38
Heerlager bei Varna, Bulgarien
Hinter ihnen lag Varna. Das Kreuzfahrerheer hatte sein Lager im hügeligen Gelände aufgeschlagen. Vor dem Zelt des Königs inmitten der Zeltstadt saßen um das Lagerfeuer König Wladislaw, der Legat Cesarini, Johann Hunyadi, Alexios Angelos und zwei polnische Ritter aus dem Gefolge des Königs. Von fern blinkten die Sterne in der kalten Novembernacht auf die Männer, die sich in ihre Pelze hüllten, herab. Es gibt nichts Einsameres als ein Lagerfeuer, dessen Knacken in trüber Stimmung verklingt, dachte Alexios. Er schämte sich dafür, dass immer noch keine Unterstützung aus Konstantinopel eingetroffen war und der Kaiser Wortbruch beging. Auch Cesarini hoffte auf das Eintreffen der päpstlichen Flotte mit vielen Kriegern. Er ahnte nicht, dass der Papst keinen Mann mehr rekrutieren konnte, da der englische und der französische König sich auffällig zurückhielten, und sich deshalb darauf beschränkte, mit seiner Flotte in der Propontis und im Bosporus zu kreuzen, um dem Sultan den Übergang nach Rumelien zu verlegen. Hunyadi fluchte auf den verräterischen Despoten Georg Brankovic, der mit dem Sultan einen Separatfrieden geschlossen hatte und nicht nur davon absah, Truppen zu stellen, sondern noch dazu den Albaner Skanderbeg daran hinderte, zu Hunyadis Truppen zu stoßen, indem er mit seiner Streitmacht den Weg nach Varna blockierte.
In ihr Schweigen trat Otto von Weißenburg. »Meine Herren, kommt mit, das müsst ihr gesehen haben!« Sie erhoben sich und folgten dem Deutschen. Alexios hoffte, dass sie durch Löwenmut dennoch mit ihrer kleinen Streitmacht von ungefähr zwanzigtausend Mann gegen die Türken siegen konnten, wenn nur der Sultan mit seinen anatolischen Truppen jenseits des Bosporus gebunden blieb. Sie gingen eine ganze Weile, ehe sie auf eine Anhöhe traten. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, glaubte er, dass ihn der Schlag treffen würde. Vor ihm lag die Ebene, die zu den Bergen anstieg. Auf den Hügelkuppen breitete sich ein riesiges türkisches Lager aus.
»Hier soll uns also unser Schicksal ereilen!«, stellte Hunyadi fest.
»Wir können hier nicht kämpfen. Wir stehen unten im Tal, und sie stürmen vom Berg aus auf uns ein«, gab Otto zu bedenken.
»Ja, Bruder, nicht nur die Türken, auch das Gelände ist unser Feind. Hinter uns ist das Meer. Wir kommen hier nicht weg. Uns bleibt nur, die Schlacht anzunehmen. Was soll’s? Jeder Ort ist gut zum Sterben«, sagte Hunyadi fast zärtlich.
»Wo kommen die bloß alle her?«, entfuhr es dem König. Cesarini sprach aus, was Alexios nur zu denken wagte. »Dem Antichrist ist es gelungen, mit seinen anatolischen Truppen überzusetzen.«
»Ihr kennt den Bosporus! Warum ist die Blockade nicht gelungen?«, fuhr der König Alexios an.
»Ich weiß es nicht«, gab der Fürst kleinlaut wie ein Schüler von sich.
An einem aber zweifelte er nicht im Geringsten, dass dabei wieder einmal Verrat im Spiel gewesen war. Das Grundübel der Christen. Hunyadi hielt sich indes nicht mit einer nutzlosen Diskussion auf, sondern zählte ungerührt die Feuerstellen, um in etwa die Mannschaftsstärke des osmanischen Heeres zu ermitteln.
»Wenigstens achtzigtausend Streiter, wenn nicht hunderttausend.« Wladislaw schien in sich zusammenzufallen.
»Ein hartes Stück Arbeit«, sagte Otto von Weißenburg. Leicht werden wir nicht sterben, dachte Alexios. Er fürchtete sich nicht vor dem Tod, sondern davor, nicht mehr für sein Kind da sein zu können. Ioanna hatte ihm geschrieben, dass sie schwanger war. Jetzt, wo Gott ihn vor eine so große Aufgabe stellte, wollte er ihn gleichzeitig vernichten. War das die Strafe für seine Sünden? Für sein verfehltes Leben? Das Wesen, das ihm damals die Macht verheißen hatte, hielt er inzwischen für einen Abgesandten des Teufels. Wie bitter war es, im Angesicht des Todes auf ein verfehltes Leben zurückblicken zu müssen!
»Was sollen wir bloß tun?«, fragte der König mutlos.
»Was schon? Kämpfen! Wenn jeder von uns fünf von denen da den Garaus macht, haben wir gewonnen«, verkündete Hunyadi, als sei dies nur eine Frage der Arithmetik.
»Morgen, wenn wir zur Schlacht antreten, entscheidet sich das Schicksal der Christen auf dem Balkan. Mit Gottes Hilfe werden wir siegen, oder Er wird den Türken zum Würgeengel machen, zum Vollstrecker seiner Strafe. Die Orthodoxen, die Byzantiner und die Serben haben uns verraten. Das sagt alles über den Zustand ihrer Kirche! Wird Gott sich ihrer erbarmen? Hier stehen treue Söhne der römischen Kirche, die für ihre orthodoxen Brüder kämpfen wollen, von denen sich keiner sehen lässt! Aber wie dem auch sei, wir streiten morgen für die Ehre Christi«, predigte Cesarini mit einer festen und vollen Stimme, die man dem kleinen Mann nicht zugetraut hätte.
Alexios, der sich bis jetzt aus Scham abseits gehalten hatte, trat zu seinen Gefährten.
»Es steht mir nicht zu, dem Herrn Kardinal zu widersprechen. Er hat in allem recht, und der Verrat meiner Brüder ist ein Feuer in meinem Herzen. Aber eines soll nicht vergessen werden, dass sechzig Männer aus Konstantinopel für die Ehre der Rhomäer streiten. Wir werden nicht wanken!« Cesarini ging auf Alexios zu und legte ihm die Hand auf den Kopf, wozu er sich allerdings auf die Zehenspitzen stellen musste. »Du sollst gesegnet sein!«
»Meine Herren, die Nacht wird kurz. Um vier Uhr wird der Kardinal einen Feldgottesdienst feiern, danach nimmt das Heer Aufstellung«, befahl der König.
In der Nacht machte Alexios kein Auge zu, denn er dachte an seine Frau. Hatte er sein Leben vergeudet? Er bat Gott um Verzeihung und um eine zweite Chance, um seines Kindes willen.
Um sechs Uhr morgens standen sich die beiden Heere gegenüber. Die Türken nahmen Aufstellung in Form eines Halbmondes. Im Zentrum stand die Elitetruppe der Janitscharen, schwerbewaffnete Fußsoldaten in ihren langen Dolamas in Blau, Rot oder Gelb. An der rechten und linken Spitze die Sipahi in ihren roten Mänteln, zu Pferde und mit Lanzen bewaffnet. Ihre Aufgabe bestand darin, die Flügel des Feindes in Auflösung zu bringen, damit die Janitscharen dann ein vollkommen verwirrtes Heer massakrieren konnten. Vor ihnen hatten die Hilfstruppen Aufstellung genommen, Freiwillige, die für Beute kämpften.
Für Hunyadi indes stellte diese Aufstellung keine Überraschung dar. Er kannte die Taktik des Feindes hinlänglich. In der Mitte des christlichen Heeres stand hinter den Fußtruppen der König mit seinen Rittern und Alexios Angelos. Hunyadi mit seinen Drachenrittern, seinen böhmischen und deutschen Kriegern, behielt es sich vor, als Reserve dort einzugreifen, wo das Heer wankte oder in Unordnung geriet. Sie hatten nicht genügend Männer, um überall gleich stark zu sein, also mussten sie rechtzeitig an gefährdeten Abschnitten für Verstärkung sorgen.
Der Himmel klarte langsam zu einer freundlichen Bläue auf. Die Sterne verabschiedeten sich nach und nach, fast ein wenig widerwillig, als würde man sich nicht wiedersehen. Die Heere standen sich stumm gegenüber. Eine Stunde lang geschah nichts.
»Sie trauen sich nicht anzugreifen«, sagte Alexios zum König.
»Sie denken, wir sind mehr«, antwortete Wladislaw, dem man die Anspannung anmerkte.
»So wollen wir kämpfen, als seien wir mehr!«, entgegnete Alexios ruhig. Er hatte kaum geendet, da wurde es still. Kein Luftzug regte sich. Ihn beschlich ein unheimliches Gefühl. Nach einiger Zeit blies ihm Wind ins Gesicht, der an Stärke zunahm, bis er plötzlich pfiff und heulte und sich allmählich zu einem gewaltigen Sturm auswuchs. Die Türken, die im Schatten des Gebirges standen, verschonte er, während er über die Christen im Tal hinweggaloppierte, sie stieß und schlug und trat.
Alexios hatte das Gefühl, dass der Wind sein Pferd in die Knie zu zwingen drohte. Er duckte sich unter den Böen und hielt seinen Kopf an den Hals des Tieres. Wie eine erste Angriffswelle, dachte er. Hatte sich selbst die Natur gegen sie erhoben? Wollte Gott sie vernichten? Als der Sturm sich legte, schaute der Fürst um sich. Das Heer war in Unordnung geraten. Bis auf die Standarte des heiligen Georg hatte der Sturm alle Feldzeichen des christlichen Heeres zerstört. Das erschwerte dem unverwüstlichen Hunyadi, die Truppen zu ordnen, da sich jeder Kämpfer an seinem Feldzeichen orientierte.
Wladislaw ritt vor das Heer und hielt eine kleine Rede, um die Männer aufzurichten, was ihm nicht besonders gut gelang. Alexios beobachtete Hunyadi beim Zuhören. Sein Gesicht blieb unbewegt, seine Augen tot. Und nicht nur seine. Als der König geendet hatte, kam Feuer in das schlanke Gesicht Hunyadis. Er zog sein Schwert. Die Reiter taten es ihm gleich, die Fußsoldaten neigten ihre Lanzen nach vorn. Auf seinem Pferd trabte er die gesamte Heereslinie ab und berührte jedes Schwert und jede Lanze, die sich ihm entgegenstreckte. Dabei rief er: »Männer, hinter uns ist das Meer, vor uns stehen die Gottlosen. Ihr habt nur die Wahl zu ersaufen, euch vom Feind erschlagen zu lassen oder zu siegen. Ich für meinen Teil wähle den Sieg. Noch heute werden wir sie in die Hölle schicken. Ihr aber werdet leben, entweder auf Erden oder bei Gott im Paradies. Was wollt ihr also, ihr habt nur die Wahl zwischen dem Guten und dem Besseren. Nie standen die Aussichten besser als heute! Kämpft, kämpft, kämpft und schickt sie in die Hölle zurück.« Das Heer jubelte.
Eine Stunde später, gegen neun Uhr, rückten endlich die Hilfstruppen zu Fuß und zu Pferde vor. Auf Hunyadis Kommando schwirrte ein Pfeilregen über sie hinweg und prasselte auf die Türken. Obwohl viele Pfeile trafen, verringerten die Geschosse die Menge der Angreifer kaum. Schon trafen die Gegner aufeinander. Die Reihen der Fußsoldaten vor ihnen hielten stand. Da stieß Hunyadi den Fürsten an. Alexios reihte sich hinter der Linie in die Schar der Drachenritter. Sie galoppierten nach rechts, weil es den Lanzenreitern Qaradscha Begs gelang, den rechten Flügel der Christen in Unordnung zu bringen. Hunyadi ritt um die Kämpfenden herum und fiel den Sipahi des Sultans in den Rücken.
Alexios wusste nicht, in wie viele rote Mäntel er sein Schwert getrieben, wie viele Helme er zerteilt hatte, als er keinen Gegner mehr fand und Qaradscha Beg fliehen sah. Um ihn herum lagen Leichen, deren Blut in das Rot ihres Mantels sickerte und von dort in den Boden, wo es Lachen bildete.
Hunyadi rief alle zusammen. Ein Meldereiter, ein langer Kerl mit einem schmalen Gesicht, teilte ihnen mit, dass der linke Flügel wankte. Hunyadi zwirbelte seinen Schnurrbart.
»Komm«, rief er Alexios zu.
Sie ritten zur Mitte zurück. Das Herz des Fürsten frohlockte, sein Gesicht strahlte, sie konnten es schaffen, mit Hunyadi, der ein erfahrener Heerführer war, hatten sie eine Chance! Die Türken mochten fünf Mal so viele Männer haben, sie hatten dafür Iancu Hunyadi. Beim König hielten sie an.
»Herr König, ich muss jetzt zum linken Flügel. Was auch immer geschieht, Ihr haltet die Mitte. Bleibt hier! Kein Angriff, kein Zurückweichen, diese Stellung muss gehalten werden! Lasst Euch zu nichts hinreißen, bleibt unter allen Umständen hier. Davon hängt unser Sieg ab!«, sprach Hunyadi auf den König ein wie auf ein krankes Fohlen.
Wladislaw ließ die Ermahnungen des Feldherrn nur mit äußerster Selbstbeherrschung über sich ergehen, schließlich war er der Oberbefehlshaber. Dann wandte sich Hunyadi an Alexios und Otto: »Ihr bleibt beim König!« Sagte es und stürmte mit seinen Reitern zum linken Flügel. Vor ihnen hielten die Fußsoldaten die Linie. Neben dem König saß in weißer Toga mit rotem Mantel, über den ein Kürass mit einem großen Kreuz gelegt wurde, Kardinal Cesarini. In der Seitentasche hing ein großes Schwert. Wladislaw umgaben polnische Ritter, junge Herren, die es kaum erwarten konnten, in die Schlacht zu preschen. Selbst ihre Pferde tänzelten vor Ungeduld und bliesen weißen Dampf aus ihren Nüstern. Alexios kannte die Ungeduld, die in den Augen der Ritter loderte, nur zu gut.
»Schaut, schaut«, rief der Kardinal.
Zur gleichen Zeit jubelte das Heer. Nur zwei türkischen Reitern gelang die Flucht. Dem gefährlichen Angriff der Sipahi hatten sie standgehalten und diese Truppe des Feindes aufgerieben. Sie konnten die Aufregung im türkischen Lager sehen. Als der König die beginnende Unordnung im feindlichen Heer wahrnahm, zog er sein Schwert. »Denkt an Hunyadis Worte!«, rief ihm Alexios zu. Der König lachte ihn wild an. »Wer ist hier der Oberbefehlshaber? Kommt, meine Freunde, und der Ruhm wird unser sein!« Verwegen sah er aus, der junge König, mit seiner kräftigen Statur, den braunen Locken, die ungebändigt unter dem silbernen Helm, den eine Goldkrone umgab, hervorquollen, dem wilden Bart, den strahlend blauen Augen. »Heute hauen wir mit unserem Schwert unser Monument in die Geschichte! Macht Platz da vorn!« Das Fußvolk stob auseinander, und Wladislaw galoppierte mit gezücktem Schwert und seinen fünfhundert polnischen Reitern auf die Mitte des feindlichen Heeres zu, dorthin, wo die Janitscharen standen. Alexios musste ihm wohl oder übel folgen. Verdammter Narr, dachte er und fühlte sich Hunyadi gegenüber schuldig, weil er den König nicht hatte aufhalten können. Alexios staunte. Das Wagestück schien zu gelingen. Sie sprengten die erste Reihe der Janitscharen. Alexios, der mit seinem Schwert rechts und links auf die türkischen Elitesoldaten einhieb, nahm wahr, dass der Feind in Panik geriet, und dankte Gott. Er war fast auf der Höhe des Königs, als dieser vom Pferd stürzte, sich rappelte, das Knie aufstellte, sich gerade erheben wollte, als ein vierschrötiger Janitschar mit einem gewaltigen Schwertstreich ihm den Kopf abhieb. Der Schreck fuhr dem Fürsten in die Glieder. Er wollte sich zu dem Türken durchkämpfen, um ihm den Kopf wieder abzujagen, doch sah er sich von so vielen Feinden umgeben, dass er nicht durchkam.
»Zurück!«, brüllte ihm Otto von Weißenburg zu. Von den Türken verfolgt, wendeten sie die Pferde. Vor ihnen schloss sich der Ring.
»Jetzt werden sie uns alle abschlachten«, rief Alexios dem Deutschen zu.
»Kann sein, aber das werden sie sich bitter verdienen müssen. Los, runter vom Pferd, wir kämpfen Rücken an Rücken.« Alexios glitt von seinem Ross und zerteilte im gleichen Moment einem Feind, der ihn gerade aufspießen wollte, den Schädel. Und während er Rücken an Rücken mit Otto von Weißenburg tapfer austeilte und sie versuchten, den türkischen Ring zu sprengen, dachte er an seine Frau und an das Kind, das vaterlos zur Welt kommen sollte. Alles in ihm bäumte sich gegen diese Vorstellung auf. Umso erbarmungsloser schlug er zu. Unweit von ihm wurden dem kleinen Kardinal Giuliano Cesarini jeweils ein Schwert von hinten und eins von vorn durch die Brust getrieben. Er sah die brechenden Augen des Mannes. Ein großer Kämpfer war er wohl nicht gewesen, aber tapfer. Während Otto rückwärtsgehend nachdrängende Feinde erschlug, mähte Alexios mit dem Schwert eine Schneise zurück zum Tal.
Als der Mann fiel, aus dessen Auge der Fürst sein Schwert zog, hatten sie die Linie durchbrochen. Plötzlich brandete im türkischen Heer Jubel auf. Otto und Alexios, die zwischen den Linien standen, schauten den Berg hinauf, da entdeckten sie den Kopf des Königs auf der Spitze einer Lanze. Du dummer, eitler Mann, dachte Alexios. Doch die Kühnheit des Königs milderte sein Urteil. Er missgönnte den Türken diesen geschenkten Triumph. Trauer ergoss sich in sein Herz. Nur etwas Glück bei ihrer Tüchtigkeit würde genügen. Es blieb den tapferen Männern versagt. Der Anblick des gepfählten Kopfes des Königs wirkte auf die Christen katastrophal. Sie gerieten in Unordnung. Als Johann Hunyadi, der gerade seine Reiter gruppiert hatte, um dem König zu Hilfe zu eilen, sah, dass sein Heer in Panik auseinanderbrach und niemand es mehr zu ordnen vermochte, wandte er sich fluchend zur Flucht. Seine deutschen und böhmischen Reiter folgten ihm. Nun stürmten die Türken los. Kämpfen konnte man es nicht mehr nennen. Ihre geordneten Abteilungen erschlugen die Christen, die sich in heilloser Auflösung befanden. Alexios sah Otto an und deutete mit dem Kopf nach rechts, zu einer kleinen Hügelgrube. Wenn es ihnen gelingen würde, dem Schlachtkessel dorthin zu entweichen, dann wären sie mit etwas Glück gerettet. Doch Glück hatten die Christen den ganzen Tag lang nicht gesehen. Alles stellte sich gegen sie. Kämpfend arbeiteten sie sich den Hügel hinauf. Dort stand ein Pferd neben der Leiche eines Sipahi, die am Boden lag. Gleichzeitig drangen von drei Seiten zehn Janitscharen auf sie ein.
»Du nimmst jetzt das Pferd und fliehst. Ich halte die Teufel auf«, befahl der Deutsche.
»Ich lasse dich nicht im Stich!«, sagte Alexios.
»Lass dein Kind nicht im Stich! Was liegt an einem alten Schlagetot, wie ich einer bin? Sterbe ich nicht heute hier, dann morgen woanders.«
»Denkst du, ich habe so wenig Ehre im Leib?«
Die Türken kamen näher, vorsichtig, denn obwohl sie in der Überzahl waren, jagten ihnen die beiden Ritter Respekt ein. Seltsam genug, begann zu dieser vollkommen falschen Zeit eine Nachtigall zu singen.
»Das ist die Stimme deines ungeborenen Kindes, Alexios. Es ruft dich! Nun mach, auf mich wartet keiner«, rief Otto. Dann hob er das Schwert und begann mit grimmiger Freude zu singen, während er auf die Türken einhieb: »Ich freu mich noch der lieben Stund, da sie zum Diener mich erkor, des heiaho!«
Der wilde, brüllende Mann mit dem Schwert in den Händen und den blutunterlaufenen Augen erschreckte die Feinde. Die Nachtigall indes ließ sich nicht beeindrucken, sondern rief weiter. Sich die Lippen blutig beißend, stieg Alexios auf das Pferd und ritt los. Er trieb das Tier ordentlich an und hörte noch:
»Und hoff, ihr rosenroter Mund zieh aus den Sorgen mich empor, dem sei also!«
Dann verstummte Ottos Gesang, und auch die Nachtigall rief nicht mehr. Nur das Geschrei der Verwundeten und der Sterbenden hallte ihm noch eine Weile nach. Später erfuhr Alexios, dass nur wenige, unter ihnen Johann Hunyadi, dem Gemetzel entkommen konnten. Was er nicht erfuhr, war, dass Otto von Weißenburg eine ganze Stunde auf seinem Hügel ausgehalten hatte und die Türken Verstärkung herbeirufen mussten, ehe es ihnen endlich gelang, den Hünen niederzustrecken.
*
Wie er nach Hause gekommen war, wusste er nicht. Nur von seinen Instinkten geleitet, passierte er das Gebirge und durchritt Thrazien, bis er schließlich zwei Wochen später vor dem Charisius-Tor stand. Kurz hielt er inne, dann lenkte er das Pferd nach Blachernae. Es war ein grauer Tag, und Schneeregen fiel. Durch den Matsch trabte er zu seinem Palast, übergab einem Diener, der mit dem freudigen Ruf herauskam: »Der Herr! Der Herr ist zurück!«, die Zügel, überwand mit zwei Schritten die vier Stufen der Außentreppe, benötigte vier weitere Schritte für das Podest, dann stand er im Vestibül. In einem langen weißen Kleid kam Ioanna die Freitreppe im Inneren herab. Und als ob das nicht schon der schönste Anblick gewesen wäre, dessen er im Leben teilhaftig wurde, trug sie zudem ein Kind auf ihren Armen. Vor Glück ging der Fürst auf die Knie. Zwei Diener sprangen ihm bei und halfen ihm wieder auf die Beine. Er sah in ein kleines Gesicht und in lachende Augen. Die Fingerchen bewegten sich wie Schmetterlingsflügel. »Deine Tochter, Alexios.« Der Fürst schluckte. Er war sich vollkommen sicher gewesen, dass er einen Sohn bekommen würde, doch fühlte er keine Enttäuschung, nur Glück. »Wie heißt sie?«, fragte er mit rauer Kehle.
»Zoë«, antwortete Ioanna.
»Das Leben.«
»Ja, weil sie unser Leben ist, deines und meines.«
Der Fürst brauchte einige Wochen, ehe er zur Ruhe kam und sich zurechtfand mit seinen Gefühlen, die Ereignisse von Varna, den Tod von Otto und seine Flucht verarbeiten konnte, gleichzeitig aber das Glück zu ertragen vermochte, mit seiner Frau und seinem Kind zu leben.
Schließlich fühlte er sich stark genug, zum Geheimen Rat zu gehen. Nachdem er mit größter Freundlichkeit, die er unnahbar und mit düsterer Miene über sich ergehen ließ, empfangen wurde, berichtete er dem Kaiser und den Ratsmitgliedern mit knappen und galligen Worten von der Katastrophe von Varna.
»Wo, Johannes, blieben die versprochenen Truppen? Wir hätten siegen können!«
Unmut zeichnete sich auf der Stirn des Kaisers ab, aber auch Furcht in seinen Augen. Er geriet ins Stottern. »Fürst, ich halte Euch Eure Erregung zugute. Im Übrigen, so wie das Abenteuer ausgegangen ist, war es zum Wohle unseres Reiches, dass wir neutral geblieben sind.«
»Neutral?«, spürte Alexios beim Fragen heißen Zorn in sich aufsteigen. »Nennt Ihr das neutral, wenn plötzlich der Sultan aus Anatolien auf dem Schlachtfeld in Bulgarien auftaucht? Wie sind trotz Blockade seine Truppen über den Bosporus gelangt?« Johannes zuckte die Achseln. Der Fürst blickte in die Runde. »Ihr steckt alle unter einer Decke, oder? Ich sage es euch noch einmal: Wir hätten siegen können, aber wir sind verraten worden! Ihr habt unsere Tradition, unser Reich und das Christentum verkauft. Es wird schlimm ausgehen. Die Hölle wird sich auftun und uns verschlingen. Die Zeit, die noch verbleibt, will ich nicht vergeuden, sondern mit meiner Familie verbringen. Ich frage auch nicht nach den Verrätern. Die Rache ist mein, spricht Gott, der Herr. Ich trete von allen Ämtern zurück. Betrachtet mich als Privatmann.«
Alexios verneigte sich vor dem Kaiser. Dann verließ er den Saal und ließ einen Traum zurück, den er zeitlebens geträumt und der sich als Schimäre erwiesen hatte. Ihm war, als sei eine Last von seinen Schultern genommen. Er kehrte der Macht den Rücken und wandte sich dem Leben, Zoë zu.