11
Notaras-Palast, Konstantinopel
»Obwohl ich früher nie getrunken habe, schmeckt mir der Wein in letzter Zeit gut«, sagte Nikephoros resigniert.
»Genieße ihn, Vater.«
»Wie? Ja, ja natürlich.«
»Was ist los mit dir?«
Der alte Mann hob die Hände, ließ sie vor seinem Gesicht kurz wie Vögel flattern, dann legte er sie in seinen Schoß und bedeckte mit den Fingern der linken Hand die Finger der rechten, während der rechte Daumen in die Handhöhle der rechten verschwand. Kein anderer Ort als das Arbeitszimmer des Alten, der für die tiefe Verbundenheit zwischen Vater und Sohn stand, eignete sich für ein so heikles Gespräch besser. Die Augen des alten Mannes drückten Traurigkeit aus. Er schüttelte leicht den Kopf, als könne er das, was er erzählte, selbst nicht recht glauben. »Weißt du, ich denke oft an meine Kindheit. Oder nein, warte, das stimmt nicht ganz. Ich …« Er hob, als wolle er um Verzeihung bitten, für einen Augenblick die Hände, bevor er sie wieder in den Schoß zurücklegte. »Ich kann mich nicht daran erinnern, aber manchmal kommt die Vergangenheit so stark über mich, dass ich glaube, in der Kindheit zu sein, verstehst du, wieder Kind zu sein … Es ist keine Erinnerung, was da über mich kommt, eher eine Vision oder präziser eine Verwandlung.« Er kratzte sich die Schläfe. Seine großen Augen füllte das Unglück aus. »Eine Verwandlung, ja! Ich werde verrückt. Ihr müsst mich töten, ertränken, es ist so …« Er suchte nach dem passenden Wort.
Loukas ließ ihm Zeit, dem großen alten Mann, der seine letzte Reise im Leben angetreten hatte.
»Weißt du, was das Schlimmste ist?« Nikephoros sah sich um, wie um sich zu vergewissern, dass sie wirklich allein waren, und senkte die Stimme, sodass Loukas ihn kaum verstand: »Ich sehe meine alten Freunde aus Kindertagen wieder, Nikolaos, Andreas, Christos, Johannes, ja und auch Markos. Sie stehen dann so wirklich vor mir wie du. Dann wollen sie mit mir spielen, und ich mache mit, bin stolz darauf, dass sie mich, den Zugezogenen, mit einbeziehen. Nichts Schöneres fällt mir dann ein, ich meine, ich kann nicht widerstehen. Verstehst du? Dabei sind sie schon längst tot. Alle!« Das letzte Wort schrie er entsetzt heraus. »Manchmal aber kommen sie auch im Traum zu mir, und dann rufen sie mir lachend zu: Komm, Niko, es wird Zeit, bummele nicht schon wieder.« Tränen stiegen dem alten Mann in die Augen.
Loukas berührte die Hände seines Vaters. »Hab keine Angst, Vater, wir passen auf dich auf.« Woher Loukas die Kraft nahm, wusste er selbst nicht, aber er lächelte. »Wenn du in deinem weiten Geist mit deinen Freunden zusammen sein willst, dann tu es. Doch bleib im Haus und im Innenhof. Im alten Kaiserpalast ist es gefährlich. Dort treibt sich allerlei Gesindel herum.«
Plötzlich saß dem Alten ein kindlicher Schrecken in den Augen: »Ich weiß, Papa, dass es dort gefährlich ist. Und ich geh gewiss auch nicht wieder dorthin! Versprochen!« Dann griente der alte Mann wie ein Kind, das sich eigentlich schämte, es aber verstecken wollte, und sang: »Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen.«
»Gut, jetzt warte hier, ich komme gleich wieder.«
»Darf ich was rechnen?« Loukas legte ihm ein Blatt Papier, eine Gänsefeder hin und schob das Tintenfass zu ihm. Sofort griff der Alte nach der Feder, hielt sie allerdings noch recht ungeschickt, tauchte sie in die Tinte, schrieb eifrig Zahlenkolonnen auf das Papier und kleckste dabei: »Vier und vier sind acht. Fünf und neun und sechs sind zwanzig. Vierzehn weniger zwei sind zwölf. Fünfzehn weniger neun sind acht.« »Das ist falsch«, hörte Loukas sich sagen. Nikephoros errötete. »Oh ja, entschuldige.« Strich die Acht durch und schrieb eine Sechs hin.
Der Kapitän eilte durch die Flure und über die Treppen des Palastes, besprach sich zuerst mit Thekla und Eirene und versuchte, seine Mutter zu trösten. Dann rief er die Dienerschaft zusammen und erklärte ihnen die Situation: Der alte Patron lebe in zwei Welten, in der heutigen und in der Welt seiner Kindheit. Der Kapitän drohte, dass sich keiner dazu hinreißen lassen solle, sich weder in Gedanken noch in Worten und erst recht nicht in Taten ungebührlich seinem Vater gegenüber zu betragen. Sie alle hätten ihn freundlich und achtungsvoll zu behandeln, aber auch auf ihn Obacht zu geben. Keinesfalls dürfe er den Palast verlassen. Danach rief er Christos, den Matrosen, zu sich in den Garten.
»Was ich dir zu sagen habe, fällt mir schwer. Du arbeitest nun schon so lange bei uns, kennst meinen Vater gut und hast uns gegenüber immer Treue gezeigt. Jetzt bitte ich dich um den größten Dienst. Manchmal ist er mein Vater, der, den wir kennen, und lebt im Hier und Heute, manchmal aber kehrt er im Geist in seine Kindheit zurück, dann ist er wie ein Kind. Die Wechsel geschehen übergangslos. Leiste meinem Vater Gesellschaft, kümmere dich um ihn, achte auf ihn! Willst du das tun, Christos?«
»Ja, Herr«, sagte der Matrose. »Verlasst Euch auf mich!«
Anschließend rief er die Kinder zusammen. Er erzählte ihnen von seiner Kindheit, wie sich sein Vater, ihr Großvater, stets um ihn gekümmert habe, aber auch davon, was er alles für die Familie und für das Reich getan hatte. Alles, was er über die lange Reise des alten Seeräubers mit dem Kaiser Manuel nach Italien, Deutschland, Frankreich und England, bei der sie im Westen nach Hilfe suchten für das Reich der Rhomäer, wusste, berichtete er seinen Kindern. Er wollte, dass sie wussten, wer ihr Großvater war. »Nun ist euer Großvater so alt, dass die Erinnerungen für ihn wichtiger werden als die Gegenwart. Ihr werdet das noch nicht verstehen, weil ihr nur die Gegenwart kennt und noch keine Vergangenheit habt …«
»Doch, habe ich«, behauptete Anna trotzig, sprang auf und stemmte die Arme in die Hüften. »Gestern habe ich mir Honig aus der Küche stibitzt, und da habe ich eins von der Köchin bekommen. Und das war gestern, nicht heute! Habe ich nun eine Vergangenheit oder nicht?« Ihre Augen funkelten gefährlich. Loukas musste lachen. »Oh ja, Anna, du hast eine Vergangenheit, wenn auch nur als Honigdiebin. Was ich aber meine, ist, Großvater denkt manchmal so sehr an seine Kindheit, dass er dann auch glaubt, sich wieder in seiner Kindheit zu befinden. Das darf euch weder erschrecken noch dürft ihr euch über ihn lustig machen! Habt ihr mich verstanden? Was auch immer geschieht, wie auch immer er sich verhält, habt euren Großvater lieb, er hat es verdient.«
»Immer wenn Großpapa in seiner Kindheit ist, kann er doch zu uns spielen kommen! Schau mal, Papa, Großvater langweilt sich dann nicht und wir haben einen neuen Spielkameraden gewonnen. Das wird fein!«, rief Demetrios aus. Loukas fuhr seinem ältesten Sohn dankbar über den Kopf. »Das ist eine schöne Idee, Mitri!«
Am Abend führte Loukas Notaras ein langes Gespräch mit Eudokimos. Er stellte ihm die Situation dar und zog den Schluss aus allem, dass sein Platz fortan nur noch in Konstantinopel sein würde. »Mit den Reisen ist es vorbei, die Geschäfte, die an Umfang und Vielzahl zugenommen haben, und die Familie erlauben eine lange Abwesenheit nicht mehr. Deshalb möchte ich, dass du von nun an mein Lieblingsschiff, die ›Nike‹, führst. Übermorgen lauft ihr aus nach Kaffa, deine erste Kapitänsfahrt, Kapitän Eudokimos.« Der alte Seemann wusste vor Überraschung und Rührung nicht, wo er hinschauen sollte.
»Ihr werdet es nicht bereuen!«
»Davon bin ich überzeugt. Du warst bis jetzt meine rechte Hand, jetzt bist du der Erste unter meinen Kapitänen. Nun lass mich allein.«
Eudokimos erhob sich und ging zur Tür.
»Wer war eigentlich dieser Mann im alten Kaiserpalast?«, rief Loukas ihm nach.
»Mein Vetter Leonidas. Ich hatte ihn aus den Augen verloren. Eigentlich ein guter Kerl, ein bisschen weich. Vielleicht hat er deshalb zu trinken angefangen. Wo es geendet hat, habt Ihr ja gesehen!«
»Und nun?«
»Verpass ich ihm eine Entziehung und mach dann wieder einen brauchbaren Menschen aus ihm.«
»Viel Glück!«
»Glück braucht man dafür nicht, nur Konsequenz und Härte!« Und Loukas sah es dem alten Seemann an, dass er beides aufzubringen wusste.
Dann beschloss er, endlich zu seiner Frau ins Bett zu gehen. Er fühlte sich müde, aber auch traurig. Es war ein langer Tag, eine Ankunft, die er sich eigentlich anders vorgestellt hatte, wo ihm doch das größte Geschäft seines Lebens geglückt war. Stimmt, das musste er noch Francesco Draperio mitteilen, dass sie Erfolg hatten, aber dafür war am nächsten Tag immer noch Zeit.
Erstmal sehnte er sich nach seiner Frau, nach Trost, Zärtlichkeit und Ruhe.