25
Bursa, Anatolien
Loukas Notaras hingegen hatte nach drei Tagen bereits Bursa erreicht, unterwegs kaum geschlafen und vier Pferde fast zuschanden geritten. Mit großer Härte gegen sich selbst biss er die Zähne zusammen, wenn die frisch verheilte Wunde verursacht durch die körperliche Anstrengung schmerzte. Für die Schönheiten des Olympos-Gebirges und für die Pracht der in der Ebene liegenden Stadt besaß er kein Auge. Er wollte nur so schnell wie möglich zu Eirene zurückkehren. Die Vorstellung, mit ihr eine große Familie zu gründen, beherrschte seine Gedanken und Träume.
Kurz vor Bursa kamen ihm berittene Soldaten entgegen. Der Kommandeur der Abteilung befahl Loukas und seinen Begleitern, die Straße freizumachen, um die Nachfolgenden vorbeizulassen. Auf die Frage, wer ihnen denn entgegenkäme, erhielten sie keine Antwort. Kurz darauf folgte eine größere Reiterschar, schwer bewaffnet und eilig. Loukas fragte sich, ob etwas Wichtiges geschehen sei, von dem er Kenntnis haben sollte, weil es Auswirkungen auf seine Mission hatte. Nachdenklich sah er dem Staub, den die Kolonne aufwirbelte, eine Weile hinterher, bevor er Anweisung gab, den Weg fortzusetzen.
Am Tor gab er sich als Kaufmann aus und erkundigte sich nach einer Herberge.
»Und die Leute da, Kaufmann? Sind das deine Geldsackträger?«, fragte der Chef der Wache, ein pausbäckiger Türke, über dessen rundem Bauch sich erstaunlich feines Tuch spannte.
»Geldsackträger!«, echote ein langer Stadtsoldat, der so laut zu wiehern begann, als habe er den besten Witz seines Lebens gehört. »Geldsackträger, das ist zu komisch, effendi.«
Loukas blickte auf den Soldaten wie auf ein Insekt, dann wandte er sich, ohne eine Miene zu verziehen, dem Kommandeur zu.
»Nein, die wackeren Männer beschützen mich auf meinen weiten Reisen. Ihr wisst doch, wie viel Diebsgesindel sich im Gebirge herumtreibt«, sagte er in vertraulichem Ton und drückte dem Dicken dabei drei Goldmünzen in die fleischige Hand. Der schloss zufrieden seine Pranke und schnurrte wie ein fetter Kater: »Mmh, daran tut Ihr recht. Es ist noch kein halbes Jahr her, da wurden acht Männer auf dem Weg von Bursa zum Olympos abgeschlachtet. Man hat die Mörder niemals erwischt. Passt also auf Euch auf!«
»Hätte man nur Euch geschickt, effendi, Ihr hättet das Gesindel im Nu dingfest gemacht«, flötete die uniformierte Bohnenstange.
Wider Erwarten jagte die Lobhudelei dem Chef der Wache einen eisigen Schauer über den Rücken. Der hatte nämlich dieses einträgliche Amt keineswegs in der Absicht erworben, um sich in Gefahr zu begeben und kampferprobte Männer zu jagen. Die mächtigen Brauen des Dicken zogen sich wie zu einem Donnerwetter zusammen. Schließlich konnte so ein leichtfertiges Gerede bestimmte Vorgesetzte auf unangenehme Ideen bringen. Der Schmeichler errötete und beeilte sich zu versichern: »Aber die Sicherheit der Stadt erfordert zwingend, dass Ihr hierbleibt.« Das heraufziehende Gewitter löste sich in Wohlgefallen auf und machte einem breiten Grinsen Platz.
»Ja«, seufzte der Dicke bewegt, »ich kann eben nicht überall sein. Auch wenn sich das viele wünschen.« Loukas verkniff sich ein spöttisches Lächeln, nickte zustimmend und erkundigte sich danach, wem er gerade auf der Straße Platz gemacht habe.
»Dem Sultan!«, brüllte der Offizier, und dabei traten ihm aus Unverständnis über die Unwissenheit des Kaufmanns die Augen aus den Höhlen.
»Mehmed?«
»Ja, wer denn sonst, du Gimpel? Unser gnädiger Herrscher ist auf dem Weg nach Edirne.«
Loukas bedankte sich für die freundliche Auskunft, erkundigte sich nach dem Weg zum jüdischen Viertel und ritt mit seinen Begleitern los.
Zweistöckige Häuser, in deren hochgelegenen Fenstern die Sonne im farbigen Glas badete und verschwenderisch mit Strahlen spritzte, begrenzten die enge Gasse. Die oberen Etagen ragten balkonartig in die kleine Straße hinein, so als wollten sie die gegenüberliegenden Häuser umarmen, und sorgten dadurch für Schatten. Die Gasse wand sich in Kurven, die den Blick auf die gelben oder blauen Mauern der Häuser treffen ließ, bis sie schließlich auf einen Platz mündete. Dort erhob sich die Etz Ahayim Synagoge, wo Loukas nach Jakub Alhambra fragen sollte. Das Gebäude aus grauen und roten Ziegeln, das von einer goldenen Kuppel bekrönt wurde, schien in seiner massiven Kraft den Platz zu sprengen wie Herkules, wenn man ihn in Kinderkleider gepresst hätte. Drei Türen führten von der Vorderfront ins Innere. Er bat seine Begleiter zu warten und betrat das Gebetshaus. Vor ihm lag ein Widerspiel der Rosette aus Licht. Die Verbindung von Licht und Staub wirkte wie der Tanz der Mücken in den Strahlen der Sonne. Ein Geruch von Mandeln und merkwürdigerweise von Safran drang in seine Nase. Aus dem Schatten löste sich ein alter Mann. Loukas erkundigte sich nach Jakub Alhambra. Über das Gesicht des Alten kroch ein breites, aber undurchdringliches Lächeln. »Gesetzt den Fall, wir haben ein Gemeindemitglied mit diesem Namen, was wollt Ihr von ihm?«
Loukas erwiderte ungerührt das breite Feixen. »Was ich von ihm will, geht Euch nichts an, aber sagt ihm, ich bringe Grüße von Joseph Abulafia und Zwi Jabne aus Konstantinopel. Übergebt ihm diesem Brief als Beglaubigung. Ich werde so lange draußen warten.«
Er trat wieder auf den Vorplatz hinaus und schritt ungeduldig vor der Synagoge auf und ab. Ein hagerer Jude verließ das Bethaus und kehrte wenig später mit einem Mann mittleren Alters zurück. Im Gegensatz zu dem ärmlich wirkenden Boten war der Herbeigerufene in einen reich bestickten Kaftan gewandet; er trug einem hohen, zylindrischen Hut auf dem Kopf, aus dem zu beiden Seiten eine Locke quoll, die an der Schläfe herabhing und wie sein Bart in tiefschwarzer Farbe glänzte, als hätte man sie eingeölt. Der Kaftan leuchtete in einem kräftigen Türkischrot, das an überreife Apfelsinen erinnerte.
»Schalom, Ihr wolltet mich sprechen?« Der Jude sprach ein vortreffliches Griechisch mit einer überraschend weichen, fast fließenden Aussprache.
»Wenn Ihr Jakub Alhambra seid, dann ja.«
»Ihr bringt Grüße von Joseph Abulafia und Zwi Jabne aus Konstantinopel?«
»Sie sind Geschäftspartner meines Vaters und haben mir geraten, mich an Euch zu wenden.«
»Wie heißt Ihr?«
»Loukas Notaras.«
Der jüdische Kaufmann musterte die Männer der Eskorte, die am Anfang der Straße standen. »Ihr kommt doch nicht in Geschäften, Herr?«
»Hinter allem steckt doch letztendlich ein Geschäft, oder? Auf alle Fälle komme ich in guter Absicht«, entgegnete Loukas.
Jakub Alhambra nickte, dann führte er Loukas in sein Haus. Seine Begleiter wurden unterwegs in einer Herberge untergebracht. Um einem Trupp unbekannter Männer, die den Eindruck erweckten, mit ihren Waffen auch umgehen zu können, sein Haus zu öffnen, dafür war Jakub zu vorsichtig. Er hasste Gerede und Überraschungen gleichermaßen und liebte die Kunst der Logik.
Jakub Alhambra lebte in einem großen Gebäudekomplex weiß gestrichener Häuser, der den Eindruck einer selbstständigen Ortschaft innerhalb der Stadt vermittelte. In den Werkstätten im vorderen Teil arbeiteten seine Weber und Färber. Daran schloss sich der hintere Gebäudegürtel mit dem Kontor und den Privatgemächern an, der in seinem Zentrum einen Garten mit Springbrunnen, Granatapfelbäumen und Zitronen barg. Ein Baum mit gelben Früchten, die entfernt Zitronen ähnelten, obwohl sich die Bäume deutlich voneinander unterschieden, zog die Neugier des Gastes auf sich.
»Die Araber nennen diese Frucht narandsch und die Spanier naranja, die Perser narendsch oder nareng, was so viel heißt wie ›von Elefanten bevorzugt‹«, erklärte ihm Jakob. »Die Italiener sagen wohl arancia. Aber diese Früchte benötigen noch etwas Zeit bis zur Reife, sonst hätte ich Euch gern eine davon angeboten. Genießbar sind sie erst, wenn sie tieforange sind.«
»Ich glaube, ich habe in Genua schon einmal eine dieser Früchte probiert, dort nannte man sie Bitterorangen.«
»Meine Orangen sind nicht bitter, sondern süß.« Jakubs Augen lächelten im Genuss, als strömte in diesem Augenblick der Saft reifer Orangen auf seine Zunge, als empfände er gerade die Süße, die erst durch die Säure Form und Eleganz bekam.
Der Wettstreit der Vögel, die in den Zweigen der Granatapfelbäume, der Pfirsiche und in den Sträuchern saßen und zwitscherten, erheiterte das Herz des Griechen. Zeisige spielten in den flachen Brunnen, die für Kühlung sorgten. Der Garten des Juden Jakub erinnerte ihn an die Vorstellungen von Eden. Zumindest verstand der Hausherr etwas von paradiesischer Gelassenheit. Jakubs unterschwelliger Stolz, der Versuch, ihn zu unterdrücken, verriet Loukas, dass der Garten nach Plänen des Hausherrn angelegt worden war. Wahrscheinlich war der Jude auch der Bauherr des gesamten Gebäudekomplexes, denn die Anlage entsprach ihm vollkommen, seiner Vorstellung von Stil, Nützlichkeit und Leichtigkeit. In einem Gartenpavillon, der aus filigranen Schnitzereien von Vögeln, Weintrauben und Fischen bestand, ließen sich die beiden Männer auf dicken, weichen Teppichen nieder, deren Muster in allen Schattierungen von Blau, Rot, Gelb, Grün und Schwarz gehalten waren. Das monotone Geräusch der Zikaden gab der lastenden Hitze eine Stimme. Eine Dienerin brachte Tee und Obst. Jakub schnitt mit der gebogenen Klinge eines silbernen Messerchens einen Granatapfel auf und zeigte mit der Spitze auf die unzähligen Kammern.
»So muss eine Handelsfirma sein, ein Ganzes, das aus vielen Niederlassungen besteht, die allesamt gleichermaßen im Saft stehen.«
»Durch die Berührung mit dem Granatapfel wurde die Flussgöttin Nana, die Mutter des Attis, schwanger. In der Bibel wird der Granatapfel als Zeichen der Fruchtbarkeit gerühmt.«
Jakub nickte erfreut über die Bildung seines Gastes. »So fruchtbar, wie das Schaffen des Kaufmanns sein soll.«
Während Loukas vom Handel der Notaras-Familie erzählte, von den Partnern in Genua, den Niederlassungen in Kaffa, auf Rhodos und in Gallipoli, Jakub von seinen Stoffen und den Farben sprach, schälte sich immer präziser der Plan einer lukrativen Zusammenarbeit heraus. Die Notaras würden Jakub Leder aus der nordpontischen Region, besonders aus Kaffa liefern. Im Gegenzug könnte Jakub Alhambra kostbare Stoffe gefärbt in Türkischrot schicken. Da man im Abendland diesen Farbton nicht zu erzeugen vermochte – und es zu Jakubs Geheimnissen zählte, wie er den Farbstoff aus der Wurzel des Färberkrapps in einer aufwendigen Prozedur gewann –, versprach diese Verbindung, große Profite abzuwerfen. An diesen Punkt gelangt, unterbrachen sie ihr Gespräch. Die Zeit war wie verflogen, und der Abend kündigte sich mit langen Schatten und leichter, wohltuender Kühle an.
»Ihr wollt Euch sicher etwas ausruhen und frisch machen vor dem Abendessen.« Jakub bot seinem neuen Geschäftspartner Unterkunft in seinem Haus an und schickte einen Diener zur Herberge, damit er sich um die Verpflegung der Eskorte kümmerte.
Das Zimmer, in das ihn ein Diener führte, war nicht allzu groß, aber hell. Loukas wusch sich Gesicht und Oberkörper mit parfümiertem Wasser, das er in seinem Zimmer in einer weißen Schüssel vorfand. Dann zog er die Kleidung an, die ihm der Gastgeber bringen ließ: weiße Baumwollhosen, einen blauen Kaftan und weiche Rindslederpantoffeln in sanftem Ocker.
Eudokimos, der mit dem Diener gekommen war, empfing von ihm Instruktionen, wie sich die Seeleute verhalten sollten. Aufsehen zu erregen war auf alle Fälle zu vermeiden. Zudem galt ein strenges Alkoholverbot, auch sollten sie sich auf keine Gespräche einlassen.
Zum Abendessen holte ihn Jakubs Sohn Moische ab und führte ihn in den ebenerdigen Saal, wo ihn die Familie des jüdischen Kaufmanns bereits zum Abendessen erwartete. Zwischen den Schüsseln und Karaffen schlängelten sich im unentwegten Tanz die Flammen der Öllämpchen, die ein imaginärer Beschwörer anzutreiben schien. Die Tafel bog sich geradezu unter den erlesenen Speisen, Rind gekocht in Piniensirup, Hühnchen in Safran, Schafskäse in Honig und mit Melonen, dazu grüner Tee, Wasser und ein leichter Weißwein, der etwas geharzt war. Silberleuchter unterbrachen die Folge der Schüsseln und Teller. Es fiel Loukas auf, dass weder Jakub noch jemand aus seiner Familie vom Wein nahm.
Mit freundlicher Zurückhaltung stellte der Jude dem Gast seine Familie vor, seine verwitwete Mutter, eine würdige ältere jüdische Dame, seine Frau Deborah, die aussah, wie Loukas sich immer die Sulamith aus dem Hohelied Salomos vorgestellt hatte, wenngleich einige wenige silberne Strähnen ihr schwarzes Haar durchzogen, die fünf Kinder, drei Söhne, zwei Töchter im Alter von zwei bis fünfzehn Jahren. Obwohl Deborah sich im Gespräch zurückhielt, erkannte Loukas an dem, was sie sagte, und an der Art, wie man ihr zuhörte, welch wichtige Stellung sie in der Familie einnahm und wie viel ihre Meinung galt. Deshalb bemühte er sich in der Unterhaltung, immer auch sie anzusprechen, sie zu überzeugen, einzubeziehen und zu belustigen. Die Kinder waren einfach großartig, nicht ohne Respekt gegen ihre Eltern, dennoch aber selbstbewusst, dabei von wachem Verstand. Loukas gewann diese Menschen auf Anhieb lieb und bat im Stillen seinen Schöpfer, ihm eine ähnlich kluge, eine ähnlich große Familie zu schenken.
Jakub Alhambra war reich, das stand außer Frage, aber sein wahrer Reichtum, seine Familie, war um seine Tafel versammelt, und er wusste das. Die Kinder fragten Loukas Löcher in den Bauch über Konstantinopel, über den Kaiser, über das Meer, über Kaffa, Venedig und Genua. Sie erkundigten sich auch nach dem Papst und brachten Loukas schließlich in Verlegenheit, weil sie zu erfahren wünschten, warum die Christen die Juden so sehr hassten. Die Bedrängnis seines Gastes amüsierte Jakub, zumal ihn die geistigen und sprachlichen Fähigkeiten seiner Sprösslinge mit Stolz erfüllten, offenkundig beherrschten sie Hebräisch, Griechisch und Türkisch.
Loukas hatte noch nie über den Judenhass, der unter den Christen verbreitet war, nachgedacht. Sie sahen in ihnen die Mörder Jesu.
»Und dabei war Jesus doch auch ein Jude«, sagte Moische, Jakubs ältester Sohn.
Auch wenn Loukas keinen Zweifel an der Wahrheit des Christentums hegte, stieß ihm zum ersten Mal die Rechthaberei seiner Religion auf. Hatten sich nicht sogar die Christen untereinander aus lauter Besserwisserei zerstritten, gar nicht davon zu reden, wie sie über Juden und Muslime dachten? Er konnte die Frage nicht beantworten, ohne seine Religion als die einzig rechtmäßige darzustellen. Und darin lag das Problem – nicht nur deshalb, weil ihn die Höflichkeit gegenüber dem Gastgeber zwang, dessen Konfession nicht herabzusetzen, sondern weil in der Rechtmäßigkeit des eigenen Glaubens die Unrechtmäßigkeit des anderen lag.
»Vielleicht hassen einige Christen die Juden, weil sie Jesus lieben und es in ihrer Liebe den Juden verübeln, dass sie Jesu kreuzigen ließen«, versuchte er sich aus der Affäre zu ziehen.
Jakubs Sohn Moische lächelte ironisch. In seine Augen trat ein sanfter Spott. »Was wäre für die Christen ein ungekreuzigter Jesus? Ein Jesus, der bis ins hohe Alter predigend durch Judäa und Galiläa gezogen wäre? Gehörte nicht die Kreuzigung zum Heilsplan eures Gottes? Sagte Jesus nicht: ›Und das geschieht, damit erfüllt wird, was geschrieben steht‹? Wie könnt ihr den Juden vorwerfen, dass sie lediglich taten, was von ihnen erwartet wurde? Hätten die Hohepriester die Kreuzigung verhindert, würde nicht dann erst euer Vorwurf, wenn auch nicht euer Hass zu Recht bestehen?«
Loukas blies die Backen auf. Darüber hatte er noch nie nachgedacht. Jakub, der interessiert der Diskussion gefolgt war, klatschte anmutig in die Hände. Aber das Wort Klatschen war viel zu grob für die anmutige Bewegung, denn er legte seine Hände fließend ineinander, um sie gleich darauf wieder zu trennen, so wie Reiher landen und sich wieder in die Lüfte erheben. Dabei lachten seine Augen. Und Loukas war ihm dankbar, dass er ihn aus der Verlegenheit befreite.
»Genug, Kinder, genug. Gönnt unserem Gast auch etwas Ruhe und Entspannung. Lasst uns noch ein Lied für Herrn Loukas singen, dann geht ihr aber ins Bett.«
Alle klopften auf den Tisch und bewegten rhythmisch ihre Oberkörper, bevor der Gesang aus ihren Mündern erscholl. Es war wie ein Fließen, ein Eintauchen in die Ewigkeit, und Loukas, der Christ, wurde von dem alten Psalm mitgenommen auf eine Reise in die wirkliche Heimat des Menschen, in die Stadt aller Menschen und aller Völker – ins himmlische Jerusalem. Sie sangen im Wechselgesang, wobei der fünfzehnjährige Moische mit glasklarem Tenor, der noch zwischen jungenhaftem Charme und männlicher Festigkeit schwankte, im Wechselgesang mit Deborah und den anderen Kindern wetteiferte. Nur Jakub schwieg und lauschte und sah seiner Familie zu mit einer Seligkeit im Blick, um die ihn Loukas beneidete. Sie sangen auf Hebräisch, das er nicht verstand, aber dennoch begriff er, worum es ging, ja, und er erkannte den Psalm sogar, den er auf Griechisch zu rezitieren gewusst hätte. Jakubs Kinder standen auf und begannen zu tanzen, während sie das Lied sangen.
»Ich freute mich über die, die mir sagten:
Zum Hause des Herrn wollen wir gehen!
Unsere Füße standen
in deinen Vorhöfen, Jeruschalajim.
Jeruschalajim ist erbaut wie eine Stadt,
an der alle miteinander Anteil haben.
Denn dort zogen Stämme hinauf,
die Stämme des Herrn als Zeugnis für Israel,
um den Namen des Herrn zu preisen,
weil dort Throne zum Gericht standen,
Throne auf dem Haus Davids.
Bitte doch für das, was Jeruschalajim Frieden bringt,
und Wohlgehen werde denen zuteil, die dich lieben!«
Und Loukas dachte daran, dass sie alle, Lateiner, Griechen und Rhomäer, alle Christen sich in einer Sehnsucht einig waren, im Traum vom himmlischen Jerusalem, in dem alle Drangsale dereinst enden würden.
»Friede werde doch durch deine Macht
und Wohlergehen in deinen Turmfestungen.
Um meiner Geschwister willen und meiner Nächsten
Sprach ich nun vom Frieden bei dir.
Um des Hauses des Herrn, unseres Gottes, willen
Suchte ich eifrig Gutes für dich.«
Nachdem der letzte Ton verklungen war, klopfte Deborah auf den Tisch, und die Kinder verabschiedeten sich ohne Widerspruch. Nur Moische fragte auf Hebräisch: »Kann ich nicht beim Vater bleiben und bei unserem Gast?«
Doch Deborah schüttelte sanft und zugleich entschieden den Kopf. »Nein, mein Sohn, du kannst gern noch ein wenig lesen, nur hierbleiben kannst du nicht, denn jetzt reden die Männer miteinander.«
»Eine wunderbare Familie habt Ihr«, sagte Loukas, nachdem sie allein waren.
Jakub lächelte. Das Schmunzeln des Hausherrn bewies den alten Satz, dass nur die Juden wirklich den Wert der Familie kennen.
»Ihr seid jung genug, um mir erfolgreich nachzueifern.«
»Und bei Gott, das werde ich tun.«
»Aber deshalb seid Ihr nicht gekommen, und auch nicht, um Handelsbeziehungen anzuknüpfen, über die ich mich natürlich sehr freue. Also sprecht frei heraus.«
»Ich möchte sehr gern die Söhne des Sultans kennenlernen und benötige Hilfe dabei.«
»Und Ihr meint, ich könnte Euch helfen?«
»Nun, wenn schon nicht helfen, so doch raten – und allein das wäre schon eine große Hilfe.«
»Der Sultan behält schon aus Sicherheitsgründen nie seine Söhne an einem Ort. Deshalb lebt nur Mustafa, der Liebling Mehmeds, in Bursa. Murad aber ist Verwalter von Amasia.«
Loukas unterdrückte einen Fluch, denn diese Tatsche würde seine Mission beträchtlich verlängern, wo er doch nichts stärker wünschte, als so rasch wie möglich nach Konstantinopel heimzukehren. Zumindest wusste er jetzt, weshalb Johannes so maliziös gelächelt hatte, als er ihm diesen Auftrag erteilte. Er war Ehre und Strafe zugleich.
Aber Jakub gönnte ihm keine Ruhe für Überlegungen. »Was wollt Ihr von den Söhnen? Murad ist siebzehn Jahre alt, Mustafa dreizehn. Und der Herr ist Anfang vierzig, wird also noch eine lange Zeit regieren, so Gott will.«
»Dennoch wird einer von beiden Mehmed eines Tages in der Herrschaft folgen. Ich möchte wissen, mit wem ich es zu tun bekomme.«
»Ihr?« Jakub lächelte skeptisch. Er hatte Loukas durchschaut.
»Ja, ich. Denn ich muss wissen, ob es klug ist, unser Handelshaus nach Osten auszurichten.«
Jakub hob lächelnd die Hände, als wolle er sagen, letztlich liege doch alles in Gottes Hand. Dann ließ er sie sinken und sein Gesicht wurde ernst.
»Da der Sohn des Sultans kein seltener Vogel ist, den man in einem Käfig besichtigen kann, bedarf es eines Vorwandes. Denn glaubt mir, Ihr mögt zwar schlecht informiert sein, der Sultan ist es nicht. Er hat an allen Höfen des Abendlandes, in Konstantinopel, in Venedig, Genua und Florenz, seine Informanten.«
»Habt Ihr eine Idee?«
»Schwört, dass Ihr keine üblen Absichten hegt, die meine Familie und mich in Schwierigkeiten bringen könnten.«
»Ich schwöre bei Gott und der Jungfrau Maria.«