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Notaras-Palast, Konstantinopel

Loukas verbrachte jede Minute, die er erübrigen konnte, bei seiner Frau, die sich noch sehr schwach fühlte und auch nur sehr langsam wieder zu Kräften kam, und bei seiner Tochter, um die sich die Amme kümmerte. Auch Thekla teilte ihre Zeit zwischen ihrer Tochter und ihrer Enkelin auf. Selbst Nikephoros hielt sich verdächtig oft in der Zimmerflucht seines Sohnes auf. Wie hatte er doch seine Enkelin genannt, als er sie das erste Mal sah und auf seinen Arm nahm? Meine Kaiserin. Und dann hatte er zu Loukas’ Überraschung hinzugefügt: »Eines Tages wird sie über die Welt herrschen!«

Zum ersten Mal seit jenem schrecklichen Tag, an dem er Demetrios geschlagen hatte, wich die Schuld, die sich wie ein grauer Film über die Augen des Alten gezogen hatte, und er schaute frei, klar und offen. Im Stillen dankte Loukas seiner kleinen Tochter dafür, dass sie, ohne es zu wissen, ihre Umgebung verzauberte und vermenschlichte. Ja, sein Vater hatte recht, Anna war eine Kaiserin, eine Friedenskaiserin.

Mehrmals am Tag erkundigte er sich bei der Amme, ob es seiner Tochter auch an nichts fehle und ob alles in Ordnung sei. Immer wieder betrachtete er das kleine Wunder und bekam doch nie genug von dem Anblick, von dem kleinen Gesicht mit den lustigen runden Augen, dem Näschen, den großen Ohren, dem golden Flaum auf dem Köpfchen, zart wie ein Hauch. Wie hilflos doch der Mensch zur Welt kam, angewiesen auf Fürsorge und Liebe, wie verletzlich und des Schutzes bedürftig! Loukas hatte diese Obhut erfahren, Demetrios ebenfalls, und so sollte es auch Anna ergehen.

Eines Abends bat Nikephoros seinen Sohn in sein Arbeitszimmer. Er wirkte müde und voller Sorgen, die in den Falten seines Gesichts hingen wie Motten in alter Kleidung. Er faltete die Hände, bevor er zu sprechen begann. »Meine Spitzel berichten mir, dass große Unruhe im Kaiserpalast herrscht.«

»Warum?«

»Murad zieht mit einem Heer gegen Konstantinopel.«

Loukas dachte unwillkürlich an seine Frau und an sein Kind. »Anna ist kaum geboren! Und das Erste, was sie auf der Welt hört, wird Kriegslärm sein!« Hass gegen Murad, aber auch gegen Johannes und gegen Alexios regte sich in seinem Herzen. Konnten sie die Waffen nicht ruhen lassen? Begriffen sie denn nicht, dass der Mord nur den Mord, das Töten nur das Töten nach sich zog? Was für ein kindisches, eitles, brutales und gieriges Wesen hatte Gott mit dem Menschen geschaffen? Wie konnte er nur so versagen? Miteinander vermochten sie reich zu werden und Handel zu treiben, weshalb mussten sie dann Not und Leid übereinander bringen? Hatten sie die Gaben, die sie über die Tiere erheben sollten, nur bekommen, um schlimmer als diese zu sein? Loukas rang um Fassung, denn nun kam es einzig und allein auf einen kühlen Kopf an. Er hatte Vorkehrungen zum Schutz seiner Familie zu treffen. »Ich werde unsere Flotte beladen lassen. Sie wird bereitgehalten, jederzeit auszulaufen.«

Der Alte hob die Hand. »Das sieht wie Flucht aus. Lass nur Fracht auf der Nike verstauen und halte auch nur sie auslaufbereit. Das kann unauffällig geschehen.«

»Gut«, lenkte Loukas ein, beschloss aber im Stillen, ein paar Tage später noch ein zweites Schiff vorzubereiten.

»Wir werden nicht abseitsstehen können.« Nikephoros sah seinen Sohn prüfend an. »Konstantinopel ist unsere Heimat«, fügte er mahnend hinzu. Es war ihm nicht entgangen, dass die politischen Erfahrungen, die Loukas gemacht hatte, das Engagement seines Sohnes für die Stadt in Grenzen hielten. Loukas hatte sich von allen öffentlichen Angelegenheiten zurückgezogen und kümmerte sich nur um das Geschäft. Ekel empfand er gegenüber der Politik, in der es nur darum ging, den anderen zu benutzen, um Macht zu gewinnen.

»Ich weiß, Vater.« Er war zwar bereit, für die Stadt zu kämpfen, aber die Heimat würde er notfalls aufgeben, wenn es das Wohlergehen seiner Familie erforderte. Und nicht nur dies wusste Loukas Notaras in diesem Moment, sondern auch, dass er sich nicht aus der Politik zurückziehen durfte, sondern sich einmischen musste, schon um seiner Tochter willen, die doch für den schlimmen Zustand der Welt, in die sie hineingeboren wurde, nichts konnte.

Der Diener hatte den alten hageren Mann im Namen seines Sohnes gebeten, das Kloster zu verlassen, und führte ihn auf der Straße zum Charisius-Tor. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel herab. Der Juni erreichte bereits die volle Kraft des Sommers. Der Alte in der schwarzen Mönchskutte, der einen runden dunklen Hut trug, schritt durch das Tor. Hinter ihm erhob sich die hohe Innenmauer, die von achteckigen und viereckigen Türmen unterbrochen wurde. Nachdem er gut zwanzig Schritte zurückgelegt hatte, stieg er gewandt die Steinstufen hoch zum Wehrgang der Außenmauer. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Oben erwarteten ihn inmitten der Soldaten und Offiziere seine Frau und sein Sohn. Johannes trug den Ornat des Kaisers, Helena ein rotes Kleid, das ihre Haare wie Weißgold erscheinen ließ. In einer stummen Geste, in der sich Ratlosigkeit mit Scham verband, kniete Johannes VIII. Palaiologos, Regent von Konstantinopel und Herrscher über Byzanz, vor seinem Vater nieder. Die Demut des Sohnes erschütterte den alten Kaiser. Die Geste bedeutete: Du hattest recht, Vater. Es ist alles so eingetroffen, wie du vorausgesagt hattest, jetzt benötige ich deinen Rat.

Manuel legte im Vorbeigehen wie in einer Andeutung seine Hand auf das schwarze Haar seines Sohnes, der seinen in der Spitze zulaufenden Brokathut nach Art der Ritter in der rechten Hand hielt. Seine Haltung erinnerte an die eines Ritters vor seinem Herrn. Der alte Kaiser, der sich so sehr danach sehnte, nichts weiter als der Mönch Matthaios zu sein, trat an die Zinnen und schaute hindurch. Tief unter ihm lief ein zweiter Umgang hinter einer Brustwehr entlang. Jenseits der zinnenbewehrten dritten Verteidigungsanlage trennte sie nur noch ein breiter Graben, der teils mit Wasser geflutet werden konnte, von den Angreifern, die der Alte mit bloßen Augen kaum zu erkennen vermochte. Er nahm nur bunte Kleckse im Weichbild der Stadt wahr, deren Anzahl ihn allerdings erschreckte. Warum unterwarf ihn Gott nur diesen Prüfungen? Ihn, dessen Herz nur noch nach Ruhe lechzte?

In einer Entfernung von ein bis zwei Meilen entstand eine Stadt aus verschiedenfarbigen Zelten, von deren Mittelstangen bunte Wimpel im Wind flatterten. Zwischen ihrem Feldlager und der Stadtmauer errichteten Türken einen mannshohen Wall aus Steinen und Erde. Janitscharen bewachten die Arbeiter beim Schanzen. Melder ritten hin und her. Vergaß man, dass sich die Truppen zum Sturm auf die Stadt rüsteten, hatte der Anblick dieser munteren Geschäftigkeit etwas durchaus Fröhliches. Und der Horizont spuckte aus seinem Riesenbauch immer neue Truppen aus. Turbane und Hosen und Tuniken in allen Farben erweckten den Eindruck, als versammele sich eine überwältigende Farbenpracht zum Sturm auf die schlichte dunkelrote Stadtmauer. Aber nicht nur Krieger gehörten zum Belagerungsheer, Manuel machte auch Bettelmönche aus, Sufis, Händler, Wahrsager und Beutejäger aller Art.

»Großer Gott, seit wann geht das schon so?«, fragte er.

Johannes hatte sich erhoben und stand links vom Kaiser, Helena rechts von ihm.

»Seit gestern. Vor drei Tagen erhielten wir die Nachricht, dass sich ein großes Heer aus Rumelien unseren Mauern näherte. Wir schickten Sphrantzes als Gesandten. Er kehrte, ohne Audienz beim Sultan oder beim Großwesir erhalten zu haben, zurück. Ein Kanzlist übergab ihm lediglich ein Schreiben des Großtürken, der uns auffordert, die Stadt zu übergeben. Kämen wir dem nach, dürften wir auf seine Gnade rechnen.«

»Und wenn nicht, wird die Stadt drei Tage lang geplündert und gebrandschatzt, wie es Belagererrecht ist«, sagte Manuel. Johannes nickte.

»Das wäre der Untergang von Konstantinopel!«, sagte Manuel. Seine Stimme hatte schon lange nicht mehr so kräftig geklungen wie in diesem Moment. Es war jetzt nicht die Zeit, über Fehler zu philosophieren oder die Schuldfrage zu klären. Der Kaiser würde jeden Mann brauchen, da durfte niemand gedemütigt werden.

»Unsere Wehrmauer ist stark genug, unser Schwertarm auch! Wir verteidigen das Neue Rom von dieser äußeren Mauer aus. Vertrauen wir dem Bollwerk und uns selbst, Rhomäer! Werden wir zum Bollwerk, an dem die Horden der Ungläubigen zerbrechen!«, rief er laut in die Runde. Jeder Zoll ein Kaiser, dachte seine Gemahlin, die Kaiserin Helena, voller Bewunderung. In den Augen der Generäle, aber auch der Soldaten, die in der Nähe standen, flackerte Zuversicht auf. Die kaiserliche Haltung des alten Mannes, die scheinbar im Gegensatz zur Mönchskleidung stand, erhöhte die Wirkung seiner Worte. Plötzlich bekam seine Gestalt eine zeitlose Aura, verklärte er sich zum caesar aeternus, zum ewigen, die Zeiten überdauernden Herrscher. Trotz seines Alters gingen von ihm Tatkraft und Hoffnung aus. Von ihm, nicht von seinem Sohn.

»Was sagt Loukas Notaras? Er kennt Murad.« Johannes wich dem Blick seines Vaters aus. Zornesröte stieg in das Gesicht des alten Kaisers.

»Du hast es nicht einmal für nötig befunden, seinen Rat einzuholen? In dieser Situation können wir es uns nicht leisten, auch nur auf eines der wenigen Talente, die in unseren Mauern leben, zu verzichten.« Manuel schüttelte den Kopf, dann blickte er wieder zu den Türken. Er konnte die beschwingte Stimmung im Lager der Feinde bis zu seiner Zinne hinauf spüren. Und der Horizont spie immer noch mit Leichtigkeit Truppen aus, als wäre er es, der den Nachschub erschuf. Wieder und immer wieder. Nichts als Gewalt hat Muhammad in die Welt gebracht, dachte der Kaiser. Wie viel besser war doch Jesus Christus, der Frieden und Nächstenliebe gepredigt hatte und nicht Mord und Unterdrückung. Allerdings hielten sich diejenigen, die sich nach ihm benannten, häufig nicht daran, sondern folgten in ihrem Tun eher Muhammad als Jesus. Plötzlich glaubte er, jedem einzelnen Türken ins Antlitz schauen zu können. Er fühlte ihre Gesichter. Sie waren nicht brutal, sie waren nur rücksichtslos, wie junge Tiere, die wussten, dass ihre Zeit nun anbrach. Ihm gegenüber standen die neuen Herren der alten Welt. Und nichts würde sie aufhalten können. Ihm schauderte, dennoch würde er sich aufraffen und noch einmal der Kaiser werden, den die Stadt brauchte. Wichtiger als alles, selbst als sein Seelenheil, war es, das Reich der Rhomäer, die Stadt zu retten. Ein letztes Mal wollte er es noch versuchen. Darin bestand seine Aufgabe vor Gott. So lange schon. Er versuchte weiterzudenken, festzulegen, was jetzt zu tun war, doch es gelang ihm nicht, er kam nicht vorwärts, so als seien seine Gedanken festgefahren, im Sumpf stecken geblieben. Er strengte sich an, etwas zu sagen, aber es fielen nur dumpfe Laute aus seinem hängenden Mund. Das Letzte, was er sah, bevor er in ein Meer von Licht stürzte, waren die schreckgeweiteten Augen seiner Frau. Dann aber vernahm er die Engel, die Cherubim und die Seraphim, die hoch oben in der Kuppel der Hagia Sophia Christus sangen. »Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth«, verkündete der Schlag ihrer sechs Flügel. Und Christus sah ihn an aus der Kuppel der Hagia Sophia und sagte: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Die Engel legten seinen erstarrten Leib auf eine Wiese, auf der eine Bank stand, auf der wiederum eine Frau saß, die Ähnlichkeit mit seiner Gemahlin hatte. Sie sprach lateinisch zu ihm: »Fahret fort, die Gerechtigkeit zu üben, und duldet keinen Zwiespalt im Herzen, damit ihr eingehen werdet zu den heiligen Engeln! Glückselig seid ihr alle, wenn ihr die kommende große Trübsal aushaltet und wenn ihr euer Leben nicht verleugnet.«

Man brachte den Kaiser in den Palast und rief die besten Ärzte, auch Martina Laskarina, denn Manuel II. Palaiologos hatte der Schlagfluss ereilt. Doch sein Herz schlug wieder, auch wenn sein Körper gelähmt war und die Lippe wie ein Lappen an der linken Seite nach unten hing. Solange dieses Herz schlug, wusste Martina Laskarina, würde Byzanz nicht untergehen. Diese Erkenntnis bürdete der zierlichen Ärztin einen übermächtigen Druck auf. Plötzlich befand auch sie sich im Krieg.

Nachdem sie den Kranken versorgt hatte und nichts mehr zu tun blieb, begab sie sich zum Palast der Notaras. Sie bat darum, die beiden Männer sprechen zu dürfen, was ihr umgehend gewährt wurde, denn sie standen so tief in der Schuld der Ärztin, dass sie ihr nichts abschlagen würden. Man führte sie in den Garten. Unter einem Palmenwedel, der Schatten spendete, standen ein paar Stühle und ein achteckiger Tisch, der mit Silberplättchen belegt war. Der Brunnen, in dessen Mitte ein dicker Fisch aus Gold unablässig Wasser aus dem weit aufgerissenen Maul spie, kühlte die Temperatur und erfrischte die Luft und dadurch die Menschen. Vater und Sohn begrüßen die Ärztin. Sie hielt sich nicht bei der Vorrede auf, sondern beschrieb den beiden Männern den Zustand des alten Kaisers.

Nikephoros machte die Nachricht traurig. Fast sein ganzes Leben hatte er mit Manuel verbracht. Gemeinsam hatten sie den Westen bereist. Auf der Suche nach Unterstützung für ihr bedrängtes christliches Reich hatte ihr Weg sie als Bittsteller sogar bis nach London geführt. Alle Könige und Fürsten priesen Manuel Palaiologos als klug und verehrungswürdig, als einen Mann von Welt, doch Hilfe versprach keiner. Freundliche Worte und ein paar persönliche Geschenke wie Almosen bildeten die ganze Ausbeute, die seine zweijährige Reise eingebracht hatte. Beide, der Kaiser und sein Dolmetscher, waren ernüchtert und schockiert von ihrer Reise zurückgekehrt. Außer großen Worten, Desinteresse und Verrat hatten sie vom Westen nichts zu erwarten.

Und nun lag der Kaiser da, gelähmt wie sein Reich. Als Angehörige des Hochadels kannte Martina Laskarina die Verhältnisse am Hof, auch wenn sie sich nicht sonderlich für die Ränke und Intrigen im Blachernenviertel interessierte.

»Bleibt nicht abseits, sondern helft, das Reich zu retten. Das wäre Manuels Wille. Jeder sieht doch, Johannes ist zu schwach und sein begabter Bruder Konstantin noch zu jung«, drang sie in die beiden Männer.

»Jeder Grieche und Rhomäer, aber auch die Lateiner in unseren Mauern werden ihren Beitrag leisten müssen. Und wir wollen es tun«, antwortete Loukas, während sein Vater in Gedanken an Manuel, den er einen Freund genannt hätte, wäre er nicht der Kaiser gewesen, versunken war.

»Wie geht es mit ihm weiter? Wird er den Schlag überwinden?«, fragte Nikephoros leise.

Die Ärztin hob vage die Hände. »Wir können nur beten«, sagte sie. Noch in keinem Krankheitsfall hatte sie diese Wendung gebraucht, aber diesmal lagen die Dinge anders. Diesmal hatte es nicht nur den Menschen getroffen, sondern mit und durch ihn den ganzen Reichskörper.

Und eine Frau betete unausgesetzt, seitdem die Türken die Stadt belagerten. Das entsprach eigentlich nicht ihrer Art. Doch zu gewaltig war der Hass, der in Sophia von Montferrat, der vernachlässigten Gemahlin des Kaisers Johannes VIII., wütete. Konstantinopel stellte für sie nicht mehr als ein großes Gefängnis dar, in dem sie langsam bei lebendigem Leib verfaulte. Jeder, der dieses Gefängnis sprengen würde, kam ihr recht, selbst die Türken. Auch wenn sie unter den Trümmern des einstürzenden Gebäudes begraben werden würde, würde sie den Zusammenbruch bejubeln! So groß war der Hass, dass er jede menschliche Regung in ihr mit Frost überzog. Sophia hatte nicht einmal mehr Mitleid für sich selbst übrig.