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Notaras-Palast, Konstantinopel

Loukas Notaras betrat zum ersten Mal in seinem Leben mit weichen Knien sein Schlafzimmer. In Eirenes schönem Gesicht kämpften der Schmerz und die Angst miteinander. Morpheo benutzte den kleinen Tisch, der am Fenster zwischen zwei Armstühlen stand, um bestimmte Essenzen aus seiner Kiste zu mischen. Über einen kleinen Ölofen erhob sich ein Gestell, auf dem verschiedene Skalpelle, aber auch zwei Nadeln, zwei unterschiedlich große Scheren und zwei Haken lagen. Der Anblick der Instrumente erzeugte in Loukas Übelkeit. Er musste stark bleiben und durfte sich jetzt nicht gehen lassen. Die Dienerinnen trugen einen langen, aber nicht allzu schweren Tisch herein, auf den die Gehilfinnen der Ärztin Tücher, Verbandsstoffe, Wasserschüsseln mit heißem Wasser und verschiedene Essenzen und Salben bereitstellten.

Er nahm einen Schemel und setzte sich neben seine Frau. Eine Gehilfin stellte umsichtig einen zweiten Schemel mit einer Schüssel neben den Kapitän. Im Wasser, das dem Geruch nach zu urteilen mit Lavendel, Rosmarin und Salbei versetzt worden war, schwamm ein Lappen. Loukas wrang das Tuch etwas aus, dann tupfte er liebevoll seiner Frau den Schweiß von der Stirn. Sie sah ihn dankbar an.

»Wir schaffen das«, zwang er sich möglichst sicher zu klingen.

Sie ergriff seine Hand. »Wirklich?«

»Wirklich. Du musst jetzt zwar sehr tapfer sein, aber wir schaffen das. Ich bin bei dir, ich bleibe bei dir, ich habe doch geschworen, immer bei dir zu bleiben.« Indem er es sagte, erschrak er über die tiefere Wahrheit seiner Worte, denn ohne sie konnte und wollte er sich kein Leben vorstellen, mochte es auch eine Sünde bedeuten. Loukas sah sich kurz um, weil jemand ins Zimmer gekommen war. Thekla trug ein weißes Kleid und hatte die dicken Haare zu einem Zopf nach hinten gebunden. Sie wollte helfen und ihrer Schwiegertochter beistehen. Loukas nickte ihr dankbar zu. Morpheo reichte Eirene einen Krug und bat sie, den Inhalt auszutrinken. Der Arzt hatte aus Lavendel, Rosmarin, Alraunwurzeln, Mohn, einem Pulver aus in der Sonne getrockneten Mistwürmern und Raupen von Wollmilchgewächsen und Weißwein eine Mixtur hergestellt. Tapfer trank Eirene das ekelhaft schmeckende Gebräu in möglichst großen Schlucken und mit zugekniffenen Lidern. Loukas kam es so vor, als würde seine Frau noch weißer, als sie ohnehin schon war. Sie würgte, zwang sich, den Trunk bei sich zu behalten, und sank erschöpft auf das Bett zurück. Ihr Atem wurde immer gleichmäßiger. »Erzählt ihr eine Geschichte, möglichst monoton und ohne aufregende Momente«, raunte Morpheo ihm zu.

Leer fühlte sich sein Kopf an. Geschichten lebten davon, dass sie die Menschen berührten und auch aufregten, von Widersprüchen und von Kämpfen, davon, dass der Mensch überwindet oder überwunden wird. Und dann erzählte er tatsächlich von den Städten, in denen er gewesen war, von Kaffa am Schwarzen Meer, von Venedig, von Genua, von Amasia – und da fiel ihm die Geschichte ein von der Liebe der Nachtigall zur Rose, die ihm damals Murad erzählt hatte als Gleichnis der Liebe des Menschen zu Gott. Und während er sprach, schlief Eirene ein, sank sie tiefer und tiefer in den Schlaf. Dreimal prüfte die Ärztin den Puls, bevor sie entschied: »Wir fangen an!« Der Satz ging Loukas durch und durch. Fast blieb ihm vor Angst das Herz stehen, zumindest spürte er schmerzhaft jeden Schlag. Martina Laskarina gab Anweisungen, wer welche Gliedmaßen festzuhalten hatte für den Fall, dass die Betäubung nicht ausreichte. Die Ärztin nahm das Skalpell und schnitt in den Unterleib. Eirene stöhnte. Und Loukas betete. Schließlich schnellten ihre Lider hoch. Aus schmerzgeweiteten Augen starrte Eirene ihn an. Die Pupillen hatten fast die Iris verdrängt. Diesen Blick würde Loukas sein ganzes Leben nicht mehr vergessen. Eigentlich konnte man dieses eigentümliche Starren nicht Blick nennen, es war eher angehalten oder ausgesetzt, wie das Leben für eine gewisse Zeit aussetzt. In diesem Blick war kein Schauen, dennoch wirkte er nicht tot, eher erstarrt oder wie unter Eis. Wie ein angehaltener Schrei, in der Luft stehen gebliebene Laute. Offensichtlich war es Morpheus gelungen, den Körper in eine Lähmung zu versetzen. Der Kapitän stand im Banne des Blicks seiner Frau, der nach innen ging. Allmählich begriff er, dass Eirene nicht aus ihren Augen in die Welt hinausschaute, sondern die Welt in sich hineinsog. So erging es auch Loukas. Immer tiefer verschwand er in ihr. Ihm schwindelte. Nichts würde von ihm bleiben. Würde er in aller Ewigkeit in ihr leben können?

»Komm, Loukas, komm her, schnell«, rief ihm die Ärztin zu. Dass sie ihn duzte, fiel weder ihm noch ihr auf. Der Bann war gebrochen. Loukas wandte sich um und sah ein kleines Wesen, das sich rekelte und schließlich zu schreien begann. »Ein Mädchen. Und es lebt!«, rief die Ärztin mit einer Freude, die er nie bei ihr gesehen hatte, mit dem naiven Frohsinn eines Kindes. Die Ärztin legte es auf den Tisch, band die Nabelschnur ab und schnitt sie durch. Eine der Gehilfinnen nahm ihr das Kind ab, die andere reichte der Ärztin einen Sud aus Knoblauch, Salbei, Alraun, Fenchel und ein paar anderen Kräutern, den sie zum Desinfizieren benutzte, bevor sie Eirenes Wunde nähte.

Die Gehilfin wusch das Kind vorsichtig und reichte es Loukas. Der Kapitän schaute auf seine kleine Tochter und wusste, dass er die Welt in seinen Armen hielt. Sie bewegte langsam den Kopf, als versuchte sie, sich zu orientieren. Verschreckt wirkte sie. Verunsichert, ausgesetzt in einer fremden Welt, zu hell, zu kalt, ohne die Geborgenheit, die der Bauch der Mutter neun Monate lang geboten hatte. »Jetzt bist du da, Anna!«, sagte er leise, aber bestimmt, und eine Welle des Glücks durchströmte seinen ganzen Körper. Ein Schrei brach sich aus dem geschundenen Körper Eirenes Bahn. Ein schrecklicher, aber auch befreiender Schrei. Die Wirkung der Betäubung ließ nach. Loukas zeigte seiner Frau das Kind, ihr Kind, das er auf dem Arm hielt. In ihren Augen brannte der Schmerz und regte sich das Glück. Qual und unsägliche Freude kämpften in ihren Pupillen miteinander.

»Fertig«, sagte leise die Ärztin und wusch die Naht mit dem desinfizierenden Sud, bevor sie ein Tuch mit einer Salbe um den Unterleib wickelte. Eirene wirkte sehr schwach, und Morpheo gab ihr ein Getränk aus Rotwein, Weinbrand, viel Honig, Mohn, Lavendel und Rosmarin zu trinken. Er beobachtete, wie sie die Kräfte verließen und sie in einen tiefen Schlaf fiel. Loukas schaute abwechselnd zu seiner Frau und zu seiner Tochter. Beide sahen vollkommen erschöpft aus. »Ach, ihr beiden«, fasste er sein Glück kurz und bündig zusammen. Eine Gehilfin nahm ihm das Kind ab. »Danke«, sagte er zur Ärztin.

»Noch sind wir nicht übern Berg. Wenn sich die Wunde nicht entzündet und sie gut verheilt, dann erst haben wir es geschafft.« In diesem Moment schwappte aus Eirenes Unterleib eine rotschwarze Masse, die übel roch. Als sei es das Schönste auf der Welt, lächelte Martina Laskarina. »Die Nachgeburt ist draußen. Daran kann sie sich nicht mehr vergiften.« Loukas spürte die Erleichterung der Ärztin, aber indem er sie fühlte, erkannte er die hohe Anspannung, unter der sie stand, obwohl sie sich äußerlich nichts anmerken ließ. Er bewunderte diese Frau. Und dann fragte er sich, wie verrückt die Welt eigentlich war. Da gab es Menschen, die ihre Zeit mit nichts anderem zubrachten, als andere Menschen zu töten, manche verwandten sogar noch viel Einfallsreichtum darauf, in kürzester Zeit möglichst viele ihrer Artgenossen zu ermorden, während diese kleine Frau ihre ganze Energie, ihr ganzes Leben, ihre Kunst dafür einsetzte, Leben auf die Welt zu bringen und Leben zu retten. Wie schwer ist doch der Weg des Menschen, um auf die Welt zu kommen, und wie leicht kann er erschlagen werden. Welch Irrsinn, dachte Loukas Notaras angesichts seiner Tochter. Die Priester sprachen gern vom Wunder des Lebens. Er empfand den Ausdruck immer als allzu blumig, ja sogar als kitschig. Seine kleine Tochter, die mit so viel Mühe auf die Welt geholt wurde, ließ ihn zum ersten Mal das Wort vom Wunder des Lebens verstehen, fühlen und vor allem für angemessen halten für eine geradezu sachlich-karge Beschreibung dessen, was sich eigentlich jeder Benennung entzog.

Er fühlte die Hand seiner Mutter auf der Schulter. »Kein Sohn«, meinte sie, als müsste sie sich für ihre falsche Prognose entschuldigen. Er warf noch einmal ein Blick zu seiner Tochter, an der er sich gar nicht sattsehen konnte, denn es schien ihm schier unbegreiflich, dass sie auf der Welt war. »Was spielt das für eine Rolle, Mutter? Es ist mein Kind!«

»Geht jetzt und ruht Euch aus, Eure Frau und Eure Tochter benötigen Euch«, befahl die Ärztin sanft dem Kapitän. Sie nahmen beide nicht wahr, dass die Ärztin wieder zur Höflichkeitsform zurückgekehrt war. Loukas schaute noch einmal zu seiner schlafenden Frau, deren Unruhe ihm zeigte, dass sie trotz des Schlafs die Schmerzen verspürte, und zu seiner kleinen Tochter. Mit jedem Kind, dachte er plötzlich, beginnt die Welt neu. Wer das nicht begreift, ist einfach nur ein Schuft, der nichts verstanden hat, wert, in die Wüste gejagt zu werden.

Als er aus der Tür taumelte, erhob sich Basilius, der dort in einer Ecke auf dem Boden sitzend gewartet hatte. Niemand hatte Zeit gehabt, sich um den Gelehrten zu kümmern. Ein Lächeln flitzte angesichts des treuen Freundes über seine Lippen. »Deine Gebete haben genutzt, mein treuer Freund. Es ist eine Tochter, nein, es ist Anna«, sagte er und strahlte übers ganze Gesicht. Schritte klangen die Treppen hinauf. Einem Diener folgte ein Mönch. Basilius wandte sich um und wunderte sich. »Sagtest du nicht, du wolltest in die Hagia Sophia?«

»War ich ja auch, aber jetzt muss ich Loukas Notaras sprechen. Unter vier Augen!« Loukas wandte sich an Basilius und bat ihn, für ihn die Taufe in der Sophienkirche zu organisieren. Der Gelehrte nickte und ging, nicht aber ohne noch einmal mit einem erstaunten Blick den falschen Mönch zu mustern.

Nachdem sie allein waren, übergab der Türke einen Brief: »Ilyah Pascha schickt mich. Wo darf ich auf Antwort warten?« Loukas gab dem Diener, der sich in gebührender Entfernung hielt, Anweisungen, den Türken beim Gesinde im Parterre unterzubringen. Dann las er den Brief:

»Effendi, vergesst nicht unser Gespräch, erinnert Euch an meinen Herrn. Sein Vater hatte den Thron, den sein älterer Bruder raubte, für ihn vorgesehen. Aber er verstarb leider, bevor er Vorkehrungen treffen konnte. Verhelft einer armen Waise zu ihrem Recht.

Der, der mit Euch sprach.«

Am liebsten hätte er den Brief weggeworfen. Er wollte mit der gesamten Politik nichts mehr zu tun haben. Mit den Intrigen, der Eitelkeit, der Gier. Doch er nahm sich vor, mit seinem Vater darüber zu sprechen, wenn der Alte aus der Kirche zurück sein würde, später, viel später noch, denn jetzt zählte erst einmal Anna. Er schickte einen Diener zur Hagia Sophia, um Nikephoros Notaras mitzuteilen, dass er eine Enkelin hätte.

Am Abend, nahm er sich vor, wollte er einen Brief an Eirenes Vater, an den Despoten von Thessaloniki verfassen, um ihm die freudige Botschaft mitzuteilen. Doch jetzt benötigte er etwas Ruhe. Er bemerkte, dass seine rechte Hand unwillkürlich und unmerklich zitterte.