14
Palast des Sultans, Edirne, Anatolien
Eines hatte Jaroslawa erreicht: Sie selbst, und nicht die Amme Daje-Chatun, ernährte mit der Milch ihrer Brüste ihren Sohn. Kaum hatte damals der Sultan mit der Amme den Raum verlassen, um ihr seine Anweisungen zu erteilen, legte die Russin das Neugeborene an ihre Brust. Als die Amme zurückkehrte und das Kind an der Mutterbrust entdeckte, schrie sie in ihrem Zorn den Eunuchen an, er solle der Mutter den Sohn von der Brust reißen. Hasan, ein noch sehr junger Eunuch mit ungewöhnlich weißen Haaren, trat sehr dicht hinter die Amme. »Hör gut zu. Du tust, was dir Jaroslawa befiehlt. Halte dich dran, wenn dir dein Leben lieb ist. Wenn mir etwas zustößt, weil du mit dem Großherrn geredet hast, erledigt dich ein anderer. Sei klug Amme, sei klug.« Erschrocken wandte sie sich um und schaute in zwei Augen, die nun nicht nur blau, sondern auch unergründlich wie die Wolga waren, an deren Ufer er geboren wurde. Hasan bluffte nicht. Mit Zorn und Bitterkeit im Herzen fügte sich die Amme, die nun die überflüssige Milch abpumpen musste, dem Befehl des Eunuchen.
Fortan kümmerten sich beide Frauen um den kleinen Mehmed, einander hassend, das Kind aber liebend, denn auch Daje-Chatun wuchs der jüngste Sohn des Sultans ans Herz. Falls der Großherr seinen Sohn einmal zu sehen wünschte, würde Jaroslawa nicht zugegen sein. Allein, dazu kam es nicht, weil Murad kein Bedürfnis verspürte, seinen dritten Sohn zu besuchen. Nicht nur die Eunuchen, auch die anderen Konkubinen Murads standen auf Jaroslawas Seite. Ihr Verhalten der Russin gegenüber wandelte sich von Rivalität in Mitleid, weil es noch nie vorgekommen war, dass eine Konkubine, die dem Sultan einen Sohn geboren hatte, so schlecht behandelt wurde.
Für Jaroslawa war ihr Sohn ein Wunder, denn allein seine Existenz vertrieb die Erinnerungen, die sie peinigten. Seitdem Mehmed auf der Welt war, quälten sie sie nur noch selten.
Es waren furchtbare Erinnerungen. Sie sah sich als Mädchen von dreizehn Jahren, Tochter eines Herrn über mehrere Dörfer südlich von Nowgorod am Mittellauf der Wolga. Schreckensbilder quälten ihre Seele – eine Staubwolke, die von den Rössern der Tataren aufgewirbelt wurde, Männer mit wettergebräunten Gesichtern und schmalen Augen, das Funkeln des Stahls ihrer Säbel in der Sonne, Feuersbrünste, die von Haus zu Haus übergriffen, schreiende Menschen, wimmernde Frauen. Jaroslawa hatte in den Brombeersträuchern gesessen, als die Tartaren der Goldenen Horde über ihr Dorf herfielen. Sie hatte gesehen, wie der Säbel eines Mannes mit schwarzem Schnauzer ihrem Vater den Kopf spaltete und wie ihre Mutter vergewaltigt wurde, bevor man sie abschlachtete. Jede Einzelheit hatte sie wahrgenommen, weil sie nicht wegzuschauen vermochte, als hielte ein böser Geist ihren Kopf wie in einem Schraubstock fest, nachdem er die Lider festgeklebt hatte, damit sie sie nicht schließen konnte. Diese Bilder hatten die Gefühle des lautlos schreienden Mädchens erstickt.
Schließlich fand sie ein Tatar, der sich in dem Brombeerbusch erleichtern wollte. Er verschaffte sich auch Erleichterung, nur auf andere Art, aber das ging sie schon nichts mehr an. Sie wusste jetzt, wie der Teufel aussah, von dem der Pope in der Kirche immer gesprochen hatte. Er nahm sie mit ins Lager und stieß sie zu den jüngeren Frauen und Männern, die auf dem Sklavenmarkt in Kaffa verhökert werden sollten. Die Älteren und Gebrechlichen hatten die Tartaren niedergemacht. Über den Dörfern am Mittellauf der Wolga hingen schwarze Rauchwolken und schillernde Schwärme von Fliegen.
Die Tartaren gaben den Gefangenen Wasser und Brot, doch Jaroslawa hatte weder Durst noch Hunger. Sie wollte leicht werden, ganz leicht wie eine Feder, um in den Himmel aufzusteigen, dorthin, wo ihre Eltern wohl schon weilten.
Einmal spürte sie, dass sie zwei Augen ansahen. Ein etwa zehnjähriger Knabe mit wolgablauen Augen und weizenblonden Haaren starrte sie an. Als er merkte, dass das traurige Mädchen zurückschaute, fing er an, Grimassen zu schneiden. Dann ahmte er die Tartaren nach, wie sie vom Pferd sprangen, o-beinig umherhumpelten und schielten, und dabei machte er ihre Sprache nach. Immer wilder wurden seine Späße, bis es ihm durch harte Arbeit gelungen war, ihr die Andeutung eines Lächelns zu entringen. Er brachte sie schließlich auch dazu, etwas zu essen und zu trinken. Von diesem Tag an blieben sie zusammen, den ganzen Weg durch die südrussische Steppe nach Kaffa. Es gelang ihr, den stumpfen Tartaren dazu zu bewegen, dass er Anatolij, den Sohn des Dorfschmieds, an denselben Sklavenhändler, einen einäugigen Griechen, verkaufte. Sie wusste ja inzwischen, was dem Tataren gefiel. Diesmal ging es ihr sogar gut dabei, weil sie durch die Anwendung gewisser Künste lernte, Macht auszuüben, und sogar ihr Ziel erreicht hatte.
Der Palast des Griechen erhob sich ein Stockwerk über die anderen Häuser der Gasse, als wolle er mit seinem Reichtum und seiner Bedeutung prahlen. Den Eingang rahmten zwei dorische Säulen. Sie kamen in ein Vestibül, wurden aber gleich weitergetrieben durch einen Skulpturengarten und passierten ein Tor. In dem zweiten von hohen Mauern umgebenen Hof kamen sofort knurrend drei Bluthunde auf sie zu.
Der Grieche brüllte den Hunden in seiner Sprache etwas zu, das wohl so etwas wie Sitz, Aus oder Platz bedeutete. Die Bluthunde legten sich auf den Bauch, bereit, jederzeit wieder aufzuspringen und jedem an die Kehle zu gehen, wenn ihr Herr es ihnen befahl.
»Wenn ihr nicht etwas teures Hundefutter werden wollt, schlagt euch jeden Gedanken an Flucht lieber gleich aus dem Kopf«, sagte der Grieche auf Russisch.
An der Rückseite des Hofes lag ein Gebäude, das in drei Zellen unterteilt war. Anatolij kam zu den Männern und Knaben in eine Zelle, Jaroslawa zu den Frauen und Mädchen in eine andere. Sie empfand die Trennung wie einen präzis ausgeführten Schlag in die Eingeweide. Wozu die dritte Zelle dienen sollte, blieb ihr vorerst noch ein Rätsel. Und noch heute wünschte sie, dass sie es niemals hätte erfahren müssen.
Eines Abends holten die Diener des Griechen drei Knaben, darunter Anatolij, aus der Zelle der Männer und brachten sie in den besonderen Raum. Einen ganzen Tag lang bekamen sie weder Nahrung noch Getränke. In Jaroslawa wuchs eine furchtbare Unruhe, denn sie spürte, dass etwas Schreckliches geschehen würde.
Am nächsten Morgen erschien der Grieche in Begleitung von fünf Männern. Einer von ihnen trug zwei scharfe Messer bei sich, andere weiße Leinentücher und merkwürdig kleine Röhrchen. Wenig später hörte Jaroslawa Schreie, die sie nicht zu unterscheiden vermochte, denn sie verbanden sich zu einem einzigen Ton des Schmerzes, eines Schmerzes, der nicht endete, sondern sich steigerte. Ein Mann kam mit einer Holzschüssel, die voller Blut und Fleisch war. Er stellte sie ab, und sofort balgten sich die Hunde um das blutige Mal. Jaroslawa hielt sich die Ohren zu, und Wasser rann ihr aus den Augen, zum ersten Mal seit Wochen, so lange, bis sie keine Flüssigkeit mehr hatte, da weinte sie trockene Tränen. Am späten Nachmittag, die Schreie waren in ein Wimmern übergegangen, trugen sie den toten Körper des einen der Jungen aus der Zelle. Da stand Jaroslawas Entschluss fest.
»Grieche, Grieche«, rief sie.
Erst wollte er keine Notiz von ihr nehmen, tat es dann aber doch.
»Was willst du?«
»Lass mich die Jungen pflegen!«
»Und du meinst, dass du das kannst? Dass du genug darüber weißt, was Jungen und Mädchen unterscheidet?«
Da bekam sie einen kalten Blick, dass es selbst den Griechen fröstelte. »Glaub mir, ich weiß genug darüber. Mehr als genug.«
»Gut, dann versuch es. Manchmal übersteht es keiner, manchmal einer, das ist normal. Gehört zum Geschäft.«
Sie hatte geglaubt, dass sie nichts mehr erschüttern konnte. Sie hatte sich getäuscht. Die Knaben lagen bandagiert. Aus dem Verband um den Unterkörper ragte eine kleine Röhre, aus der sie Harn lassen konnten. Anatolijs Haar hatte jegliche Farbe verloren und war weiß. An dem unguten Glanz ihrer Augen erkannte sie, dass die beiden Knaben fieberten.
»Ich brauche kaltes Wasser und Leinen.«
»Das ist hier kein Gasthof«, brummte der Grieche.
»Willst du, dass sie überleben?« Widerwillig gab er dem Mann, der bei den Knaben saß, Anweisung, sooft es das Mädchen verlangte, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen, denn das war kühl.
Von dieser Stunde an pflegte Jaroslawa Anatolij und den anderen Jungen, machte ihnen Wadenwickel, um das Fieber zu senken, tupfte ihre Stirn, erzählte ihnen Geschichten und sang ihnen die traurigen, aber tröstlichen Lieder ihrer Heimat vor. Sie musste sich überwinden, um den grausigen Anblick zu ertragen, wusch ihre Wunden und klemmte den Knaben ein Holz zwischen die Zähne, wenn sie Wasser lassen mussten, weil der Urin wie Eisenschmelze brannte. Das Wasser für die Waschungen ließ sie vorher abkochen und gab heilkräftige Kräuter hinein. Sie ließ sich Zwiebelsaft geben und Borretsch, Kapern und Majoran. Der Grieche schimpfte zwar wegen der Kosten und drohte ihr, sie in ein Hafenbordell zu geben, um die Kosten wieder einzutreiben. Doch er sah auch, dass sich der Zustand der Jungen verbesserte. Vor allem aber sprach sie den beiden Knaben Mut zu, die, ihrer Männlichkeit beraubt, sich schämten und meinten, auch um ihre Zukunft gebracht zu sein, so weder Frau noch Mann seiend, nur ein Gespött für die anderen. Jaroslawa fragte sie, ob sie wirklich glaubten, dass dieser kleine Muskel sie zum Mann machte. Dann spottete sie über den Tartaren, dessen Gemächt ihn zum Sklaven erniedrigte. Instinktiv verstand sie, dass die Wunden des Körpers verheilen und vernarben würden, nicht aber die der Seele. Die Schmerzen blieben, man konnte sie nur lindern und lernen, mit ihnen zu leben. Ging es ihr denn anders?
Nachdem Anatolij und der andere Junge genesen waren, hatte der Grieche Jaroslawa eigentlich behalten wollen, damit sie auch die nächsten Knaben, die er verstümmeln ließe, pflegen würde.
»Und wenn du mich deinen Kötern zum Fraß vorwirfst, ich tue es nicht!«, hatte sie ihm sehr überzeugend angekündigt. »Ich habe viel für dich getan, jetzt tu etwas für mich. Verkauf mich mit Anatolij an den gleichen Käufer.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Weil ich dir geholfen habe.«
»Ja, und?«, lachte der Grieche.
»Weil es gut für dich ist, jetzt auch gut zu mir zu sein.« Der Grieche schüttelte den Kopf, doch verkaufte er beide tatsächlich an denselben Händler, weil er fürchtete, andernfalls das Schicksal irgendwie herauszufordern.
So hatten sie es zuwege gebracht, dass sie zusammenbleiben konnten, bis in den Harem des Sultans hinein. Aus Anatolij war Hasan geworden, der sich mit seinem freundlichen Wesen und seinen Späßen, mit seinen schauspielerischen und musikalischen Fähigkeiten rasch die Sympathie der anderen Eunuchen erobert hatte, besonders die des hamdun gewann.
Eines Tages befahl der Sultan, dass der zweijährige Mehmed mit Amme und Mutter nach Amasia zu bringen sei, dort, wo er selbst zur Welt gekommen und in seiner Jugend einmal Landpfleger gewesen war. Inzwischen herrschte hier Ahmed Tschelebi, Murads älterer Sohn.
Am Abend vor der Abreise wünschte Daje-Chatun, Jaroslawa unter vier Augen zu sprechen. Die Russin wusste, wie viel Überwindung dieser Schritt die Amme kostete. »Ich bin beunruhigt«, begann Daje-Chatun, die nach dem Tod ihres Sohnes im Kindbett Mehmed noch lieber gewonnen hatte, ja, immer mehr als eigenen Sohn betrachtete.
»Ich auch, aber nicht nur wegen der gefährlichen Reise, für die seine Gesundheit noch nicht robust genug ist«, antwortete die Russin. »Nur ein Prinz kann Sultan werden, die anderen beiden werden sterben. Jetzt wird der Kleine zu seinem Halbbruder geschickt, Murads Lieblingssohn, der gleichzeitig Mehmeds Rivale und Todfeind ist. Ahmed Tschelebi hat kein Interesse, Mehmed am Leben zu lassen, den er ohnehin eines Tages töten lassen würde, wenn er Sultan ist. Vergiss nicht, Murad liebt Mehmed nicht.«
»Ich weiß«, erwiderte die Amme betrübt. »Für die Gesundheit des Kleinen können wir Vorkehrungen treffen.«
»Für sein Leben auch.« Mehr musste Jaroslawa nicht sagen. Der Gedanke, der im Raum stand, war einfach ungeheuerlich, zugleich aber auch die einzige Chance für ihren Sohn.
»Ich hasse dich, Russin«, sagte Daje-Chatun.
»Aber du liebst Mehmed, genauso wie ich.«
Die Amme nickte. »Was können wir tun?«
»Bitte darum, dass mein Eunuch uns begleitet. Sage, du würdest dich dann sicherer fühlen.« Die Amme runzelte die Stirn. Ausgerechnet den Mann, der sie bedrohte, sollte sie als Begleitung erbitten?
»Er wird alles tun, um Mehmed zu schützen, alles!« Es verblüffte Jaroslawa, dass die Amme begann, wie ein kleines Mädchen an ihren Nägeln zu kauen. »Im Grunde kommen wir doch miteinander aus. Dem Kleinen droht Gefahr, er braucht zwei Mütter, die ihn beschützen. Schließen wir uns zusammen. Für ihn! Bitte! Ist er nicht auch für dich das Licht der Welt?«, beschwor sie Daje-Chatun mit großen Augen und der sanftesten Stimme, die ihr möglich war, wobei ihr Türkisch die dunkle Melodik des Russischen annahm.
»Ja, das ist er wirklich, das Licht der Welt.« Die Amme willigte ein, und Jaroslawa küsste ihr zum Dank die Hände.
So machte sich im Sommer 1434 eine Kutsche mit dem Prinzen, seiner Mutter, seiner Amme, dem Eunuchen Hasan und einer kleinen Eskorte auf den Weg nach Amasia.