm und ihn fragte, ob er sich nicht von seinem Vater verabschieden wolle, hielt er sich mehr an ihr fest, als dass er sie umarmte, und sagte: »Mein Vater ist tot.« Auch wenn er es als Sünde empfand, konnte sich Loukas nicht dazu durchringen, an das Bett des Toten zu treten. Er fürchtete sich vor dem Abschied. Eirene entdeckte Anna, die gerade vom Hafen zurückkehrte, wo sie mit Eudokimos Schiffsladungen kontrolliert hatte. Sie winkte ihrer Tochter zu.

»Du weißt es schon?«

»Ja, von den Dienern.« In ihrer Hilflosigkeit umarmten nun die drei einander, und Eirene dachte daran, was sie dem alten Seeräuber versprochen hatte.

Die Trauer brachte die Familie einander näher, besonders Eirene und Loukas. Aber auch Anna kümmerte sich mehr um ihre jüngeren Geschwister, als ob sie zusammenrücken müssten, um eine Lücke zu füllen. Loukas versuchte, so viel Zeit wie möglich zu Hause zu verbringen. Hierbei half ihm Anna, die ihn inzwischen in fast allen geschäftlichen Besprechungen vertreten konnte.

Nachdem sie eines Morgens die wichtigsten Aufgaben besprochen hatten, bat Loukas seine Tochter, noch etwas zu bleiben. Auf und ab gehend und unsicher formulierend berichtete er ihr von seiner Idee, sie nach Italien zu schicken, um die Depots in Genua und in Venedig zu überprüfen und dort Filialen der Notaras-Familie zu eröffnen. Annas Augen leuchteten. »Das traust du mir zu, Vater?«

»Ja, das traue ich dir zu«, sagte er und legte dabei tief einatmend seine Hand auf ihre Schulter. »Wir werden lange getrennt sein, drei, vier oder fünf Jahre. Lass uns in Ruhe darüber nachdenken. Es will wohl erwogen sein.« Anna erhob sich und umarmte ihren Vater. Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Dass du mir das zutraust!«

»Zutrauen, ja, aber entschieden wird erst nach der Beerdigung des alten Seeräubers.«

Mehrmals am Tag zog sich Loukas, manchmal nur für wenige Minuten, in das Arbeitszimmer seines Vaters zurück. Staub lag auf den Möbeln, auf den Papieren. Nikephoros hatte diesen Ort jahrelang nicht mehr aufgesucht. Stattdessen hatte er viel Zeit im Atelier seines Sohnes Demetrios verbracht und dort mit einer wahren Besessenheit gezeichnet, Menschen über Menschen, die ihm als Mann oder als Kind begegnet waren, je nachdem, in welcher Welt er sich gerade befand. Loukas nahm sich vor, die Zeichnungen seines Vaters einmal durchzusehen. Er hatte es immer vermieden und konnte sich auch jetzt noch nicht dazu durchringen. Es kam ihm vor, als zerfiele sein Vater in zwei Personen: Auf der einen Seite war er der alte Seeräuber, der selbstbewusste Dolmetscher des Kaisers Manuel II. und mächtige Handelsherr und auf der anderen Seite der alte und der junge Nikephoros. Vor dem anderen Vater fürchtete sich Loukas. Lieber stöberte er in den alten Aufzeichnungen, kleinen Tagebuchnotizen aus der Zeit der Reise mit dem Kaiser in den Westen. Wie viele Mühen hatten sie damals auf sich genommen, wie viel Klugheit und Überzeugungskraft hatten sie aufgebracht, wie viel Freundlichkeit und Charme, um am Ende mit Almosen abgespeist zu werden! Wie entwürdigend war diese Reise verlaufen, wie schrecklich scheiterte sie an der Selbstbezogenheit der Lateiner.

In den Oktobertagen, kurz nach Nikephoros’ Beisetzung und der Totenmesse in der Hagia Eirene, wurde Loukas eines Nachmittags gemeldet, dass ihn ein Kaufmann aus Amasia zu sprechen wünsche. Loukas empfing den Mann, der einen weißen Turban und einen weiten grünen Mantel über blauen Pluderhosen trug, in seinem Arbeitszimmer und erkannte überrascht in dem Kaufmann Halil Pascha, den Wesir des Sultans.

»Es muss niemand wissen, dass ich hier bin.«

»Niemand wird es erfahren«, sagte Loukas, der sich überfordert fühlte, denn seine Gedanken weilten bei seinem Vater.

»Ich weiß, ich komme in ein Trauerhaus. Entschuldigt. Ihr habt mein Mitempfinden. Er muss ein großer Mann gewesen sein, dieser Nikephoros Notaras, wenn er einen solchen Sohn hat.«

»Danke. Es scheint sehr wichtig zu sein, wenn Ihr die gefahrvolle Reise unternehmt und keinen Boten schickt«, antwortete Loukas schmallippig.

»Das, was wir zu besprechen haben, ist kein Geschäft für einen Boten.« Loukas kam ein Verdacht, doch er hoffte, dass Halil Pascha darum nicht bitten würde. »Ihr wisst, dass Ihr einmal enthauptet werden solltet. Wäre das geschehen, dann gäbe es Eure ganze wundervolle Familie nicht. Ihr wisst genauso gut, dass der Sultan Euch damals das Leben geschenkt hat. Erinnert Ihr Euch, was Ihr damals versprochen habt?«

»Dass ich den Wunsch, den der Sultan äußert, erfüllen werde – einmal nur, wie er mir einmal das Leben geschenkt hat.«

Halil nickte. »Der Sultan sagte damals, dass es vielleicht niemals dazu kommen würde, nun kommt es dazu und der Sultan bittet Euch, Euer Versprechen einzulösen.« Loukas wurde übel, denn genau das, was er befürchtet hatte, trat ein. Mit einer Geste forderte er den Türken zum Weitersprechen auf.

»Wladislaw marschiert auf Varna und von dort auf Edirne. Der Großteil unseres Heeres sitzt in Anatolien fest. Wir brauchen Schiffe und vor allem erstklassige Seeleute, mit denen wir die Blockade durchbrechen können.«

»Das wäre Verrat«, warf Loukas kühl ein.

»Nicht an Konstantinopel«, entgegnete der Türke nicht minder kühl. »Wenn die Kreuzfahrer Rumelien erobert haben, werden sie nach Anatolien übersetzen und den Sultan angreifen. Wir haben zwar den Herrscher von Karaman geschlagen, aber diese Gelegenheit, uns in den Rücken zu fallen, wird er sich nicht entgehen lassen. Wenn die Lateiner auf dem Balkan, in Rumelien und in Anatolien gesiegt haben, meint Ihr nicht, sie werden wie 1204 Konstantinopel erobern? Der Papst ist nicht Euer Freund, denn Ihr verwirklicht nicht die Kirchenunion.« Der Großadmiral dachte nach. Es stimmte. Wer sollte die Lateiner nach ihrem glorreichen Sieg aufhalten? Wer hinderte sie dann, wieder und diesmal endgültig die Stadt zu erobern?

»Loukas, das Gleichgewicht zwischen den Lateinern und uns garantiert die Existenz dieser Stadt, nichts anderes.«

»Ich weiß, aber wer garantiert mir, dass Ihr kein falsches Spiel treibt?« Halil Pascha legte auf diese Frage hin den Kopf schief und schaute den Großadmiral belustigt an. »Mehmed I. hat sein Wort gehalten, wie es auch Murad tut. Den Kronprinzen, der einmal als Mehmed II. dem großen Murad folgen wird, habe ich unter meine Fittiche genommen. Von dem Gimpel droht keine Gefahr«, antwortete der Türke mit herablassendem Unterton. Nicht das Geringste war je vorgefallen, das es rechtfertigte, an den Worten des Wesirs zu zweifeln. Seit nunmehr zwanzig Jahren trieben sie Geschäfte miteinander. Der Wesir, der mit den Jahren das Aussehen eines fetten Katers angenommen hatte, schnurrte behaglich. »Bedenkt, wenn die Lateiner wieder im Besitz von Konstantinopel sind, werden hier nur noch die genuesischen und venezianischen Kaufleute das Sagen haben, und die Griechen gehen leer aus. Das wäre Euer Ende, Loukas Notaras.« Der Großadmiral stimmte dem Türken innerlich zu. Ohne die Türken würden die Lateiner die Griechen verschlingen. Loukas wurde aschfahl und sah Halils weit aufgerissene Augen. »Ist Euch nicht gut?«, fragte der Wesir.

»Nein, nein, es wird gleich wieder. Es ist nur, es ist und bleibt Verrat. Entschuldigt mich einen Moment. Ich lasse Euch etwas zu essen und zu trinken bringen.« Loukas stand auf und wankte zur Tür. Er drehte sich noch einmal um und hob hilflos die Hände. »Man verliert nicht an einem Tag seinen Vater und verrät im gleichen Augenblick seine Heimat.«

Er musste unbedingt mit jemandem darüber sprechen, sich beraten. Niemand jedoch konnte ihm die Entscheidung abnehmen. Schlimmer noch, er würde einen Menschen, den er liebte, seine Frau oder Anna, mit in den Abgrund des Verrats ziehen. Nein, seine Antwort durfte nur der Türke hören, und er würde allein die Folgen tragen. Wäre es nicht ungeheuerlicher, die Ungeheuerlichkeit nicht zu begehen? Bedeutete es nicht Verrat, nicht zu verraten? Was eigentlich verraten? Die Interessen Konstantinopels? Wohl kaum. Die Interessen der Lateiner? Sicherlich, doch diese richteten sich auch gegen seine Heimatstadt. Er blieb nur im Geschäft, wenn Konstantinopel die Unabhängigkeit bewahrte, und das erreichte die kraftlose Stadt lediglich, wenn die Balance zwischen den Türken und den Lateinern standhielt. Ganz gleich, wie es kommen würde, duldete Annas Reise nach Italien keinen Aufschub. In Genua und Venedig mussten Filialen der Notaras-Familie entstehen. Er würde ihr seine besten Leute mitgeben, und sie hätte in Italien in dem Kardinal Bessarion einen mächtigen Fürsprecher und einen guten Freund. Loukas kehrte ruhig in das Zimmer zurück. Halil trank einen Roten und aß ein Täubchen. Sein Entschluss stand fest. »Eure Truppen werden übergesetzt. Dafür halbiert Ihr die Pacht für die Alaungruben von Phokaia und zahlt mir sechzigtausend Dukaten. Das Geld sollte in den nächsten Tagen bei mir eintreffen. Außerdem stellt Ihr mir einen Verbindungsmann, nach Möglichkeit einen Venezianer, keinen Griechen, keinen Genuesen.« Halil lächelte sein Katerlächeln. »Es ist immer wieder schön, mit Euch Geschäfte zu machen, Loukas Notaras.«

An diesem Abend suchte Loukas die Nähe seiner Frau. Eirene führte sein Verlangen nach Zärtlichkeit auf die Wunde zurück, die der Tod des Vaters ihm geschlagen hatte. Auch sprach er mit ihr ausführlich über Annas Zukunft. Auf ihre Frage, wer der türkische Kaufmann denn gewesen sei, antwortete Loukas der Wahrheit entsprechend, ein Geschäftsfreund von Jakub Alhambra.

»Und was wollte er?«

»Waffen und Eisen«, log er und fügte wieder wahrheitsgemäß hinzu: »Aber diesmal gibt es weder Eisen noch Waffen.« Diesmal, dachte er bitter bei sich, gibt es Schiffe für ihre Truppen, viele Schiffe, die trotz Blockade die türkische Armee über den Bosporus übersetzen würden. Sie kannten sich in diesen Gewässern besser aus als die Päpstlichen und als die Burgunder. Die Hilfe der Genuesen würde er über Francesco Draperio erlangen, und die Venezianer waren ihm etwas schuldig, denn dank ihm bekamen sie ihren eigenen, geschützten Hafen im Goldenen Horn. Der Gewinn konnte sich sehen lassen, und genau betrachtet lag es im Interesse Konstantinopels. Letzteres würde aber kaum jemand verstehen, wie er zu Recht vermutete.