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Palast des Alexios Angelos, Konstantinopel

Über den neuen Titel konnte sich Fürst Alexios Angelos so gar nicht freuen. Unter anderen Umständen hätte er die Ernennung zum Befehlshaber, zu einem Befehlshaber der Truppen, gefeiert, denn in der militärischen Hierarchie stand jetzt, vom Kaiser abgesehen, nur noch der Oberbefehlshaber über ihm. Und beide Ränge strebte er an, zumindest den letzten, den des Kaisers. Denn die Unentschlossenheit des Herrschers lag wie Mehltau auf dem Reich.

Dass seinem Erzfeind die gleiche Beförderung zuteilwurde, nur eben nicht im Heer, sondern in der Marine als Admiral, vergällte Alexios die Freude. Es war, als hätte man ihm einen Teller mit der herrlichsten Speise gereicht, nur dass am Rand ein Klecks Exkrement lag, der das ganze Essen verdarb.

Würde er diesen Emporkömmling denn nie hinter sich lassen? Dass er im Unterschied zu Loukas Notaras keine Dukaten für die Beförderung hatte aufwenden müssen, machte das Ganze auch nicht besser. Sein Feind verstand es, die notwendigen Reformen erfolgreich zu blockieren. Nicht einmal mit der Vergrößerung des Geheimen Rates kam er voran, ganz zu schweigen von dem Versuch, die adligen Grundherren für seine Ideen zu gewinnen!

Sphrantzes vermutete, dass Loukas geschickt die tonangebenden Männer unter ihnen entweder bestach oder in seine Handelsfirmen einbezog, was nur eine andere Form der Korruption darstellte. Zumindest war es dem Großkanzler aufgefallen, dass der älteste Sohn des Oberbefehlshabers mit den Produkten seiner Landwirtschaft am Handelsunternehmen der Familie Notaras teilnahm.

Auf dem Weg von Blachernae zu seinem Geheimen Stadtpalast in Vlanga beobachtete er den täglichen Verfall der einst blühenden Hauptstadt, dem Mittelpunkt der Welt, wie er früher dachte. Aus dem Mittelpunkt der Welt wurde der Müllhaufen der Welt. Zwischen den einzelnen Stadteilen, die sich in selbstständige Dörfer verwandelten, erstreckten sich Felder, auf denen Gemüse angebaut wurde. Parks, in denen einst die römische Oberschicht flanierte, wurden zu Ackerflächen. Obdachlose besiedelten die zahlreicher werdenden Ruinen und Müllhalden, manche von ihnen auch Misthaufen, die im Herbst und Winter etwas Wärme boten. Fälle von Kannibalismus traten auf, und der Stadtpräfekt hatte längst den Kampf gegen die Kriminalität aufgegeben, auch wenn er Soldaten patrouillieren ließ. Die Reichen beschäftigten Privatarmeen zu ihrem Schutz, der Mittelstand und die kleinen Handwerker schlossen sich zu Bürgerwehren zusammen.

In der grimmigen Hoffnung, auf dem Weg von Raubmördern angegriffen zu werden und diesem Gesindel bei der Gelegenheit den Garaus zu machen, verzichtete er auf eine Eskorte. Aber mochte es an seiner Größe, seinem entschlossenen Gesichtsausdruck, seinen Waffen, dem Kuvasz, der neben dem Pferd herlief, oder an seiner ganzen kriegerischen Person liegen, bisher hatte es niemand gewagt, ihm vor den Säbel zu springen.

Die Notwendigkeit, den Staat zu reformieren, ließ sich mit Händen greifen, und wenige widersprachen im Befund. Doch wenn es darum ging, konkrete Schritte zu planen, prasselten die Einwände wie die Pfeile feindlicher Bogenschützen zu Beginn einer Schlacht auf ihn nieder. Wut und Verzweiflung hielten sich die Waage. In Turnieren und Gelagen versuchte er, seine heiß laufenden Gedanken zu kühlen. Er trank mehr als früher.

Missmutig betrat er den Stadtpalast, da kam ihm Emilija entgegen, seine Geliebte, eine in den Künsten der Liebe erfahrene Serbin. Er hatte sie bei einer der Feiern kennengelernt, die neben den Turnieren zu den Vergnügungen einer Gruppe junger Adliger gehörten. Diese Gelage veranstalteten die Herren, so sie verheiratet waren, ohne ihre Ehefrauen, denn sie pflegten sich dabei sowohl an Ochsenfleisch und altem Rotwein als auch an jungen Frauen, die sie nach altgriechischer Sitte Hetären nannten, nach Kräften zu vergnügen.

Emilija fiel ihm sofort auf. Sie war eigensinnig, hatte Feuer und wollte nur ihn, obwohl sie es geschickt verstand, durch das Spiel mit den anderen Männern seine Lust zu entfachen und seine Eifersucht. Seit zwei Jahren lebte sie bei ihm und stand praktisch seinem geheimen Stadtpalast vor. Obwohl ganz Konstantinopel von dem Palast Kenntnis besaß, galt er deshalb als geheim, weil er offiziell nicht existierte. Nur so konnte Alexios, ein mit einer Prinzessin der Palaiologen verheirateter Mann, dieses Doppelleben führen. Wahrscheinlich wegen dieser Lebensführung, mutmaßte er, mochte ihn die alte Kaiserin, die als Gnadenbeweis die Prinzessin für ihn ausgesucht hatte, nicht mehr, sie fühlte sich beleidigt. Wohl aus verletzter Eitelkeit hielt die Alte, die ihm einmal gewogen gewesen war, nun zu seinem Erzfeind Loukas Notaras. Aber das brauchte ihn jetzt nicht zu bekümmern, empfing ihn doch seine glutäugige serbische Geliebte mit einem lasziven Lächeln. Ihre langen, jedoch kräftigen Finger fuhren wie zufällig über sein Gemächt.

»Ich habe für dich gekocht, denn ich will dich kräftig.«

Alexios dachte kurz nach, eigentlich stand ihm nicht der Sinn danach, aber die Vorstellung, den geraubten Triumph der Beförderung zwischen ihren Schenkeln zu vergessen, lockte ihn schließlich doch. »Ich bin auch kräftig, ohne zu essen!« Er schlang seine Arme um ihren Leib und packte mit den Händen ihr Gesäß.

Das beeindruckte sie indes wenig. »Aber nicht kräftig genug für das, was ich mit dir vorhabe. Ein Spiel, das du noch nicht kennst. Heute, mein Geliebter, zur Feier des Tages, will ich dir mein Geheimnis enthüllen, das allerletzte, das tiefste Geheimnis, heute sollst du die Himmelsreise auf Serbisch erleben.« Sie lächelte dazu in einer Weise, die durch ihren leichten Silberblick eine Verruchtheit andeutete, die seine Phantasie aufrichtete, und nicht nur die. Sind wir Männer nichts weiter als große dumme Tiere?, dachte er, als er wahrnahm, wie wohlig sich das Blut in seinem Penis wie das Heer zu einer Schlacht versammelte. Doch er warf die Grübeleien beiseite wie den Säbel, den er abgeschnallt hatte. Sie zog ihn die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Dort hatte sie vor dem Bett eine kleine Tafel angerichtet mit Wein und Wasser. Für den Hund lag auf einem Blechteller am Boden ein großer Knochen, an dem noch viel Fleisch hing, und ein gefüllter Napf stand daneben. Înger, vom Ausflug durstig, machte sich sofort über das Wasser im Napf her, den er gierig austrank. »Warte«, hauchte sie noch. Dann war sie verschwunden. Alexios knüpfte das Wams auf, zog es aus, warf es rechts neben sich und ließ sich in den Lehnstuhl fallen. Er nahm einen großen Schluck Wein.

»Du solltest doch warten«, schalt Emilija ihn bei ihrer Rückkehr. Mit Blick auf den Kuvasz, der behaglich den Knochen abnagte, fügte sie tadelnd hinzu: »Männer sind wie Hunde, sie müssen alles sofort haben.« Sie trug nur noch einen langen Mantel aus durchsichtiger Seide, der mehr enthüllte, als er verhüllte. Er liebte ihre großen serbischen Brüste. »Ein so kleines Land und so große Brüste«, sagte er.

»Komm, trink, Geliebter.« Sie füllte Wein nach und nahm ihren Kelch, den sie vorher schon gefüllt hatte. Er wunderte sich kurz darüber, doch schon stießen sie an. Fort waren der Ärger und die Sorgen, fort die Wut auf Notaras und das Leiden an dem Niedergang des Reiches. Jetzt zählten nur noch ihre Lippen. »Wer zuerst seinen Krug geleert hat, darf sich vom anderen etwas wünschen«, rief sie ihm zu. Und Alexios trank, denn er wollte gewinnen. Er konnte ohnehin verlangen, was er wollte, doch so war es spielerischer und damit lustvoller. Er schleuderte seinen Kelch fort zum Zeichen, dass er gesiegt hatte. Emilija machte große Augen. »Ich habe noch nie einen Mann so schnell trinken sehen. Ich hole jetzt den Braten, und du denkst darüber nach, was ich tun soll. Überlege gut, denn du kannst alles haben, was du willst, alles! Als Vorspiel zur serbischen Himmelsreise.« Sagte es und eilte aus dem Schlafzimmer, und er sah ihrem wippenden Hintern nach, der, obwohl sie sich entfernte, immer größer wurde. Die Welt begann sich um ihn zu drehen. Wie ein Strudel, der ihn in sich hineinzog. Eine Weile begleitete ihn noch das Jaulen des Hundes, das verklang. Und dann hörte er nur noch ein Geräusch, ein fortwährendes Hämmern. Er brauchte eine Weile, bis ihm bewusst wurde, dass jemand mit dem gusseisernen Schlegel unausgesetzt an die Palasttür schlug. Wieso machte keiner auf, fragte er sich. Wo sind die Diener? Er wollte nach ihnen rufen, doch die Zunge gehorchte ihm nicht, ein Stück wuchernden Fleisches in seinem Mund. Wo ist Emilija? Er erhob ich schwankend, dann taumelte er aus dem Zimmer, ging zur Treppe, musste aber den Abstand falsch eingeschätzt haben, jedenfalls stürzte er die Stufen hinunter und wunderte sich darüber, dass er so betrunken war, mehr aber noch über die Tatsache, dass der Sturz ihm keine Schmerzen verursachte. Mühsam stand er auf und schwankte zum Portal. Der Riegel war nicht vorgelegt. Er riss die Tür auf und sah vor sich einen Rücken, einen schwarzen Mantel. Der Besucher schien gerade wieder gehen zu wollen, da offensichtlich niemand öffnete. Er schlug mit seiner Hand den Fremden gegen die Schulter. Der wandte sich um, riss die kleinen Augen auf und rief auf Lateinisch: »Fürst Alexios Angelos? Was ist mit Euch? Wo sind Eure Diener?« Dann griff der Fremde dem Fürsten, dem die Knie weich wurden, unter die Arme und zog ihn ins Haus.

»Diener! Heh! Diener!«, brüllte der Fremde so laut, dass es sogar durch die Watte drang, die Alexios in den Gehörgängen zu haben meinte. Niemand im Haus rührte sich. Alexios spürte, wie die Sinne ihn verließen. Vergiftet, dachte er. Die Schlange, fluchte er in Gedanken. Es blieb unklar, ob der Fluch Barbara oder Emilija galt. Aber die Serbin hatte nicht zu viel versprochen, stellte er bitter fest, ich erlebe wirklich etwas, das vollkommen neu für mich ist. Der Fremde drückte ihm den Unterkiefer herunter und stieß ihm seinen Finger in den Mund, so tief es ging. Der Fürst erbrach sich.

»Wo ist die Küche?«, drang es aus weiter Ferne zu ihm. Alexios ließ seinen Kopf nach links fallen, weil seine Arme ihm den Dienst verweigerten. Der Fremde zog ihn in die angedeutete Richtung. In der Küche nahm er einen Pokal, schüttete Salz hinein und goss Wasser aus dem Fass dazu, dann rührte er, bis sich das Salz einigermaßen aufgelöst hatte.

»Trinken!« Befehlen und Alexios den salzigen Trank einhelfen, waren eins. Der Fürst spuckte. »Trinken!«, brüllte der Fremde. Alexios gehorchte. Kaum hatte er den widerlich schmeckenden Pokal geleert, musste er sich erneut übergeben, wieder und immer wieder. Der Würgereiz kam in rasch aufeinanderfolgenden Wellen. Nachdem er sich beruhigt hatte, gab der Fremde ihm erneut Salzwasser zu trinken. Jetzt spie er die reine Galle aus. Aus den Augenwinkeln erkannte der Fürst, dass einer seiner Diener, Andreas, erschien. Der Domestik wollte gerade auf den Fremden losgehen, weil er bei dem Anblick, den beide boten, wohl nichts anderes denken konnte, als dass der Fremde seinen Herrn töten wollte. Alexios versuchte durch Zeichen seinem Diener verständlich zu machen, dass der Fremde ihm half. Durch das wirre Gestikulieren des Fürsten wurde der Fremde auf den Diener, der auf ihn losging, aufmerksam. Andreas zog ein Messer. Alexios schüttelte den Kopf, doch das interessierte den Diener nicht. Wahrscheinlich, dämmerte es dem Fürsten, steckte der Domestik mit der Giftmörderin unter einer Decke und sollte nur nachsehen, ob der Fürst tot war und wenn nicht, etwas nachhelfen. Andreas gehörte zu den beiden neuen Dienern, die auf Emilijas Wunsch in den Palast gekommen waren.

Soll es das jetzt gewesen sein?, dachte Alexios. Der Fremde wirkte wie ein Gelehrter, nicht wie ein Kämpfer, nicht einmal wie ein Raufbold.

»Heilige Muttergottes«, entfuhr es dem in einer Sprache, die ihn an Otto von Weißenburg erinnerte. Wo der jetzt wohl stecken mochte?, fragte er sich zärtlich und vollkommen unpassend angesichts der Situation, in der er steckte. Er musste sich zwingen, gegen den Druck und die Lähmung anzukämpfen, sich und dem Fremden zu helfen. Seine Instinkte trieben ihn, sich nicht gehen zu lassen. Das Erbrechen hatte ihm etwas Erleichterung verschafft. Geschickt wich der Fremde den Messerattacken des Dieners aus, griff nach dem großen Schaumlöffel und stieß ihn mit aller Gewalt in dessen Mund, dass die vordere Zahnreihe splitterte, der Domestik vor Schmerz aufschrie und Blut spuckte. Das versetzte ihn allerdings in Wut. Mit wilden Angriffen versuchte er, den Fremden zu treffen. Der ging rückwärts, bis er an einen Tisch stieß, der an einer Wand stand. Jetzt kam er nicht mehr weg. An der Freude in den Augen seines Widersachers erkannte er das Aussichtslose seiner Lage. »Jetzt geht es dir an den Kragen, erst dir, dann dem Fürsten.« Alexios erkannte am leeren Blick des Mannes, der ihm ungewollt zu Hilfe gekommen war, dass er Griechisch nicht verstand. Verdammt, durchfuhr es Alexios, er ist ein Bote Giuliano Cesarinis. Mit aller Kraft erhob sich der Fürst, der Diener drehte sich kurz nach ihm um, doch Alexios musste sich am Tisch festhalten, um nicht zu stürzen. Alles drehte sich um ihn. Er vermisste plötzlich seinen Hund. Wo war Înger, sein Schutzengel auf vier Pfoten? Der Kuvasz ließ ihn sonst nie allein, schon gar nicht in gefährlichen Situationen. Auf dem stoppeligen Gesicht des Dieners rekelte sich ein verworfenes Lächeln, schmutzig, voller Befriedigung. »Gib’s auf, Fürst. Es ist zu Ende. Ich soll Euch von der Königin grüßen.« Da begriff Alexios Angelos, dass Andreas der Drahtzieher war, nicht Emilija, die hatte er nur zu diesem Zweck angeheuert, und er spürte, dass ihm die Kraft fehlte, den Mann aufzuhalten. Als der stoppelige Kerl sich wieder dem Fremden zuwandte, um ihn zu töten, warf der ihm das Salz, das er geistesgegenwärtig aus dem in seiner Nähe stehenden Fass gegriffen hatte, in die Augen. Andreas schrie auf, ließ das Messer fallen und schöpfte mit beiden Händen Wasser aus dem Bottich, das er sich in die Augen warf, um das Salz herauszuspülen. Alexios griff nach einem Küchenmesser, das in seiner Reichweite lag, und stieß es mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, dem falschen Diener von hinten in die Seite. Der zog scharf die Luft ein und brach zusammen. Alexios hatte zielsicher die Leber getroffen. Nun wurde ihm schwarz vor Augen.