19

Basiliuskloster, Konstantinopel

An dem Tag, an dem Loukas Notaras endlich zum Admiral ernannt wurde – nachdem er sich beharrlich darum bemüht hatte, den Großadmiral aus privaten Schulden zu befreien, dem Oberbefehlshaber ein Landgut für seinen ältesten Sohn geschenkt und dem Ersten Minister in aufsehenerregendem Maße die Bibliothek vergrößert hatte – und der Kaiser sich bei dem Andrang hochrangiger Fürsprecher nicht länger der Ernennung entziehen konnte, ging die fünfzehnjährige Anna Notaras in Begleitung von vier bewaffneten Dienern in das Basiliuskloster, um bei Bessarion, der nach seiner Rückkehr zum Abt des Konvents ernannt worden war, ihren Unterricht in Philosophie zu nehmen. Anfangs hatte sie sich darüber gewundert, dass statt zwei nun vier Wächter an ihrer Seite sein sollten, aber angesichts der steigenden Kriminalität in der Stadt hatte ihr Vater darauf bestanden. Die Kaiserin dürfte wohl kaum besser beschützt werden, dachte Anna spöttisch. Auf ihrem Weg begegnete sie häufiger Soldaten des Kaisers, die in den Straßen der Stadt patrouillierten. Wie immer freute sie sich auf den Unterricht, denn zum Rechnen gehörte das Denken. Es beruhigte sie, denn so kam Ordnung in die heillos verworrene Welt.

Der Bruder Pförtner kannte sie schon, und während die Diener an dem rot und sandfarben gestreiften Ziegeltor warteten, schritt sie weiter den Gang entlang, der rechts von einer hohen Mauer mit einer rundbogigen Fensterfront direkt unter dem Tonnengewölbe und links von Arkaden begrenzt wurde. Wie unzählige Pollen wehte das Licht herein und schwebte im Gang. Jenseits der Arkaden begann der eigentliche Kirchenraum. Gleich hinter den Arkaden und dem Kirchensaal lag die kleine Wohnung des Abts. Obwohl herzhaftes Männerlachen ihr offenbarte, dass er nicht allein war, klopfte sie an die Eichenholztür.

»Herein, herein«, hörte sie die sich mühsam durch das eigene Lachen kämpfende Stimme ihres Lehrers. Die Wohnung bestand aus zwei Räumen; im ersten stand vorn ein kleiner Tisch mit vier Schemeln, rechts an der Wand ein Pult, daneben Regale, an der gegenüberliegenden Seite ebenfalls Regale, im kleinen Schlafgemach, in dem ein einfaches schmales Bett bescheiden Platz fand, wucherten Holzgestelle voller Kodizes. Genaugenommen bestand die ganze Wohnung aus Handschriften. Bessarion saß ein unbekannter Mann ungefähr im Alter ihres Vaters gegenüber. Obwohl dessen Gesicht sich etwas einfältig in die Länge zog, wirkte es nicht asketisch, sondern mit seinen vollen, aber nicht wulstigen Lippen und den wohlgeformten Wangen den Genüssen der Welt durchaus aufgeschlossen. Der Besucher trug ein langes weißes Gewand, darüber einen schwarzen Mantel, einer Toga nachempfunden. Die aschblonden Haare bildeten zu den dunklen, eher kleinen Augen einen Kontrast. Sie wurde nicht schlau aus der Physiognomie des Fremden, machte sie doch einen etwas verschlagenen, gleichzeitig aber auch einen freundlichen Eindruck. Ihrem Lehrer jedenfalls standen Tränen des Vergnügens in den Augen. Er schlug sich mit den Händen auf die Knie und mühte sich redlich, wieder ernst zu werden, was ihm aber nur schwer gelang. Immer wieder unterbrachen Heiterkeitsausbrüche seine Erklärung. »Stell dir vor, Anna, was mir Nikolaus gerade erzählt, es ist unglaublich, eine Posse, ein Schwank, die ganze Konstantinische Schenkung eine einzige Fälschung, von Pfaffen fabriziert. Heiliger Hieronymus, was für eine Geschichte, was für ein herrlicher Skandal!« Anna hingegen fühlte sich völlig überfordert, sie wusste weder, was es mit dieser Schenkung auf sich hatte, noch, wer dieser Nikolaus war, der ein Gesicht schnitt, als hätte er den besten Witz der ganzen Christenheit erzählt.

»Also, angeblich hatte Kaiser Konstantin der Große dem Papst Sylvester die geistliche Herrschaft über das Römische Reich eingeräumt. Dass der Papst der Oberherr der ganzen Kirche ist, angeblich verbrieft vom Imperator, der auch unsere schöne Stadt gegründet hat, stellt sich nun als Fälschung von ein paar eifrigen Mönchen heraus.« Bessarion schüttelte den Kopf. »Der Anspruch des Papstes, das Oberhaupt der Christen zu sein, stützt sich auf eine Fälschung, auf eine Chimäre.« Er konnte es immer noch nicht recht glauben, doch Nikolaus von Kues machte Beweise geltend.

»Wenn du Besuch hast, Bessarion, gehe ich«, schlug Anna vor, enttäuscht, dass der Unterricht ausfallen würde – und das nur wegen dieses Fremden. Die selbstgefällige Art, wie er über seinen eigenen Witz lachte, missfiel ihr. Kurz und gut, sie hielt ihn für einen Wichtigtuer. Man musste auf Bessarion aufpassen, denn wie sagte ihr Vater immer: Bessarion versteht alles von Büchern, aber nichts von Menschen.

Langsam beruhigte sich der Mönch. »Entschuldige, Anna«, sagte er auf Lateinisch. »Darf ich vorstellen, Nikolaus von Kues. Und das, mein lieber Nikolaus, ist Anna Notaras, die Tochter eines der bedeutendsten Kaufleute von Konstantinopel.«

»Dann wirst du, liebe Anna, fleißig beten müssen, damit dein Vater in den Himmel kommt«, sagte Nikolaus von Kues lachend.

In Anna revoltierte alles. Was bildete sich dieser eitle und behäbige Lateiner eigentlich ein? Wie konnte er es wagen, so über ihren Vater zu sprechen?

»Mein Vater ist ein frommer Mann!«, rief sie auf Griechisch.

»Das wirst du wohl noch einmal auf Latein wiederholen müssen, unser Gast versteht kein Griechisch. Und nun setz dich, Anna.« Widerstrebend ließ sie sich auf einem freien Schemel nieder und wiederholte den Satz mit der gleichen Leidenschaft auf Lateinisch.

»Nun, das mag sein, dass er gut betet, aber die Art, wie die Kaufleute Geschäfte aushandeln, stimmt wenig mit den Tugenden eines Christen überein«, sagte Nikolaus von Kues. »Ihr Geschäft ist bei Lichte besehen Sünde. Sie feilschen, sie hauen übers Ohr, sie lügen den Menschen die Geldstücke aus dem Beutel, und einige von ihnen betreiben Wucher, verleihen Geld und nehmen Zinsen wie die ruchlosen Juden.«

»Was wisst Ihr schon vom Beruf des Kaufmanns!«, gab Anna schnippisch zurück.

Doch der Lateiner lächelte, und wie sich das Mädchen eingestehen musste, durchaus gewinnend. »Mein Vater war auch Kaufmann, er besaß sogar ein paar Schiffe.«

»Na, da habt ihr ja etwas gemeinsam!«, legte sich Bessarion ins Mittel, allerdings nicht ohne sanfte Ironie.

Ich mit dem, nie im Leben, dachte Anna, so wütend, dass ihr das Blut ins Gesicht schoss.

»Ich habe nicht gesagt, dass ihr deswegen gleich heiraten müsst!«, scherzte Bessarion. Die Mimik des Fremden zog sich zusammen, als hätte er in eine Zitrone gebissen, und in das Rot von Annas Antlitz stürmten weiße Punkte.

»Was die Ehe betrifft, halte ich es eher mit dem Apostel Paulus«, beschied der Lateiner seinen Gastgeber kühl.

Ein kurzer Kampf fand in Anna statt. Sollte sie den hochmütigen Gecken fragen, was der Apostel gesagt hatte, oder nicht? Am Ende siegte die Neugier. »Was hat denn der Apostel nun übers Heiraten gesagt?« Herr Neunmalklug, führte Anna die Frage im Gedanken weiter, ärgerlich darüber, ihr Unwissen in diesem Punkte zu verraten.

»Nun, der Apostel sagt: ›Den Unverheirateten und den Witwen sage ich: Es ist gut, wenn sie so bleiben wie ich‹, nämlich unverheiratet.«

»Sollen denn nur Bastarde zur Welt kommen? Sieht so die Moral der Lateiner aus?«, fragte das Mädchen spitz. Der Fremde rutschte etwas unsicher auf seinem Schemel hin und her. Anna spürte, dass sie ihn aus seiner Sicherheit gestoßen hatte, und freute sich diebisch über ihren kleinen Erfolg. Auf diesem Gebiet, von dem sie allerdings auch nicht allzu viel wusste, schien er höchst unsicher zu sein. Wer hätte das gedacht?

Nikolaus von Kues räusperte sich. »Das ist kein Thema, über das man mit einer jungen Dame spricht.«

Bessarion runzelte die Stirn und nickte.

Doch Annas Angriffslust war geweckt. »Über das eine sicher nicht, über das andere schon.«

»Was ist jetzt das eine und was das andere?«, fragte der Fremde.

»Halt, halt, halt, das wollen wir jetzt gar nicht wissen.« Bessarion lag daran, die Diskussion zu beenden.

Doch inzwischen hatte Anna zu viel Spaß an der kleinen Rangelei, als dass sie einfach aufgeben wollte, zumal sie auf der Siegerstraße war. »Wenn die Schafe und die Rinder enthaltsam leben, haben wir bald nichts mehr zu essen. Das ist das andere.«

»Der Mensch ist kein Tier. Er ist, wie Anaxagoras bemerkte, das Maß aller Dinge«, stellte Nikolaus von Kues gewichtig fest.

»Aber Gott ist unser Vater, und wir sind seine Kinder. Wollen wir ihn seiner Kinder berauben? Bedenkt, wenn der Mensch das Maß aller Dinge ist, würden wir den Dingen ihr Maß nehmen, wenn die Menschen keine Familie mehr gründen und aussterben.« Annas Augen blitzten triumphierend. Sie war stolz auf ihr Argument und erwartete, dass der Fremde das Gespräch nun beenden oder versuchen würde, sie abzukanzeln – schließlich war sie ja nur ein Mädchen.

Nikolaus von Kues stand auf, verneigte sich knapp vor ihr und sagte: »Du hast mich gelehrt, dass man auch einem jungen Mädchen gegenüber nicht leichtfertig ein halb durchdachtes Argument verwenden darf.«

Wieder stieg das Blut in Annas Wangen, doch diesmal nicht tiefrot und aus Zorn, sondern blassrot und aus Verlegenheit.

»Nun, sie ist ja auch meine Schülerin«, verkündete Bessarion, der es offensichtlich für an der Zeit hielt, sich wieder in das Gespräch einzumischen.

»Ich will euren Unterricht nicht weiter aufhalten, denn es ist nichts wichtiger, als belehrt zu werden«, sagte Nikolaus von Kues und wollte sich verabschieden.

»Wartet! Da Ihr in der Tat meinen Unterricht gestört habt und in der Tat von weit herkommt, sagt mir, wonach jagt Ihr?«, hörte sich Anna etwas gestelzt fragen, weil ihre Eitelkeit sie dazu getrieben hatte, sich möglichst gewählt auszudrücken. Zugleich wunderte sie sich über ihr Interesse.

Die Mundwinkel des Fremden zuckten. In seine Augen schlich sich eine jungenhafte Freude, die den warmen braunen Ton seiner Iris sichtbar werden ließ. »Jagen, was für ein schönes Wort! Jagen, so hätte ich es nie genannt, eher suchen, aber jagen trifft es viel besser. Wohlan, ich will es dir verraten, Anna, weil du mir gerade einen Ausdruck geschenkt hast. Ja, ich jage nach Weisheit, das ist meine größte Leidenschaft. Ich bin Philosoph.« Sie spürte seinen wohlwollenden Blick. Offensichtlich freute er sich wirklich über diesen Begriff. »Die Philosophen sind ja nichts anderes als Jäger nach Weisheit, nach der jeder im Lichte der ihm angeborenen Logik in seiner Weise forscht«, setzte er hinzu.

»Jeder nach seiner Weise, sagt Ihr, dann hat jeder seine eigene Weisheit, seine eigene Wahrheit? Ich habe bei Bessarion gelernt, dass es nur eine Weisheit gibt, weil es nur eine Wahrheit gibt. Was stimmt denn nun?«, fragte Anna.

»Bei Anna muss man vorsichtig sein, sie ist eine kleine Sophistin. Brechen wir unseren kleinen Disput ab«, schlug der Mönch vor.

»Wie Ihr wünscht, aber ich möchte gern noch ihre Frage beantworten«, sagte Nikolaus von Kues.

»Nur, wenn Anna verspricht, keine Gegenfrage mehr zu stellen. Versprichst du das, Anna?«

Anna nickte notgedrungen.

»Bessarion hat recht, es gibt nur eine Weisheit und auch nur eine Wahrheit, sozusagen eine Ur-Weisheit. Aber wir nähern uns auf verschiedenen Wegen, durch unterschiedliche Vorstellungen der Ur-Weisheit. Nimm einen Amethyst und halte ihn in die Sonne, und er wird seine Farbe verlieren. Lege ihn ins Dunkle, und er wird sie wiederbekommen. Und doch ist er derselbe Stein! Adam und Eva waren die ersten Weisen, die ersten Philosophen, die ersten Schriftsteller – nenne es, wie du willst. Sie haben ihre Sünde bereut, und Gott hat ihnen verziehen. Danach hat er ihnen diese Ur-Weisheit offenbart, und sie haben diese an ihre Kinder und diese wiederum an ihre Kinder weitergegeben. Vieles ist verloren gegangen, einiges wurde wiederentdeckt durch Hermes Trismegistos, der sein Wissen Platon übergab. Ich jage wirklich nach Weisheit, denn ich suche nach den Büchern, in denen Platon seine geheime Lehre niedergelegt hat, und hoffe auf die Unterstützung des verehrten Bessarion bei dieser Jagd, bei der es auch um Schriften geht.«

»Habt Ihr deshalb …«

»Denk an dein Versprechen, Anna!«, schalt sie Bessarion bei aller Zuneigung streng.

Das Mädchen blickte zu Boden. Jetzt, wo es interessant wird, bricht Bessarion einfach ab, dachte sie verärgert. »Aber jetzt sind wir doch mitten im Unterricht!«, wandte sie ein. »Wir reden doch über Philosophie!« Annas Blick war von einer Treuherzigkeit, die wohl auch Steine erweicht hätte.

»Unser Gast ist ein viel beschäftigter Mann und hat wahrlich mehr zu tun, als mit einem kleinen, wenn auch sehr scharfsinnigen Mädchen Philosophie zu treiben!«, erklärte Bessarion bestimmt.

Aber darum ging es ihr ja gerade: herauszufinden, was den Fremden nach Konstantinopel getrieben hatte. Sollte dieser Mann die weite Reise auf sich genommen haben, nur um Bücher zu suchen, oder verbarg sich dahinter noch etwas anderes?

Nikolaus von Kues verabschiedete sich formvollendet, entschuldigte sich fast ein wenig galant bei Anna, dass er ihren Unterricht gestört hatte, und verließ die Wohnung des Abtes.

Anna kostete es große Mühe, vor Bessarion zu verbergen, dass sie in der Unterweisung nicht völlig bei der Sache war. Diesen Fremden umwehte ein Geheimnis, das sie nur zu gern gelüftet hätte!