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Palast des Emirs, Smyrna, Anatolien
Man konnte Dschuneid anmerken, wie sehr er es genoss, im Park seines Palastes in Smyrna zu spazieren, nachdem er endlich sein Emirat zurückerobert hatte. Mit viel Klugheit, die Neider allerdings als List und Tücke verunglimpften, hatte er sich diese Herrschaft erkämpft und sie schließlich, nachdem ihn der verstorbene Sultan enteignet hatte, zurückgewonnen. Neben ihm ging Alexios, gefolgt von seinem treuen Kuvasz. Der Emir zählte dem Fürsten auf, wer alles auf der Seite Mustafas gegen den jungen Sultan Murad, gegen das Kind, wie Dschuneid spottete, in die Schlacht ziehen würde. Mustafa selbst sammelte Truppen in Rumelien und würde demnächst nach Anatolien übersetzen, um Bursa, die alte Hauptstadt, einzunehmen. Die Siegesgewissheit, die dem alten Fuchs aus jeder Pore drang, steckte auch Alexios an. Erst fällt Murad, dann Johannes, dachte der Fürst, während er der beeindruckenden Auflistung lauschte. Vor seinem geistigen Auge entstand eine neue Welt. Und er war einer ihrer Protagonisten.
»Mehmed ist zu früh gestorben, um die Macht seinen Söhnen zu übergeben«, schloss der Emir seinen Bericht. Die Leichtigkeit – oder sollte man besser sagen die Leichtfertigkeit –, mit der Dschuneid über den Verrat an seinem Herrscher sprach, verblüffte Alexios umso stärker, weil auch er sich mit dem Problem der Loyalität herumschlug. Denn um Kaiser zu werden, würde er eines Tages die kaiserliche Familie verdrängen müssen. Bisher hatte er sich als Rechtfertigung zurechtgelegt, dass auch die Angeloi einmal die Kaiserkrone getragen hatten, die von den Komnenen und diesen wiederum von den Palaiologen entwendet worden war – was nichts anderes hieß, als dass der Verrat verraten würde. Im Grunde holte sich Alexios nur wieder, was seiner Familie einst geraubt worden war.
»Was sagt eigentlich der Koran dazu, dass Ihr Euren Herrn verratet, betrügt und belügt?«, fragte der Fürst. Doch Alexios täuschte sich in der Vermutung, dass er damit den Emir in Verlegenheit bringen würde. Dschuneid streichelte seinen dünnen Bart mit Daumen und Zeigefinger und lächelte verschmitzt, wobei seine Augen tatsächlich feixten, was sie sonst nie taten, wenn er lachte. »Gegenüber den Ungläubigen ist jedes Mittel erlaubt.«
»Aber Murad ist Muslim«, wandte der Fürst erstaunt ein, merkte sich jedoch diesen Satz, denn er musste ja auf ihn als Christ weit stärker zutreffen als auf den Sultan.
»Er ist Sunnit. Seine Glaubensbrüder haben den Schwiegersohn des Propheten Ali ermordet«, entgegnete der Emir knapp und mit einer gewissen Verachtung in der Stimme. Alexios blickte so überfordert drein, dass sich Dschuneid zu einer Erklärung herabließ. »Es ist zwischen uns Schiiten und den Sunniten ein wenig so wie zwischen euch Christen und den Juden. So, wie die Sunniten Ali getötet haben, ließen die Juden Jesus ans Kreuz schlagen.«
Alexios bereute es, dass er die Frage gestellt hatte, denn er spürte eine wachsende Abneigung dagegen, Genaueres über die Glaubensunterschiede der Muslime zu erfahren. Über Religionen nachzudenken, lehnte er ohnehin ab. Er glaubte an den allmächtigen Vater, an den Herrn Jesus Christus, an den Heiligen Geist und feierte die Messe so, wie es die Liturgie des Johannes Chrysostomus oder Basilius des Großen vorsah. Das genügte für ihn, denn mehr wissen zu wollen war von Übel, weil es nur verwirrte und von den wichtigen Aufgaben ablenkte. Er räusperte sich und bot dem Emir an, fünfzig Ritter in die Schlacht zu führen. Auch wenn Dschuneid genügend eigene Kämpfer besaß, nahm er das Angebot an, denn die Größe der Übermacht verkürzte die Schlacht, weil sie demoralisierend auf den Feind wirkte.
»Was kostet Eure Hilfe?«, erkundigte sich Dschuneid.
»Das Fürstentum Nikomedien, nicht für meinen Herrn, sondern für mich persönlich.«
»Jetzt kann ich Euch wirklich vertrauen, da Ihr nicht nur für Euren Herrn, sondern auch für Euren persönlichen Vorteil kämpft«, antwortete der Emir mit sibyllinischem Lächeln. Zwar empfand er den Preis für die Unterstützung als viel zu hoch, aber das Versprechen kostete bekanntlich erst mal nichts. Außerdem wusste niemand, ob der Fürst die Schlacht überhaupt überleben würde.
»So soll es sein!«, stöhnte Dschuneid, nachdem er so getan hatte, als müsse er darüber nachdenken. Er wusste, dass Mustafa, um Verbündete zu gewinnen, so manche Stadt und manche Herrschaft gleich mehrfach versprochen hatte. Nach dem Sieg würde man sich darum kümmern, wer tatsächlich etwas erhielt und wer leer ausgehen würde. Einige Probleme würden sich von selbst erledigen. Und nicht alle, die darauf hofften, würden die Verteilung der Beute erleben, dafür würde er schon Sorge tragen.
Am gleichen Tag, als der Emir von Smyrna Boten ins Land schickte, um die türkischen, die karamanischen und tartarischen Fürsten vor Bursa zu versammeln, und Alexios nach Westen ritt, um die Ritter anzuheuern, führte in Edirne Halil Pascha Loukas zum Sultan. Murad trug bereits Kampfkleidung, die weiße Hose, die weiße Tunika, darüber den silberleuchtenden Harnisch und die Bein- und Armschienen. Das schützende Eisen war kunstvoll ziseliert. Den Kopf sicherte ein runder Helm, aus dessen Mitte ein Pferdehaarbüschel nach hinten fiel. Im Wehrgehänge schaukelte leicht ein reichverzierter Krummsäbel, dessen Griff aus Elfenbein gearbeitet war. Durchdrungen von seiner Aufgabe, das Reich der Osmanen zu beherrschen, milderten seine Intelligenz und Spiritualität nicht die Entschlossenheit in den Gesichtszügen des Sultans. Trotz seiner Jugend wirkte Murad gefährlich.
»Ich hoffe, Loukas Notaras, dass du ein ehrlicher Mann bist, denn ich habe beschlossen, dir das Leben zu schenken. Ich habe lange darüber nachgedacht, aber ich will mich nicht mit deinem Blut beflecken. Schon gar nicht, bevor ich in die Schlacht ziehe, in der es für mich um Leben oder Tod, um Regieren oder Sterben geht, denn du könntest für dein und für mein Volk ein wichtiger Mann werden«, sagte der Sultan gemessen, wobei er Loukas prüfend in die Augen schaute.
Spielte Murad mit ihm oder sollte er wirklich gerettet werden?
»Wir haben durch Los einen Mann aus deiner Gesandtschaft ermittelt, der deine Kleidung angezogen hat und der an deiner Stelle hingerichtet wurde. Für meine Untertanen sieht es so aus, wie es aussehen soll. Ich kann mir nicht leisten, dass mich jemand für schwach hält.«
»Der Kopf des Botschafters wurde als Botschaft dem falschen Kaiser zurückgeschickt«, erklärte Halil Pascha.
»Hübsch, Halil, der Kopf des falschen Botschafters für den falschen Kaiser. Dann hat doch im höheren Sinne alles seine Ordnung«, stellte der Sultan zufrieden fest.
Im Herzen des Kapitäns tobten widerstreitende Gefühle. Er würde leben, er würde nach Hause zurückkehren, aber nur, weil ein anderer an seiner statt hingerichtet worden war. Er verdankte sein Leben dem Tod eines fremden Mannes, auf den wahrscheinlich auch eine Frau und Kinder warteten. Das machte ihn traurig und demütig zugleich. Er würde nach Hause reiten, aber mit einer schweren Last auf den Schultern.
»Die Männer deiner Gesandtschaft erwarten dich am Ausgang des Palastes«, sagte Halil.
»Eines Tages, vielleicht aber auch nie, werde ich deine Hilfe benötigen – dann leiste sie, ohne Wenn und Aber. Willst du das als Ehrenmann schwören?«, fragte der Sultan.
»Ich schwöre es, denn ich stehe in deiner Schuld«, erwiderte Loukas.
Murad nickte, dann verließ er mit Halil Pascha den Palast, setzte sich an die Spitze seiner Truppen und schlug den Weg nach Bursa ein, entschlossen, um seine Macht zu kämpfen. So jung er auch war, niemand sollte sich der gefährlichen Illusion hingeben, sich auf seine Kosten bereichern zu dürfen. Aber seine Streitmacht war klein, vielleicht zu klein. Das würden die Ereignisse zeigen. Seine Klugheit und sein Mut jedoch genügten für diese Aufgabe.
Loukas stand jetzt allein im Thronsaal. Der Palast wirkte wie entvölkert, geradezu gespenstisch. Er aber war jetzt frei.