27
Notaras-Palast, Konstantinopel
Auch Loukas Notaras kam erst spät nach Hause. Sie hatten lange im Geheimen Rat gestritten. Schließlich setzte sich der Admiral gegen Alexios Angelos durch, sodass der Kaiser nicht nur den Legaten des Papstes, sondern auch den Gesandten des Konzils in einer gemeinsamen Audienz empfing. Von seiner Frau erfuhr er, dass Anna erst kurz vor ihm zurückgekehrt war. Das stimmte ihn misstrauisch. Deshalb befragte er die Wächter seiner Tochter.
Währenddessen saß Anna im Atelier ihres Onkels und schaute ihm zu, wie er eine Tafel grundierte, die er zum Malen verwenden wollte. Es fiel ihr auf, wie viel Geduld, wie viel Liebe und wie viel Sorgfalt er aufbrachte. Sie fand den Geruch des Ateliers bemerkenswert, aber den von Büchern liebte sie.
»Du hast schon lange keine Ikone mehr gemalt.«
»Das fällt sogar dir auf. Wie kann ich das Göttliche malen, wenn ich das Menschliche nicht kenne? Nicht Gott suche ich, sondern den Menschen.«
»Wie willst du den Menschen finden?«
»Ich hoffe, wenn ich viele Menschen in ihrem Alltag male, irgendwann einmal den Menschen zu finden.«
Anna lächelte maliziös. »Ein bisschen gotteslästerlich ist das schon, oder? Die heilige Technik für profanes Menschenwerk zu nutzen.«
»Unsere kleine Sophistin«, lächelte der Maler. »Das sind alles Theorien. Dionysios macht sich zum Medium Gottes beim Malen, allerdings haben die Regeln, an die er sich hält, Menschen erstellt.«
»Ein Widerspruch!«
»Mag sein. Ich habe diese hochfliegenden Vorstellungen nicht.«
»Nein?« Annas Gesicht nahm den vollkommenen Ausdruck der Ironie an.
»Ich habe so viel verschiedenes Leben gesehen. Schau mal.« Demetrios unterbrach seine Arbeit, erhob sich mit einem Gesichtsausdruck, der besagte, dass Anna vorher ja doch keine Ruhe geben würde, und nahm vom Fußboden ein Tafelbild, das an die Wand gelehnt stand. Auf dem Bild sah sie eine Türkin, die einem etwa zweijährigen Kind, das gestürzt war, aufhalf. Dabei hatte sich ihr Schleier gelöst und gab das Gesicht frei, in dem Sorge und Liebe zu ihrem Kind sich mit der Verwunderung über den fehlenden Schleier mischten.
»Ich hätte natürlich auch eine Hodegetria malen können, eine Jungfrau Maria mit ihrem Sohn.« Anna beeindruckte das Bild, denn sie sah der Frau an, dass sie ihr Kind verteidigen würde. Es sind Menschen, dachte sie erschüttert, Menschen wie wir. Natürlich wusste sie, dass die Heiden keine Tiere oder Ungeheuer waren, dazu hatte ihr Vater genug von den Türken erzählt, von Murad und Halil Pascha. Das waren Herrscher, Politiker, Geschäftsleute, aber keine Menschen des Alltags, auf die es doch ankam. Demetrios beobachtete die Gesichtszüge seiner Nichte. »Es ist spät. Du musst ins Bett, Anna. Morgen ist auch noch ein Tag.«
»Eine Frage noch!«, bat sie.
»Eine!«, erwiderte Demetrios streng.
»Wie würdest du eine Klosterbibliothek ordnen, wenn du Bücher verbergen willst?« Die Suche nach Büchern im Kloster, die sie mit Nikolaus betrieb, weckte den Verdacht in ihr, dass die Bibliothek nicht, wie der Bibliothekar behauptete, vollkommen unordentlich war, sondern dass die äußere Unordnung die innere Ordnung verbarg.
Demetrios kratzte sich den kleinen Spitzbart, den er sich hatte wachsen lassen. »Es gibt viele Möglichkeiten. Hat dein Bibliothekar nicht früher Ikonen gemalt?«
»Deshalb frage ich dich!«
»Dann schlage ich ein Bilderrätsel vor. Denk dir den Raum als Ikone, also die drei Dimensionen von Höhe, Breite und Tiefe auf die zwei Dimensionen von Höhe und Breite reduziert. Die Ikone gehorcht nicht den Gesetzen der Zentralperspektive, weil sie die Welt nicht so genau wie möglich abbilden will, sondern weil sie ein Symbol der Welt darstellt. Bisweilen arbeiten Ikonen mit einer umgekehrten Perspektive. Normalerweise laufen die Linien im Unendlichen zusammen, das bedeutet, dass alles, was im Vordergrund ist, größer ist als das, was im Hintergrund ist. Sollte also die Bibliothek wie eine Ikone geordnet sein, dann finde die Ikone. Entweder hat sie der Bibliothekar in seiner Jugend gemalt, oder sie ist von zentraler Bedeutung für das Kloster. Vorausgesetzt natürlich …«
Es klopfte an der Tür. Ein Diener bat Anna, sogleich ihren Vater in seinem Arbeitszimmer aufzusuchen. Sie wunderte sich, dass er sie so spät noch zu sprechen wünschte. Dann konnte es nur etwas Wichtiges sein. Ihr schwante nichts Gutes. Mit ihrer Ahnung sollte sie recht behalten. Beim Betreten des Arbeitszimmers fiel ihr sofort die eisige Atmosphäre auf, der kalte Blick des Vaters und die verkniffenen Lippen der Mutter.
»Setz dich«, befahl Loukas knapp. Sie hatte sofort das Gefühl eines Tribunals. Vater und Mutter saßen ihr gegenüber.
»Was treibst du eigentlich im Kloster? Und ich will keine Lügen hören!«, begann er mit Grollen in der Stimme.
»Du weißt, dass ich nicht lüge.« Weder Loukas noch Eirene reagierten, sondern sie warteten. »Ich werde in Philosophie unterrichtet.«
»Von wem?«
»Das wisst ihr doch.«
»Wissen wir das wirklich?«, hakte Eirene nach.
»Von Bessarion.«
Die Schläfen des Admirals spannten sich an. »Ist das alles? Mehr nicht?«
»Es gehört zum Unterricht, in den Beständen der Bibliothek zu suchen.«
»Mit wem suchst du denn?«
»Mit dem Herrn Nikolaus«, versuchte sie so normal wie möglich zu klingen. Es gelang ihr nur schlecht, wie sie selbst fand. Es kostete ihre ganze Selbstbeherrschung, nicht zu erröten.
»Hatten wir dir das erlaubt?«
»Nein, aber …« Sie biss sich auf die Zunge, denn sie wollte Bessarion nicht mit hineinziehen. »Ich dachte mir nichts dabei. Herr Nikolaus ist ein Kenner der Philosophie und ein versierter Bücherjäger. Er sagt Dinge, die dir gefallen würden, so zum Beispiel, dass dem Papst nicht der Primat zukommt, dass der Kaiser der Stellvertreter Christi auf Erden ist und nicht der Papst, dass die Konstantinische Schenkung eine Fälschung …«
»So, sagt er das alles?«, fuhr Loukas sie an. »Mich interessiert aber mehr, was er tut. Ein Mann meines Alters ist mit meiner Tochter allein«, brüllte er los.
»Loukas!«, ermahnte Eirene ihn.
»Wir waren nicht allein, Papa!«, hielt das Mädchen tapfer dagegen, die der Ausbruch ihres geliebten Vaters einschüchterte.
»Stimmt, umarmt habt ihr euch in aller Öffentlichkeit auf der St.-Barbara-Spitze!« der Admiral kochte vor Wut. Anna sank der Mut. Er wusste alles. Sie hätte vorsichtiger sein müssen, aber dann hätte sie doch vorher wissen müssen, was geschieht, dann hätte sie doch ihren Vater betrügen und Nikolaus verführen wollen wie eine Frau den Mann! Aber das war es ja nicht, was zwischen ihr und Nikolaus bestand. Wie sollte sie denn etwas verbergen, wovon sie nicht einmal ahnte, dass es geschehen würde! Dabei verstand sie nicht einmal selbst, was geschehen war. Aus dem Munde ihres Vaters klang es so gewöhnlich, wie ein Verbrechen. Sie hätten sich umarmt, sich hinter seinem Rücken getroffen, sie, das junge Mädchen, und ein Mann seines Alters. Aber so war es nicht, so war es ganz und gar nicht! Aber wie war es dann? Sie hatten über Philosophie gesprochen, über das Kaisertum, über die Reform als einzigen Weg, Konstantinopel vor den Türken zu retten, sie hatte ihm Büchertitel und Passagen aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt. So war es, mehr aber nicht. Nicht mehr? Doch, bei alldem hatte ihr Herz höher geschlagen, fühlte sie sich sicher und wohl in seiner Gegenwart. Aber das hatte doch nichts zu bedeuten, nichts Schlechtes jedenfalls.
»Du hast uns hintergangen, unser Vertrauen missbraucht«, sagte ihre Mutter kühl.
»Aber Mama, glaubst du das wirklich?«
»Keine Komödie, Anna, bitte. Mach es nicht noch schlimmer.« Aus der Stimme ihres Vaters klang tiefe Enttäuschung. Und das traf sie stärker, als wenn er gebrüllt hätte. Sie fühlte sich hilflos vor dem Bild, das sich ihre Eltern machten, denn sie hatte das Gefühl, sie nicht mehr zu erreichen. Sie konnte sagen, was sie wollte, ihre Eltern hatten sich ihre Meinung gebildet. Mit nichts hätte Anna sie umstimmen können. Die Sehnsucht, wieder Kind zu sein, überkam sie. Da war alles so einfach und so überschaubar. Ihr Vater liebte sie und sie ihn, kein Geheimnis bestand zwischen ihnen, aber geteilt hatten sie jede Menge Heimlichkeiten. Und nun erreichte sie ihren Vater nicht mehr. Er warf ihr den schlimmsten Verrat vor. Das Traurigste daran war jedoch, dass sie nicht wusste, was er ihr eigentlich zum Vorwurf machte. Nichts war geschehen, außer dass sie mit Nikolaus von Kues über Philosophie gesprochen hatte, mit dem Verstand und mit dem Herzen. Vielleicht half es ihr, das, was die Wachmänner berichtet hatten, von außen zu sehen, kühl, um den Eindruck zu verstehen, den diese Schilderungen auf ihre Eltern machten. Wie schmutzig das Reine aussehen konnte. Davor schreckte sie zurück, denn sie argwöhnte, dass ihre Philosophiestunden und ihre Bücherjagden Außenstehenden lediglich als Tarnung erschienen. Und so wollte sie das, was Nikolaus und sie erlebt hatten, nicht erniedrigt sehen. Wenn ihre Eltern, vor allem ihr Vater, so darauf reagierten, dann konnte es nur Gift sein, und sie wollte sich das Schöne in ihrem Leben nicht vergiften lassen.
»Dein Vater und ich haben beschlossen, dass wir deine Erziehung verändern. Du bist aufgewachsen wie ein Junge. Das war wohl falsch. Singen und Tanzen statt Philosophie, Haushaltskunde statt Kaufmannslehre werden künftig deine Beschäftigungen sein. Schließlich wirst du eines Tages nicht die Firma deines Vaters führen, sondern wirst als Herrin des Hauses einem großen Haushalt vorstehen!«
Dicke Tränen kullerten aus Annas Augen. Hilflos schaute sie zu ihrem Vater hinüber. »Da brauchst du gar nicht zu deinem Vater zu gucken. Geh jetzt ins Bett und bitte Gott um Vergebung für deine Sünden«, sagte Eirene ruhig und frostig. Bevor Anna noch einen Ton außer Wimmern herausbekam, sagte ihr Vater leise: »Geh schon!«
Wie sie in ihr Zimmer gekommen war, hätte sie nicht sagen können. Ihre Welt war zusammengebrochen. Und sie wusste immer noch nicht, warum.
Auch Loukas fand nur schwer in den Schlaf. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere. Plötzlich spürte er, dass Eirene seine Hand in die ihre nahm, sie zu ihrem Mund führte und küsste. Das tat ihm gut, sehr gut sogar.
»Es war kein Fehler, ihr das zu nehmen, was wir ihr hätten niemals geben dürfen. All das, womit sie sich beschäftigt hatte, sind keine Gegenstände für Mädchen.« Er nickte, was sie in der Dunkelheit eher ahnte als sah. »Wer weiß, wo das noch hingeführt hätte. Ich liebe unsere Tochter nicht weniger als du, deshalb sage ich: lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.«
»Du hast sicher recht, ich stelle morgen trotzdem Bessarion und diesen Lateiner zur Rede.«
»Versprich mir, dass du nett zu Bessarion bist, er ist unser Freund und außerdem ein großes Kind.«
Das große Kind saß im Speisesaal des Klosters unter einer Kuppel, die das mystische Mahl darstellte, und kaute an einer überhaupt nicht mystischen Wildschweinkeule. Die heiligen Patriarchen schauten auf Bessarion herab, besonders Basilius der Große mit grauer Mähne, langem Bart, aus gewölbten Augen, so als missbillige er den Genuss seines Abtes. Auf einem Spruchband verkündete er: »Keiner von denen ist würdig, die gebunden sind mit fleischlichen Banden.« Bessarion saß inmitten der Mönche und neben ihm sein Gast, Nikolaus von Kues.
Loukas Notaras strebte zum Tisch das Abtes an der Stirnseite. Schön, dass ich euch beide antreffe, dachte er grimmig. Als Bessarion den Freund entdeckte, strahlte er übers ganze Gesicht.
»Entschuldigt, wenn ich beim Essen störe, aber ich muss dringend mit dir und dem Herrn Nikolaus von Kues sprechen. Die Sache duldet keinen Aufschub!« Bessarion schaute überrascht und legte die Keule auf den Zinnteller. Dann lotste er die beiden Männer in ein kleines Nebengelass. Loukas’ Geduld reichte noch genauso lange, wie Bessarion benötigte, um die Holztür zu schließen. »Ich habe dir meine Tochter anvertraut, damit du sie in Philosophie unterweist, nicht er! Ich habe ihr weder erlaubt, mit ihm in der Bibliothek zu stöbern, Gespräche zu führen noch am Meer im Mondschein herumzuspazieren.« Nikolaus holte tief Luft, während das Lächeln im Gesicht des Abtes erstarb.
»Es war nicht rechtens, dich nicht um Erlaubnis zu bitten, Loukas«, räumte Bessarion zerknirscht ein. »Andererseits hege ich die tiefsten väterlichen Gefühle für Anna. Das weißt du. Ich war sogar bei ihrer Geburt dabei. Aber außer, dass ich nicht mit dir darüber gesprochen habe, ist nichts Unrechtes geschehen, mein Wort.«
»Gebt Ihr auch Euer Wort darauf, mein Herr?«, fragte Loukas Nikolaus von Kues.
»Mein Wort darauf!«
»Das kam mir doch etwas schnell. Man fragt sich, was das Wort eines Lateiners wert ist, da doch Zeugen aussagen, dass Ihr meine Tochter sogar in den Armen gehalten habt.«
»Hast du?«, fragte Bessarion erschüttert.
»Formaliter ja, causaliter und finaliter nein.«
»Kommt mir jetzt nicht mit Eurem Philosophengewäsch. Ich habe eine einfache Frage gestellt, die man mit Ja oder mit Nein beantworten kann!«, ließ sich der Admiral nicht beirren, zumal er gar nicht wusste, was der Lateiner mit dieser Unterscheidung meinte.
»Es war weder beabsichtigt noch gewollt, aber für einen kurzen Moment ist es geschehen, wie man jemanden auffängt, wenn er stolpert.«
»Ihr habt Keuschheit geschworen, da fängt man niemanden auf, schon gar kein Mädchen von sechzehn Jahren.«
»Ich habe keine Weihen empfangen. Ich bin kein Priester.«
»Umso schlimmer! Wusstest du das, Bessarion?« Der Abt schaute sehr unglücklich drein.
»Aber deswegen habe ich noch lange nichts getan, was Ihr mir verübeln dürftet und was ich mir vorwerfen müsste. Eines aber sage ich Euch. Ihr könnt stolz darauf sein, eine Tochter wie die Eure zu haben. Besäßen doch viel mehr Söhne das Format Eurer Tochter, dann stünde es um die Welt besser«, erklärte Nikolaus, als stünde er auf der Kanzel. Aber Loukas schüttelte den Kopf in einer Art, als hielte er sich die Ohren zu. »Es klingt gut, aber glauben, glauben kann ich Euch nichts. Ihr versteht nur allzu gut das Geschäft der Worte und seid in einer Situation, in der Ihr versucht seid, alles zu sagen, um an Euer Ziel zu kommen.« Nikolaus von Kues lachte laut auf, dann nahm er den Admiral scharf in den Blick. »Ja, Ihr habt recht, ich liebe Eure Tochter. Ich liebe aufrichtigen Herzens, was sie denkt und wie sie denkt, und wenn ich sie umarmen möchte, dann ist es mein Geist, der ihren Geist umfangen will. Nicht aber mein Körper! Glaubt es oder glaubt es nicht! Weit konsequenter noch und weit eifersüchtiger als Ihr würde ich ihre Jungfräulichkeit verteidigen, denn sie schützt wie eine undurchdringliche Dornenhecke ihren Geist. Sie kann viel erreichen, und sie wird auf viel verzichten müssen. Aber Eure Tochter, Loukas Notaras, ist ein Gottesgeschenk! Sie ist etwas Außergewöhnliches. Vertraut ihr – Gott wird sie schützen. Und wenn Ihr Eurer Tochter nicht vertrauen wollt, dann vertraut auf Gott, denn er hat es so eingerichtet, weil er es so will. Gott, Loukas Notaras, hat Euch diese Tochter geschenkt.«
Dort, wo er Sicherheit am dringendsten benötigte, spürte er nichts anderes als Unsicherheit. Alles, was der Lateiner sagte, ging ihm zu Herzen, doch zu sehr, zu genau. Der Fremde war ein erfahrener Redner, dessen Geschäft darin bestand, ihn zu überzeugen, indem er sagte, was er zu hören wünschte. Gebot denn nicht die Klugheit, dort misstrauisch zu sein, wo der Instinkt durch eine geschickte Argumentation eingeschläfert werden sollte? Wenn der Verstand auf der einen Seite und das Bauchgefühl auf der anderen Seite stand – wem von beiden sekundierte dann die Wahrheit?
»Nein, Herr Lateiner, Ihr sprecht von der Umarmung des Geistes. Das klingt gut, nur weiß ich nicht, wo Euer Geist sitzt. Bei manchen im Kopf, bei anderen auf der Zunge, wieder andere tragen ihn im Bauch und die Verrufensten in ihren Genitalien. Versteht mich nicht falsch, ich will einem Mann nicht seine Lebensweise vorwerfen, das liegt mir wahrlich fern, aber ich bin auch ein Vater, und es ist meine Aufgabe, mein Kind zu schützen. Ich wünsche Euch Gottes Segen, aber lieber bin ich stets zu vorsichtig als einmal zu nachlässig. Wie gesagt, ich bin ein Vater, ich kann es mir nicht leisten, unvorsichtig zu sein.« Mit einem knappen Kopfnicken, das sowohl Abschied als auch Warnung als auch Kampfansage bedeutete, verließ der Admiral den Raum. Bessarion, dem das alles zutiefst peinlich war und der augenscheinlich die ganze Geschichte immer noch nicht begriffen hatte, atmete hörbar aus. »Er wird drüber nachdenken«, sagte Bessarion sicher, und es klang so, als hätte er gesagt, der Heißsporn werde schon Vernunft annehmen.
Nikolaus von Kues jedoch versank in Schweigen. Und kratzte aufgeregt seine Nase, bevor er den Zeigefinger auf den Abt richtete. »Das wird er nicht tun. Denn er ist eitel. Er steht nicht im Konflikt zwischen Wahrheit und Lüge, sondern zwischen seinem Urteil und seinem Vorurteil, und in dieser Auseinandersetzung gewinnt zumeist das Vorurteil. Und wisst Ihr, warum das so ist? Weil das Vorurteil weder unseren Verstand anstrengt noch uns infrage stellt. Es fordert nichts von uns, sondern alles von den anderen. Die Menschen müssen sich von den Vorurteilen befreien, wenn sie wirklich urteilen wollen. Erst dann sind sie wirklich in der Lage, zu wählen und Entscheidungen zu treffen. Dort, wo die Menschen am inbrünstigsten ihre Meinung herausposaunen, plappern sie eigentlich nur nach. Nein, dieser Mann denkt nicht nach. Er hat längst seine Entscheidung getroffen, und zwar gegen sich«, sagte Nikolaus leise, mit einer kaum verhohlenen Verzweiflung.