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Kaiserpalast, Konstantinopel
Im Palast hatte Loukas allerdings kein Glück. Kaiser Manuel II., hieß es, habe sich als Mönch Matthaios in das Pantokratorkloster zurückgezogen, und Johannes VIII. würde ihn, wenn er seiner bedürfe, rufen lassen. Feiglinge, dachte Loukas. Allerdings wurde ihm eine Audienz beim neuen Geheimsekretär des Kaisers angeboten.
»Und wer ist das?«, fragt Loukas den Offizier der Palastwache.
»Herr Georgios Sphrantzes.«
Loukas schluckte, dann ging er. Er hatte bessere Tage gesehen, freilich auch schon schlechtere. Fortuna geizte mit ihrer Gunst. Im Hof traf er auf Demetrios Palaiologos Kantakuzenos, den Oberbefehlshaber der Truppen. Der hagere Mittfünfziger wirkte sehr geschäftig, begrüßte ihn aber dennoch freundlich. Er strahlte Freude und Tatkraft aus, so als ob er sich auf ein großes Unternehmen vorbereite.
»Seid Ihr dabei, Kapitän?«
»Wobei?«, fragte Loukas trocken.
»Wir erobern Gallipoli zurück.«
Dem Kapitän klappte die Kinnlade herunter. Er gab ein Bild mitleiderregender Ahnungslosigkeit ab. Der Oberbefehlshaber schlug sich mit der flachen, langen Hand an die Stirn.
»Stimmt, Ihr seid ja erst Gefangenschaft und Tod entronnen und braucht etwas Zeit, um Euch zu erholen. Doch haltet Euch nicht zu lange abseits, es gibt Ruhm und Beute zu gewinnen. Obwohl wir von der Landseite angreifen und die Marine nicht benötigen werden, seid Ihr bei dem Waffengang herzlich willkommen!«
Für einen Augenblick vergaß Loukas Notaras sogar zu atmen. Kantakuzenos genoss die Würde seines Amtes und gab sich dem Hochgefühl hin. »Wer hätte dem Mitkaiser eine solche Rede zugetraut, wie er sie heute Morgen vor den Truppen gehalten hat? Ja, das Reich wird zur alten Größe zurückfinden. Ihr hättet den Jubel des Hofes und des Heeres erleben sollen. Es wird, mein Freund, es wird!«
Gönnerhaft klopfte der General ihm auf die Schulter und verschwand in Windeseile im Palast. Das Gefühl der eigenen Bedeutung zog ihn am Nasenring durch die Manege der Weltgeschichte, allerdings als tumber Bär, über den die Nachwelt lachen würde, wenn sie ihn nicht verfluchen würde wegen des Unheils, das er über die Stadt brachte.
Loukas Notaras hingegen stand wie angewurzelt da, von der Nachricht erschüttert, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Tappte er nur durch einen schrecklichen Traum, oder hatten sie bei Hofe in seiner Abwesenheit völlig den Verstand verloren? Hatte der alte Feind, der Versucher, es tatsächlich vermocht, ihre Sinne zu verwirren? Wie im billigen Flitterkleid einer Hure tanzte die Welt in Torheit gewandet. War er denn wirklich der Einzige, der begriff, dass sie wie verblendet in die Katastrophe rannten? Loukas fragte sich vergeblich, ob ihre Eitelkeit aus ihrer Dummheit oder ihre Dummheit aus ihrer Eitelkeit herrührte. Auf der großen Freitreppe des Palastes ahnte Loukas allmählich, dass die Eitelkeit nichts weiter als der brutale Versuch war, die eigene Nichtigkeit zu kaschieren, während die Dummheit bitter als Schutz vor der Erkenntnis der Wahrheit benötigt wurde. War der Mensch nicht heillos damit überfordert, Gottes Geschöpf zu sein, wie der minderwertige Sohn, der am genialen Vater zugrunde ging?
Dass er beim Mitkaiser in Ungnade gefallen war und die Berufung seines Feindes Georgios Sphrantzes für seine Position als Geschäftsmann gefährlich werden konnte, beunruhigte ihn. Nirgends auf der Welt hingen politischer Einfluss und wirtschaftlicher Erfolg enger zusammen als in Konstantinopel. Die Abhängigkeit vom Wohlwollen des Kaisers betraf besonders den Handel. Ein Archont, ein Großgrundbesitzer, zog sich im Ernstfall auf seine Besitzungen zurück und konnte mit Gelassenheit auf die mangelnde Gunst des Kaisers schauen. Das galt jedoch nicht für einen Handelsherrn, der sich – angefangen beim Privileg, Handel treiben zu dürfen, über die Höhe der Einfuhr- und Ausfuhrzölle, die Lizenz zum Besitz von Schiffen bis hin zur Genehmigung der Liegeplätze im Hafen und dem Bau von Lagerhallen in der Stadt – ununterbrochen in existenzieller Abhängigkeit vom Hof befand. Für alles und jedes benötigte der Handelsherr die Zustimmung des Kaisers, der an allen Unternehmungen mitverdiente.
Die Verantwortung für das Handelshaus und für seine Familie lastete fühlbar auf den Schultern des Kapitäns. Er hatte die Rachsucht des Fürsten Alexios Angelos und seinen Einfluss auf den Mitkaiser unterschätzt. Ihm blieb nur die unangenehme Schlussfolgerung, dass sie beschlossen hatten, ihn zu vernichten. Über diese Entwicklung musste er sich so schnell wie möglich mit seinem Vater beraten. Womit er nicht einmal in seinen schlimmsten Albträumen gerechnet hatte, lag klar und offen vor seinem geistigen Auge. Die Existenz des Handelshauses stand auf dem Spiel. Was für die Ewigkeit errichtet schien, wurde zur Laune der Egoismen und der Gier.
Nicht weniger schwer wog der Fehler, Gallipoli anzugreifen. Früher gehörte zwar die Stadt den Byzantinern, aber früher besaßen sie freilich auch Smyrna und Bursa, das zu jener Zeit Prussa hieß, und Adrianopel, das die Türken Edirne nannten. Die Palaiologen berauschten sich noch immer an einer Größe, die längst vergangen war, und verdrängten die Einsicht, dass die Geschichte unbeeindruckt von ihrer früheren Bedeutung über sie hinwegschritt. Eine Liste byzantinischer Städte, die von den Osmanen erobert worden waren, fiele deprimierend lang aus.
Wenn man mit dem Schiff die Propontis Richtung Ägäis verlassen wollte, passierte man zwangsläufig die Meerenge der Dardanellen, die von den alten Griechen Hellespont genannt wurde. Kaiser Justinian hatte die strategisch so wichtige Stadt zu einer Festung ausgebaut. Vor sechzig Jahren hatten die Türken die Stadt erobert. Die Schwäche des Sultans jetzt auszunutzen und die Stadt anzugreifen bedeutete, die Neutralität aufzugeben und sich Murad zum Feind zu machen.
Loukas kannte Murad und er wusste, wenn der Sultan siegen sollte, würde er dieses Verhalten den Byzantinern nicht verzeihen. Man hätte auch abwarten können – die übereilte Aktion trug deutlich die Handschrift des Fürsten Angelos und des ihm ergebenen Sphrantzes, den Alexios nahe am Herrscher zu platzieren verstanden hatte.
Gleich nach seiner Rückkehr suchte Loukas seinen Vater auf. Er fand ihn im Kontor und bat ihn um eine Unterredung unter vier Augen. Nikephoros spürte die Aufregung, die Loukas nur schwer zu beherrschen verstand, und schlug einen Spaziergang vor.
»Frische Luft wird uns guttun«, entschied der Alte.
Sie liefen am alten Kaiserpalast, der teils zerfallen war, teils als Lager, teils als Unterkunft für Obdachlose diente, vorbei zur Küste der heiligen Barbara, um schließlich auf den Bosporus hinauszublicken. Zu dieser Jahreszeit glich die See mit den Schiffen und ihren verschiedenfarbigen Segeln einer blühenden Sommerwiese, deren Boden allerdings blau und nicht grün war. Auf dem Weg hatte Loukas dem Vater die Lage geschildert. Der Alte schwieg und dachte nach, während er auf das Meer blickte.
»Nicht in der Kirche, sondern am Meer habe ich bis heute Rat gefunden. Gegen die Gewalt dessen, was da vor uns liegt, ist alles andere von geringer Bedeutung. Was sind die Stürme der Gesellschaft gegen das Toben der Elemente? Es hilft, die Dinge einzuordnen.«
»Sollten wir das Gespräch mit Manuel suchen?«, fragte Loukas.
»Manuel hat sich ins Kloster zurückgezogen, weil er sich von der Bürde der Herrschaft befreien wollte.« Nikephoros schmunzelte. »Allerdings will er das schon seit zwanzig Jahren. Wenn du jetzt ins Kloster gehst, wirst du nicht Manuel, sondern den Mönch Matthaios antreffen.«
»Können wir denn gar nichts tun?«
»Wir müssen warten, warten, bis man uns ruft. Aber sag mir, mein Sohn, wird Murad gewinnen?«
»Ich weiß es nicht, obschon er intelligent und entschlossen ist, trotz seiner Jugend jeder Zoll ein Sultan, aber ganz gleich, wie das Ganze ausgeht, es wird zu Unordnung und Chaos führen.«
Der alte Seeräuber nickte. »Eine Zeit der Wirren zieht herauf. Die Palaiologen werden uns brauchen. Lass uns abwarten, aber unsere Spitzel am Hof weiter bezahlen. Manuel wird eines Tages eingreifen – und wenn es über die Kaiserin Helena erfolgt.«
»Inzwischen sollten wir einen Teil unserer Geschäfte nach Galata verlagern«, schlug Loukas vor.
Nikephoros nickte zustimmend. »Und einen Teil unseres Geldes bei den Banken in Genua deponieren. Wir müssen auf alles vorbereitet sein. Schau dir den jungen Draperio an. Ich habe inzwischen verlässliche Erkundigungen über ihn eingeholt. Er stammt aus kleinen Verhältnissen, ist ehrgeizig, skrupellos und geschickt. Er könnte zu einer Maske unserer Geschäfte werden.«
Loukas sah seinen Vater erstaunt an. Er bewunderte ihn dafür, dass er sich von gefährlichen Wendungen nicht beeindrucken ließ, sondern alles gründlich bedachte und nichts unerledigt ließ. Doch zum ersten Mal ging ihm auch der Gedanke durch den Kopf, dass für das Handelshaus Notaras auch die Möglichkeit bestand, sich unter türkischer Ägide niederzulassen. Seine erste Loyalität gehörte schließlich der Familie, nicht einem wetterwendischen Kaiser. Christ konnte er auch unter der Herrschaft des Turbans sein, das hatte er auf seinen Reisen erfahren.
Würden sie eines Tages Konstantinopel verlassen müssen? Noch kam ihm die Frage hypothetisch vor, doch sie konnte sich rascher stellen, als ihm lieb war, und dann würde es sich als fahrlässig erweisen, diese Möglichkeit außer Acht gelassen zu haben. Schließlich hatten es seine Feinde zu den Ohrenbläsern des neuen Kaisers gebracht.
Zuallererst trug er die Verantwortung, die er täglich stärker empfand, für das Kind, das in Eirenes Bauch heranwuchs. Das war Grund genug, klug und skrupellos vorzugehen. Er fühlte, wie diese Tatsache, die er an ihren voller werdenden Brüsten und den weicher werdenden Zügen ablesen konnte, die Welt für ihn von Grund auf veränderte.
Am Nachmittag trank er mit seiner Mutter Tee im Garten des Palastes. Im Wachholderbusch stritten ein paar Vögel miteinander. Und auf dem Kiesweg, der den Garten teilte, sonnte sich ein grüner Gecko mit roten Streifen. Ein würziger Kräutergeruch hing in der Luft. Die Grillen zirpten um die Wette. Thekla Notaras, die in einer Art Korbsessel saß, gab eine durch und durch elegante Erscheinung ab. Eigentlich liebte sie es, in der Bibel oder in den Heiligenviten zu lesen. Auch hatte sie eine Leidenschaft entwickelt, sich von den Bediensteten die kalte Schauer über den Nacken treibenden Untaten der Gespenster und andere schreckliche Kuriositäten erzählen zu lassen. Angesichts der vielen Ruinen in der Stadt, des allgemeinen Verfalls der Bauten gab Konstantinopel allerdings die ideale Kulisse für Spukgeschichten ab und in Anbetracht des sich mehrenden Elends den idealen Nährboden für bizarre Gewaltausbrüche. Entgegen ihren musischen Neigungen wirkte sie in letzter Zeit sehr diszipliniert. Sie verbarg ihre Verletzung und ihre Ratlosigkeit hinter einer Maske der Sachlichkeit und des Pragmatismus, die man eigentlich von ihr nicht kannte. Der Versuch, eine Normalität vorzugaukeln, war ihre, wenngleich ein wenig hilflose Art, die Familie zu retten. Loukas wusste, wie viel Kraft sie das kostete, und empfand deshalb eine hohe Achtung für sie.
»Hast du mit Vater darüber gesprochen?«, fragte Loukas die Mutter, nachdem er sich nach ihrem Befinden erkundigt hatte.
»Er leidet darunter, wie auch Demetrios darunter leidet. Die Zeit muss die Wunden heilen. Wenn wir uns alle nur ein bisschen Mühe geben …«
»… und versuchen, eine Normalität zu leben, denkst du?«
Thekla nickte und nahm einen langen Schluck aus der Teeschale. Sie ließ den Tee eine Weile auf der Zunge und schloss dabei die Augen. Das alles ist ein einziger Albtraum, dachte sie. Wenn sie doch nur jemand wecken würde, am besten ein strahlender Demetrios, und sie über den Unfug, den sie geträumt hatte, schütteln könnte.
»Wenn ich damals das Angebot deiner Frau angenommen hätte, darüber zu reden und nach einem Weg zu suchen, dann wäre alles anders gekommen«, sagte sie schließlich mit einem kleinen Zögern.
Loukas nahm ihre Hände in die seinen und schaute sie an. Er hatte die Augen von ihr geerbt, tiefbraun und fast rund. »Du kannst nichts dafür.« Sie schüttelte den Kopf.
»Oder nur so viel wie wir alle. Wenn ihr nicht in so große Sorge um mein Leben geraten wäret, hätte es nie diese Anspannung und diese Entladung gegeben. Wir alle tragen unseren Teil Schuld. Aber du hast recht, mit Reden kommen wir nicht weiter, lass uns versuchen, den Alltag als Familie zu erleben.«
Thekla stimmte ihrem Sohn zu.
»Aber dich beschäftigt doch noch etwas?«, fragte Loukas nach.
»Ich habe Angst, dass Demetrios darunter zerbricht.«
»Ich werde mich um Demetrios kümmern.«
Und Loukas hielt Wort. Der Gedanke, dass er bald Vater sein würde, überwältigte ihn jeden Tag aufs Neue und ließ ihm ungeahnte Kräfte zuwachsen. Demetrios, der, seit Loukas zurück war, wieder Mut fasste, genas zusehends von seinen körperlichen Verletzungen. Immer mehr Zeit verbrachte er bei dem jungen Ehepaar, leistete Eirene Gesellschaft oder half ihr, wenn Loukas seinen Geschäften nachging. Es war, als wäre er der Sohn der beiden. Diesem Eindruck widersprach nur der allzu geringe Altersunterschied.
Während Loukas noch darüber nachdachte, wie er Kontakt zu dem jungen Mann aus Galata aufnehmen würde, stand dieser eines Tages vor der Tür und wünschte Loukas Notaras zu sprechen.
»Nun, Loukas Notaras, lasst uns endlich über Geschäfte reden.«
»Seid willkommen, Francesco Draperio.«