44
Notaras-Palast, Konstantinopel
Der Frühling kam im Jahr 1422 zeitig nach Konstantinopel. Die Blumen, Sträucher und Bäume zündeten sich in einer Eile mit Knospen an, als müssten sie sich in diesem Jahr besonders beeilen, weil es bald schon dafür zu spät sein konnte. Bis auf die letzten vierzehn Tage hatte Loukas eigentlich die Zeit der Schwangerschaft seiner Frau genossen, die Erwartung des ersten Kindes, das sie zu einer Familie machen würde. Aber seit zwei Wochen litt Eirene unter der Schwangerschaft, klagte sie über Übelkeit und erbrach sich häufig. Die Ängste, die ihn beschlichen, wenn sie unpässlich war, verheimlichte er vor ihr, weil er sie nicht beunruhigen wollte. Zumeist strahlte sie Optimismus aus, doch zuweilen fiel sie auch in eine tiefe Nachdenklichkeit. Dann dachte sie an ihre Mutter, die bei ihrer Geburt gestorben war. Furcht und die Sorge um ihr Kind, das sie vielleicht nicht aufwachsen sehen würde, trieben sie in eine Traurigkeit, aus der sie sich allein nicht mehr zu befreien vermochte. In diesen dunklen Stunden nahm sie Loukas immer wieder den Schwur ab, sich so um ihr Kind zu kümmern, als lebe sie noch, ihm Mutter und Vater zugleich zu sein. Eirene hatte davon gehört, dass es Ehemänner gab, die dem Kind den Tod der Mutter niemals verziehen, als wäre dieses Unglück ihre Schuld. Bereitwillig leistete Loukas den Eid, suchte sie zu beruhigen und benutzte das einzige Mittel, das in diesen Stimmungslagen half, das Erzählen von Geschichten. Es schmälerte die Wirkung nicht, wenn sie die Berichte von fernen Ländern schon einmal gehört hatte. Tapfer erzählte er sie wieder und immer wieder. Kein größeres Glück existierte für ihn, als dass sich im Lauf seiner Erzählung ihre Miene aufhellte, die Gewitterwolken von ihrer Stirn wichen und ihr Lächeln auf die vollen Lippen zurückkehrte.
»Langweilt es dich nicht, immer wieder die gleichen Anekdoten zu hören?«, fragte er sie manchmal.
»Wie könnte es mich langweilen, dir zuzuhören«, entgegnete sie dann und schmiegte sich an ihn. In dieser Haltung hätte er stundenlang verharren können. Er hatte den Zofen und Dienern strenge Anweisung erteilt, ihn sofort zu informieren, wenn sich die Stimmung seiner Frau eintrübte.
Der Kapitän hatte einen völlig neuen Tagesablauf gefunden, der sich an ihren Bedürfnissen orientierte. Im Morgengrauen stahl er sich aus dem Bett, um sie nicht zu wecken. Hatte er bereits fünf Stunden gearbeitet, kam er gegen neun Uhr zum Frühstück. Eine gute Stunde blieb er bei seiner Frau und sprach mit ihr. Dann verfügte er sich wieder ins Kontor, ging zum Hafen, um mit den Kapitänen der eingelaufenen Schiffe zu reden, oder kontrollierte die Bestände in den Lagerhallen. Am frühen Abend beendete er die Arbeit. Dann traf sich die ganze Familie, und sie aßen und plauderten mit Nikephoros und Thekla. Anschließend unternahmen Eirene und er entweder noch einen kleinen Spaziergang, oder sie zogen sich ins Schlafzimmer zurück, setzten sich in die beiden Lehnstühle, bevor sie zu Bett gingen, erzählten oder lasen einander etwas vor. Am Sonntag und am Mittwoch besuchten sie gemeinsam die Hagia Sophia zum Gottesdienst. Einmal begegneten sie Dionysios.
Der Mönch grüßte sie höflich. »Es ist Gottes Wille.«
»Vielleicht war es auch Gottes Wille, dass wir eingreifen«, erwiderte Eirene.
»Das werden wir nie erfahren. Aber wisst, ich habe die Malutensilien von Demetrios aufbewahrt«, sagte Dionysios, segnete Eirene und verlor sich im Gewühl der Menschen in der großen Kirche.
Ende März führte ein Dauerregen zu Temperaturschwankungen. Trotz des Nebels besuchte Francesco Draperio zum ersten Mal gemeinsam mit seiner Frau die Familie Notaras. Nachdem die Männer über Geschäfte gesprochen und die Frauen sich von Aureliana Draperio über die Florentiner und die Venezianer Mode hatten informieren lassen, versammelten sie sich am Nachmittag zu einem Festmahl. Der alte Seeräuber saß am Kopf der langen, mit roten Damasttüchern bedeckten Eichenholztafel und schaute vergnügt in die Gesichter seiner Gäste und Angehörigen, die sich in dem großen Esszimmer versammelt hatten. Offiziell war er immer noch der Chef der Familie, auch wenn Loukas längst alle Fäden zog.
»Lieber Francesco, Gott ist unseren beiden Häusern gewogen. Ihr habt mit Euren Schifffahrtsversicherungen gutes Geld verdient. Wir haben die Zeit damit verbracht, ein erfolgreiches Handelsunternehmen aufzubauen …«
»Du, Vater!«, warf Loukas lachend ein.
Der Alte schmunzelte amüsiert. Dann übte er sich in einer herrlich schlitzohrigen Bescheidenheit, für die man ihn einfach lieben musste.
»Mein Vater, mein Onkel, mein Bruder, Gott hab sie alle selig, haben dieses Geschäft zum Blühen gebracht. Ja, ja, ja, ich weiß: Gott liebt nicht die, die mit ihrer Bescheidenheit prahlen. Deshalb gebe ich zu, auch einen gewissen Anteil am Erfolg des Handelshauses Notaras beisteuern zu dürfen. Aber ganz gleich, wem die Ehre gebührt, wir, lieber Francesco, Ihr, mein Sohn und ich, werden mit unseren Kontakten, mit unseren Erfahrungen und Eurem Geld das gemeinsame Unternehmen zum Erfolg führen. Ihr habt uns darum gebeten, auch in den Handel mit Stahl und Waffen einzusteigen.«
Draperio nickte selbstbewusst. »Darin liegt die Zukunft. Waffen werden mehr denn je gebraucht. Sie sind verkäuflich wie Weizen, nur zu besseren Konditionen – und sie verderben nicht. Ich habe eine Nase für gute Geschäfte!«
»Und ich die Verbindungen dafür«, triumphierte der Alte. Er machte ein nachdenkliches Gesicht, doch wer Nikephoros gut kannte, wusste, dass er den Grübelnden lediglich spielte. »Ergibt sich nur noch eine Frage: Welchen Schiffsversicherer empfehlt Ihr eigentlich? Gibt es überhaupt einen ehrlichen Versicherer?« Während er darauf wartete, dass Draperio ihm ins Netz ging, lachten seine Augen vor Vergnügen, denn er hielt alle Versicherer für Gauner.
»Doch, einen«, verkündete Draperio stolz, dann stöhnte er theatralisch. »Aber der ist pleite.«
Nikephoros, was der Siegreiche bedeutete, stimmte mit seinem dröhnenden Bass ein bukolisches Gelächter an, Loukas lachte kurz, aber herzlich auf, seine Frau Eirene verbarg ihr Unwohlsein hinter einem Lächeln. Draperios Gemahlin Aureliana wirkte etwas gelangweilt, so als hätte sie diesen Witz schon tausendmal gehört.
»Auf das Geschäft«, sagte Loukas und hob den Goldpokal, der mit einem Roten aus Galata gefüllt war. Nachdem sie angestoßen und wieder Platz genommen hatten, wollte Loukas seinem Vater einen anerkennenden Blick zuwerfen, doch dieser wirkte wie ausgewechselt. Die Mundwinkel fielen missmutig nach unten. Mit seinen hervorstehenden Augen und den plötzlich erschlafften Wangen ähnelte er in diesem Moment einer Robbe.
»Eine Brühe, dass man nicht einmal die Hand vor Augen sieht«, brummte Nikephoros. Der Alte hatte zum Fenster geschaut, und statt die erhabene Architektur der Hagia Sophia genießen zu können, ertrank sein Blick nur in Nebelschwaden. Eine fremde, bis dahin unbekannte Melancholie verdunkelte seine Augen, als habe er Gäste und Familie vollkommen vergessen. Blicklos starrte er vor sich hin. Dabei galt der alte Seeräuber eigentlich als nüchterner Mann, der weder zur Traurigkeit noch zur Nachdenklichkeit neigte. Niemals zuvor hatte er einen Stimmungsumschwung Fremden gegenüber verraten. Ins Herz ließ er sich von niemandem schauen. Zeige anderen gegenüber nie deine wahren Gefühle, hatte er seinen Söhnen von klein auf eingebläut. Wurde der Vater alt?, fragte sich Loukas mit wachsender Unruhe. Oder nagten die Schuldgefühle für das, was er seinem jüngeren Sohn angetan hatte, so stark an ihm?
»Unheimlich das«, stimmte Thekla ihrem Mann zu. »Wirklich unheimlich das«, wiederholte sie, ihre Worte dehnend, als würde sie dadurch den wohligen Schauer verlängern, den die Erwartung, gleich einem Wiedergänger zu begegnen, auslöste. Dann seufzte sie tief und legte eine wirkungsvolle Pause ein, bevor sie ein wenig nervös mit dem kleinen Finger der linken Hand über die Augenbraue strich. »Es heißt, der Nebel bestünde aus den Seelen der Frevler, die keine Ruhe finden.«
»Wir werden den Weg zur Kirche schon finden«, sagte Loukas unwillig. »Und, Mutter, sooft ich im Nebel bereits unterwegs war, ich bin noch mit keiner Seele dabei zusammengestoßen«, fügte er mit einem Seitenblick auf Francesco Draperio hinzu.
Die listigen Augen des Genuesen aus Galata flitzten geschäftig von einem zum anderen. Schließlich warf er jovial ein, dass der Nebel ein Kind des Feuchten und des Gasförmigen sei und deshalb immer eine gewisse Zweideutigkeit besäße. Was er damit sagen wollte, wusste er selbst nicht so genau, aber darauf kam es auch nicht an.
Loukas kannte den gleichaltrigen Genuesen inzwischen gut genug, um sich nicht verführen zu lassen, über die gewichtig klingende, aber inhaltsleere Bemerkung nachzudenken. Francesco liebte es, wenn man ihn für geistreich und dabei umgänglich hielt. Loukas Notaras war sehr schnell dahintergekommen, dass sein Geschäftsfreund sehr gern seinen Gesprächspartnern das Gefühl vermittelte, komplizierte Sachverhalte ihnen zuliebe einfach auszudrücken. Allerdings erschöpften sich die Gedanken des Genuesen im Einfachen, Kompliziertes stand selten dahinter. So glaubten die Leute, dass Francesco Draperio ein kluger, philosophisch gebildeter Mann sei, der allerdings keinen Dünkel besaß und sich aus lauter Liebenswürdigkeit der Anstrengung unterzog, in der Sprache gewöhnlicher Menschen zu reden, sodass alle ihn verstanden. Der Kapitän hatte nicht lange gebraucht, um den Grund für diese Marotte zu durchschauen. Da der Genuese aus kleinen Verhältnissen stammte, versuchte er die Bildung, die ihm vorenthalten worden war, vorzugaukeln. Und um dabei nicht ertappt zu werden, versuchte er jedermann das Gefühl zu vermitteln, er verfüge über eine so große Bildung, dass er darauf verzichten konnte, sie ins Feld zu führen. Wirklich ein netter Kerl, dieser Francesco Draperio.
Während die Dienstboten gebackenes Geflügel, Käse, Honig, Mandelgebäck und gesäuertes Brot zum Dessert servierten, schaute Nikephoros zu Eirene hinüber. Sie sah leidend aus. Das runde Gesicht, das immer vor Gesundheit gestrotzt hatte, wirkte auf einmal durchscheinend, blass wie der Nebel, die Wangen leicht eingefallen, die Nase etwas spitz. Nur die großen schwarzen Augen der Palaiologen büßten trotz der Augenringe das Feuer nicht ein, das in ihnen glomm, auch wenn sie tiefer als gewöhnlich lagen. Ihre dicken schwarzen Haare hatte sie zu einem sich verjüngenden Turm gewunden, den ein Seidentuch umhüllte, dessen Vogelmotive mit Goldfaden gewirkt waren. Das Auffälligste an ihrer Erscheinung bestand in dem großen runden Bauch, den sie wie einen Schatz vorsichtig und doch stolz vor sich hertrug.
Eirene schaute mit wachsender Fassungslosigkeit auf die Speisen. In ihren geweiteten Augen stand der stumme Vorwurf: Warum tut man mir das an?
»Warum gibt es keinen Honigfisch?«, fragte sie in tiefer Verärgerung, als habe man ihn nur nicht serviert, um sie zu quälen. Dann stand sie abrupt auf, hauchte ein »Entschuldigt« hin und verschwand, gefolgt von ihrer Dienerin.
Loukas hatte sich ebenfalls erhoben, wusste aber, dass es seine Frau nicht schätzte, wenn er Zeuge ihrer Unpässlichkeit würde. Deshalb blieb er einen Augenblick ratlos stehen, sah ihr mit Sorge im Blick nach, schweifte kurz über die von Gold- und Silberfäden gewirkten Fischmotive auf dem bläulichen Brokat, der die Wände des Saals zierte, und setzte sich dann mit einem unterdrückten Seufzer wieder hin.
»Die Launen der Schwangeren sind beinah so unverständlich wie die Gedanken Gottes«, sagte Draperio mit liebenswürdigem Augenaufschlag und hob seinen Goldpokal. »Auf Gottes Schöpfung und eine glückliche Niederkunft!«
»Auf Gottes Schöpfung und eine glückliche Niederkunft!«, echoten alle, erhoben ihren Pokal, prosteten sich zu und tranken.
»Es wird ein Junge. Jungs drangsalieren ihre Mütter immer in der Schwangerschaft«, sagte Thekla, um ihren Sohn zu trösten. Sie sprach aus berufenem Mund, denn ihre beiden Söhne hatten auch sie in der Schwangerschaft gehörig »drangsaliert«.
»Ob Sohn oder Tochter, Hauptsache das Kind ist gesund!«, rief Nikephoros.
Draperios Ehefrau applaudierte ihm etwas geziert und sagte mühsam mit schwerem italienischen Akzent auf Griechisch: »Bravo, Einstellung die gute.« Eigentlich hatte sie »richtige Einstellung« sagen wollen, doch war ihr das griechische Wort für »richtig« entfallen.
»Es wird ein Junge, die Zeichen sind deutlich«, schloss Thekla resolut die Diskussion.
In diesem Moment schlich sich Eirenes Zofe in den Saal und flüsterte Loukas unsicher zu, dass er die gnädige Frau entschuldigen möge, weil sie Ruhe benötige.
»Fühlt sie sich nicht gut?« Die Zofe druckste.
»Sprich, dummes Ding!«
»Blass wie der Tod ist sie und windet sich in Krämpfen. Aber das sollte ich Euch nicht sagen, verzeiht, Herr!«, brachte das junge Mädchen stotternd und unter heftigem Erröten hervor.
»Die Wehen«, triumphierte Thekla, »dann ist es bald so weit!«
»Rasch, Andreas, lauf zum Xenon des Kral und hole Martina Laskarina, lass dich nicht abweisen, Martina soll selbst kommen, und zwar sofort! Sie soll sachkundige Nonnen mitbringen. Es ist so weit! Eile, laufe, warum bist du …« In diesem Moment drangen die lang gezogenen Schreie seiner Frau in den Speisesaal und ließen ihn mitten im Satz verstummen. Die Töne, die aus der Tiefe der Existenz kamen, befremdeten ihn und entfesselten Panik. Sein Gesicht entfärbte sich mit jedem Intervall mehr. Loukas sprang auf, warf noch ein »Verzeiht« in die Runde, bevor er Hals über Kopf die Tafel verließ.
»Der gute Gott wird ihr beistehen«, bemerkte Aureliana jetzt lieber auf Italienisch.
»So sei es, amen«, sekundierte ihr Mann im besten Griechisch.
Im gleichen Augenblick betrat ein Türke, der sich als Mönch verkleidet hatte, durch das hohe Charisius-Tor, das nach einem längst vergessenen Führer der Blauen Zirkuspartei benannt worden war, die Stadt und fragte sich nach dem Palast des Nikephoros Notaras durch. Am Körper trug er einen geheimen Brief. Sein Auftraggeber hatte ihm befohlen, lieber zu sterben, als die Botschaft einem Unbefugten zu übergeben.
*
Eirenes feine Gesichtszüge hatten sich verkrampft und wirkten wie geschnitzt. Obwohl Loukas, der auf der Kante des breiten Himmelbettes saß, ihr gut zuredete, gelang es ihr nicht mehr, sich zu entspannen. Ihren ganzen Körper trieb ein Schmerz, der aus der Tiefe ihrer Wirbelsäule kam, auseinander, als forderte das werdende Leben ihren Tod. Wellen immer neuer Schmerzen türmten sich auf.
»Kümmere dich um unser Kind!«, hauchte sie hastig und flach atmend.
»Wir werden uns gemeinsam um unser Kind kümmern.«
»Lüg nicht«, presste sie wütend durch die Zähne. »Ich habe von meiner Mutter geträumt. Und sie hat mir gewunken …« Sie besaß keine Kraft mehr zum Reden. Niemals zuvor in seinem Leben hatte sich Loukas Notaras so hilflos gefühlt.
»Wasser«, kommandierte er knapp wie auf dem Schiff.
Die Zofe beeilte sich, um eine Schüssel aus Goldblech, die zur Hälfte gefüllt war, und ein Samttuch zu holen. Beinahe wäre sie in ihrem Eifer die Treppe hinuntergestürzt, so sehr hatte sie der ungewohnt barsche Ton des Herrn erschreckt.
Loukas tauchte das Tuch ein, wrang es aus und tupfte dann zärtlich seiner Frau den Schweiß von der Stirn. Ihm war die Vergeblichkeit seines Tuns durchaus bewusst. Aber irgendetwas musste er in seiner Hilflosigkeit unternehmen. Derweil floss Dämmer ins Zimmer, schuf ein Gefühl lähmender Dauer und breitete sich feinstofflich wie schwebender Staub aus, legte sich auf den roten Fliesenboden und lehnte sich an die Mosaike der Wände, die Schäferszenen aus dem Roman »Daphnis und Chloe« darstellten – einen Ziegenhirten und eine Schäferin, die mit einem unbekannten Gefühl rangen, das Liebe genannt wurde.
»Ich habe Schmerzen und doch keine Wunde«, hatte sie am Anfang ihrer Bekanntschaft immer daraus zitiert. Sie liebte den Roman, und Loukas liebte Eirene, so kam es, dass er ihr gemeinsames Schlafzimmer mit Schäferszenen aus dieser Geschichte hatte ausgestalten lassen.
»Du hast ja das Buch in das Bild zurückübersetzt«, hatte sie zu ihm gesagt, als er ihr voller Stolz die neun Mosaike mit Schafen, Ziegen und zwei halb nackten oder nackten Jugendlichen zeigte. Er musste wohl ein allzu dummes Gesicht gemacht haben. Sie jedenfalls hatte schallend gelacht mit ihrer glockenhellen Stimme und dann aus dem Anfang des Romans zitiert, in dem der Autor erzählt, dass er anlässlich einer Jagd auf der Insel Lesbos in einem Nymphenhain auf ein Kunstwerk gestoßen sei, auf die malerische Darstellung einer Liebesgeschichte. Die hatte ihn so sehr beeindruckt, dass er beschloss, wetteifernd zum Bild eine Erzählung zu verfassen.
Keinen Tag ihrer Ehe wollte Loukas missen, außer, ja außer den Tagen, an dem er unterwegs und getrennt von ihr war.
Er hatte nicht aufgehört, ihr die Stirn zu tupfen. Gern hätte er ihr etwas erzählt, er wusste nur nicht was. Alles, was ihm einfiel, erschien ihm gleichzeitig so banal und deplatziert zu sein. Er fürchtete, ihre Intelligenz zu beleidigen. Doch dann fing er einen Blick von ihr auf, in dem nur Entsetzen lag. Nicht der Schmerz, nur das Wissen um den Tod. Sie nahm ihre gesamte Kraft zusammen, denn das wollte sie ihm noch unbedingt sagen. Sie rang um jedes Wort.
»Wenn du an mich denkst, erinnere dich nicht so an mich, sondern daran, wie ich aussah, als du mich kennengelernt hast.«
»Du bist immer noch so schön«, sagte er hilflos.
»Ach …«
Lärm drang von der Treppe. Gleich darauf trat Martina Laskarina, die in eine lange schwarze Robe aus derbem Leinen gehüllt war, gefolgt von zwei Nonnen ins Zimmer. Der Dämmer zerstob in Milliarden Partikel, und die Ewigkeit hatte ein Ende. Die Zeit setzte wieder ein, diesmal als hektische Geschäftigkeit. Eine Nonne trug einen Korb mit Flaschen, Phiolen und Dosen, während die zweite eine Tasche mit allerlei Instrumenten im Arm hielt. Wie Folterwerkzeuge, dachte Loukas schaudernd mit einem Blick auf den Inhalt, auf die Zangen, Sägen und das silberne Etui, das Messer und Skalpelle enthielt. Die Ärztin nickte Loukas kurz zu, dann war sie schon bei Eirene. »Lass mich sehen!« Mit diesen Worten tastete sie den Bauch ab.
»Atme tief ein, atme den Schmerz weg«, befahl die Ärztin.
Loukas versuchte in ihrer Miene zu lesen, erfolglos. Ihr faltiges Gesicht drückte nur Konzentration aus. »Schicke nach einem Priester und nach dem Arzt Morpheo, wir werden seine Künste benötigen.«
»Mach schon«, fuhr Loukas den Diener an, der unschlüssig an der Tür stehen geblieben war und nun wie von der Tarantel gestochen losrannte, denn den Unmut seines Herrn wollte er nicht auf sein Haupt ziehen. Morpheo, schoss es Loukas durch den Kopf, war ein Magier, einer, der Menschen in den Schlaf versetzen, ihnen aber auch Geheimnisse entlocken konnte, die sie niemals preisgegeben hätten. Die einen sahen ein Genie, die anderen einen Teufel in dieser dubiosen Figur. Es hieß, dass die Lateiner ihn in Rom verbrennen wollten, doch er hatte sich im letzten Moment nach Konstantinopel abgesetzt. Loukas mochte den glatzköpfigen Mann mit den stechenden Augen nicht – er hielt ihn für einen Scharlatan. Aber er vertraute Martina. Also schwieg er widerstrebend und sorgenvoll.
»Das Kind liegt verkehrt herum«, sagte die Ärztin.
Loukas starrte sie entgeistert an.
»Es kann so nicht raus. Wir müssen es drehen«, erklärte sie ruhig.
Er ging auf die Ärztin zu, nahm ihre Hand und schaute ihr tief in die Augen. Wenn er jemals um etwas gebeten hatte, dann jetzt, auch wenn er wusste, dass sein Wunsch sündhaft war. »Auf meine Frau kommt es an! Sie muss überleben. Das Wichtigste ist meine Frau.«
Weder mit Worten noch in der Mimik antwortete sie auf seine Bitte: »Geh! Ich rufe dich! Jetzt lass uns allein und bete!«
Unschlüssig schaute er zu seiner Frau. Was er in diesem Moment sah, erschütterte ihn. Trotz der Schmerzen, trotz der Lebensgefahr lächelte sie ihn an, einen kurzen Augenblick lang wie ein junges Mädchen mit einer verschwitzten Strähne, die in die hohe, schöne Stirn fiel, als habe sie nur bis ans Ende ihrer Kräfte getanzt, wild und ausdauernd, bevor die Schmerzen wieder nach ihr griffen.
Kaum aber hatte er das Zimmer verlassen und eine der beiden Nonnen die Tür hinter ihm geschlossen, presste sie mit matter Stimme hervor: »Das Kind muss leben!«
Diese Worte hatte Loukas nicht mehr gehört. Und das war gut so. Sie hätten die Panik in ihm, die er mühsam unter Kontrolle hielt, von der Kette der Selbstbeherrschung gelassen. Vor ihm stand sein Vater.
»Das Kind liegt falsch«, erklärte Loukas.
Der Alte nickte. »Die Gäste haben sich verabschiedet. Sie kommen gern zur Taufe, sagen sie und lassen dich herzlich grüßen. Sie werden für euch beten zum Allmächtigen und Maria um Fürsprache bei ihrem Sohn bitten.« Dann spiegelte sich in seinen braunen Augen, die auf erstaunliche Weise von Jahr zu Jahr heller wurden, eine stille Freude. »Wir werden den Enkel und die gemeinsame Firma zusammen aus der Taufe heben. Gibt es ein besseres Omen? Ein neues Leben beginnt, geschäftlich und in der Familie. Er wird die Firma erben, die immer so alt sein wird wie mein Enkel.«
»Und mein Sohn«, ergänzte Loukas, um das vereinnahmende Wesen seines Vaters zu bremsen.
»Gehen wir in die Bibliothek«, schlug der alte Seeräuber seinem Sohn vor. Mit Bibliothek meinte er den kleinen mit Büchern und Lesepulten gefüllten Erkerraum im zweiten Stock des Palastes. In der ersten Etage befanden sich die Empfangssäle, der Konzertsaal und das Kontor, im zweiten lagen die Privatgemächer der Notaras, die Zimmerfluchten der beiden Familien, das große und das kleine Esszimmer, die Bibliothek, die Arbeitszimmer von Nikephoros und Loukas sowie die Handarbeitszimmer der Damen des Hauses und der kleine Gesellschaftssaal, der allerdings nur selten genutzt wurde. Die Dienstboten wohnten im Untergeschoss, gleich neben den Lagerräumen. Dort war auch die Witwe des Kanzlisten mit ihren Kindern untergekommen, die in der Küche der Notaras half, während Loukas ihre Söhne zur Schule schickte.
»Verzeih, Vater, aber ich möchte hierbleiben«, sagte Loukas.
In diesem Augenblick kam die Zofe aus dem Zimmer gestürmt. Auf seinen fragenden Blick rief sie ihm im Vorbeigehen zu: »Wir brauchen heißes Wasser und zwei Dienerinnen.«
Loukas schaute ihr nach. Er fühlte die Hand seines Vaters auf seiner Schulter liegen. »Ich gehe jetzt zur Hagia Sophia und werde für euch beten. Vor der Ikone der heiligen Gottesmutter. Der Herr wird uns beistehen«, sagte er mit einer Zuversicht in der Stimme, für die Loukas ihm dankbar war. Er sah seinem Vater nach, der dem Gang folgte, um zur Treppe zu gelangen, die von der Galerie zum Kreuzgang hinabführte.
Wenig später kam die Zofe aus der Küche, eingehüllt in den Dampf des Wassers, das aus den Kesseln stieg, die zwei Diener trugen. Sie selbst schleppte vier Kupferschalen unterschiedlicher Größe. Kaum waren die drei Domestiken im Schlafzimmer verschwunden, als zwei Dienerinnen mit großen Bündeln Leinen an ihm vorbeieilten. Obwohl ihn die Schnelligkeit der Hausangestellten hätte beruhigen müssen, versetzte ihn die emsige Geschäftigkeit der vielen Menschen in Unruhe, denn alles deutete auf einen Kampf hin, für den man sich rüstete und bei dem es um Eirenes Leben ging.
»Wenn du an mich denkst, erinnere dich nicht so an mich, sondern daran, wie ich aussah, als du mich kennengelernt hast«, hatte sie zu ihm gesagt.