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Kaiserpalast, Konstantinopel

Abendgeruch, würzig, beißend und süß wie von Frühlingsfeuern und Blüten, wehte ins Lesezimmer. Johannes hatte die Fenster offen gelassen, obwohl es abends noch empfindlich kühl wurde, und sich eine Lammwolljacke angezogen. Auf den Geruch des sich erneuernden Lebens wollte er nicht verzichten, da kam er ganz nach seiner Mutter.

Er hatte die Kerzen anzünden lassen und las im Kohelet, dem Buch des Weisheitslehrers, im vielleicht ketzerischsten aller biblischen Bücher. Leise sprach er die Worte, deren verführerischen Klang er so sehr liebte:

»Nichtigkeiten der Nichtigkeiten, sprach der Weisheitslehrer,

Nichtigkeit der Nichtigkeiten, alles ist Nichtigkeit.

Welchen Gewinn hat der Mensch

Mit all seinem Ermühten, mit dem er sich abmüht unter der Sonne?

Eine Generation geht und eine Generation kommt,

aber die Erde besteht für immer.

Und die Sonne geht auf und die Sonne geht unter

Und zieht zu ihrem Ort …«

Er ließ das Buch sinken und schloss die Augen. Wie so oft dachte er an seine erste Frau, an Anna. Sie war die Tochter des Großfürsten Wassili von Wladimir und Moskau. Wenige Tage vor ihrer Hochzeit hatte er sie zum ersten Mal gesehen, ein fünfzehnjähriges Mädchen mit schmalem Gesicht und großen Augen, deren Kindlichkeit aus dem strengen Gefängnis der Etikette ausbrach, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Dann lachten ihre Augen und ihre Gesichtszüge hellten sich auf, ja sogar ungestümer Schalk konnte aus ihren Pupillen blitzen.

Als Anna in Konstantinopel eintraf, konnte sie kein Wort Griechisch und war in allem eigentlich noch ein kleines Mädchen. Und Johannes? Er wollte ihr Zeit geben, nicht diese Unverdorbenheit, diese Leichtigkeit und Verspieltheit zerstören. Das Mädchen schenkte ihm die Möglichkeit, selbst kindlich und naiv sein zu dürfen, den Panzer des Prinzen abzulegen, weder auf der Hut zu sein noch sich unnahbar zu geben. Hinzu kam, dass er im Grunde seines Herzens vor dem eigentlichen, dem tierischen Akt, vor dem Austausch von Körperflüssigkeiten einen unüberwindbaren Ekel empfand.

So lebten sie eher wie Bruder und Schwester – und er genoss es. Aber mit der Zeit wurden die Fragen seines Vaters, seiner Mutter immer drängender, wann denn endlich ein Enkel zu erwarten sei. Und seine Mutter erkundigte sich immer wieder, zumal sie nicht verstand, warum Annas Teint immer noch so jungfräulich war. Hatte er etwa die Ehe noch nicht vollzogen? Er versuchte, sich den Fragen zu entziehen, doch umso mehr er sich zurückzog, umso fordernder wurden sie. Adlige Männer, die im Ruf standen, die schlimmsten Hurentreiber zu sein, wurden einbestellt, um Johannes mit in die Edelbordelle zu nehmen. Er fand es abstoßend, mondo cane, wie die Lateiner sagten. Dann nahm ihn ein Edelmann mit in ein Etablissement, in dem es keine Frauen gab, nur Jünglinge. Das fand er noch abstoßender. Er übergab sich.

Es war zum Verzweifeln! Warum musste man sich denn für Frauen oder für Männer, für Mädchen oder Jünglinge interessieren? Weshalb gab es niemanden, der es akzeptierte, wenn man kein Vergnügen an diesen Zipfelspielen fand? Für Johannes stand fest, dass die Geschlechtlichkeit bei Weitem überschätzt wurde.

Wie sehr hatte er hingegen die Stunden mit seiner Frau genossen, in denen sie Schach spielten, sich Geschichten erzählten, etwas lasen oder den Schauspielern zusahen. Oder sie spielten im Park fangen, veranstalteten Maskenbälle und tanzten. Das ausgelassene Spiel im Park aber liebte er besonders – es war, als ob er seine ausgefallene Kindheit nachholen durfte.

Die Verpflichtung, die Ehe endlich zu vollziehen, einen Erben zu zeugen, um die Dynastie, die Herrscherfamilie abzusichern, lastete von Tag zu Tag immer stärker auf ihm, wie ein Zentnergewicht, unter dem er sich krümmte und nach Atem rang. Seine Mutter drohte, die Ehe zu annullieren, was bei einer nicht vollzogenen Ehe jederzeit möglich war, und sein Vater, ihn nicht zum Nachfolger einzusetzen.

Dabei wollte er doch Kaiser werden! Deswegen studierte er die Gesetze und die Juristen, die Theologen und Philosophen, alles, was mit der Leitung des Staates in Zusammenhang stand – und das, seit er sechs Jahre alt war. In seinem Leben hatte es bisher nichts anderes gegeben. Es war das Einzige, was für ihn im Leben zählte, nicht Reichtum, nicht Luxus oder Genuss, nicht Wollust noch Vergnügen, nur das Herrschen als Kaiser der Rhomäer. Kein Tag verging, an dem seine Eltern ihn nicht bedrängten oder ihm drohten. Er begann schon, sich zu verstecken, durch die Paläste zu schleichen in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden. In seiner Einsamkeit, in seinen Schuldgefühlen hatte er sich schließlich gesagt, dass es nur eines einzigen Beischlafs bedurfte, um diese quälende Situation zu beenden.

Er hatte sich durchgerungen, mit Anna darüber zu sprechen und bei ihr Rat zu suchen. Noch heute schämte er sich, wenn er an das Gespräch zurückdachte. Er hatte gestottert und die Augen gesenkt gehalten, während er spürte, wie sie die Panik unterdrückte, die in ihr aufstieg. Instinktiv wussten beide, dass damit das Wichtigste in ihrer Beziehung enden würde, die Unbeschwertheit. Anna vertraute ihm. Mit unsicherem Blick willigte sie ein und versuchte sogar noch, ihn zu trösten.

Und dann kam die Nacht, in der sein Leben zerbrach. Wie gern hätte er diese Minuten ungeschehen gemacht. Er hatte sich vollkommen betrunken und war, um es ein für alle Mal hinter sich zu bringen, in ihr Schlafgemach gestürmt. Anna ließ alles über sich ergehen, biss sich vor Schmerzen die Lippen wund, um nicht zu schreien und ihn, ihren Peiniger, nicht zu verunsichern. Nie, niemals würde er die verschluckten Laute vergessen, dieses gepresste mama, mama, bosche moj, bosche moj, mama, pomogitje mnje, pomogitje! Mama, mein Gott, hilf mir!

Er hatte sie nicht ansehen können, und so war sein Blick auf den Kamin gefallen. Die Flammen loderten, und so wie die Feuerzungen wollte auch er sein. Wie ein wirklicher Kaiser. Er hatte gespürt, wie seine Kraft nachließ, und war dennoch immer wieder gegen ihre Jungfräulichkeit angerannt. Trotz des ganzen Blutes hatte er niemals erfahren, ob er das Hymen durchstoßen hatte oder nicht. Als er aus seiner Raserei erwachte, war er von ihr heruntergekrochen. Vor lauter Scham hatte er sie nicht angesehen, war wortlos aus dem Zimmer gewankt und brüllend und heulend durch den Park gelaufen, bis er schließlich zusammenbrach. Ein Diener hatte ihn schließlich ins Bett gebracht.

Am anderen Morgen erinnerte er sich nicht an viel, nur daran, dass er seine Gefährtin, ja seine »Schwester« vergewaltigt hatte. Sein Kopf dröhnte, und sein Herz schlug vor Scham. Am liebsten hätte er sich in ein Mauseloch verkrochen. Er benötigte eine Woche, um seine Scham zu überwinden. Nachdem er wie ein geprügelter Hund durch den Palast geschlichen war, rang er sich dazu durch, mit Anna zu reden. Er fürchtete sich davor, ihr unter die Augen zu treten, aber so konnte es nicht weitergehen.

Doch die Ärzte verwehrten ihm den Zutritt, weil Anna an den schwarzen Pocken erkrankt war. Ein paar Tage später war sie tot. Man hatte ihm natürlich den Zutritt verwehrt, um seine Gesundheit vor Ansteckung zu schonen, doch er glaubte nicht daran, sondern daran, dass er Anna in dieser Nacht ermordet hatte und die Ärzte die Pocken nur erfunden hatten, um ihn vor sich und vor der Welt zu schützen.

Die Erinnerung an diese Nacht war wie ein Spiegel in tausend Splitter zerbrochen und blieb trotz angestrengten Nachdenkens nur ein Aufblitzen von verwischten Bildern aus der Finsternis. Es waren aus dem Verband gelöste bunte Mosaiksteinchen, doch so vereinzelt und in geringer Anzahl, dass sie kein Bild ergaben. Er hatte Anna nicht geliebt, aber er hatte sie sehr gemocht, vielleicht sogar mehr, als man lieben konnte. Sie fehlte ihm. Und er fühlte sich schuldig. Er war ihr Mörder. So oder so. Wie immer, wenn er an sie dachte, stiegen ihm die Tränen hoch. Er wischte sich mit dem Jackenärmel über die Augen und las weiter in dem Buch: »Es gibt keine Erinnerung an die Ersten. Auch an die zuletzt Gewesenen, es wird keine Erinnerung an sie geben bei denen, die am Ende sein werden.«

Während Johannes über die Vergänglichkeit nachdachte, klopfte es an seiner Tür.

»Ja«, sagte er wie nebenbei. In der Tür stand »das Walross«. Diesen Spitznamen trug sein alter Kammerdiener wegen seiner Bartsträhnen, die rechts und links an den Mundwinkeln vorbei herunterhingen. »Eure Majestät, Martina Laskarina lässt Euch ausrichten, dass Ihr zu Eurer Frau gehen sollt, heute ist der perfekte Zeitpunkt, einen neuen Kaiser zu zeugen. Eure Frau erwartet Euch!«

Ihm wurde übel. Schon wollte er sich Wein bringen lassen oder dieses teuflische Getränk, das die Franken erfunden hatten, Cognac. Aber dann dachte er an Anna, die tot war, weil er sich damals aus Feigheit betrunken hatte. Er stand auf, straffte sich und schritt gefasst wie zu einer Hinrichtung zum Schlafgemach seiner Gattin. Auf dem langen Weg quer durch den ganzen Palast von einem Flügel zum anderen beschlich ihn das Gefühl zu schrumpfen. Dabei flüsterte er so leise, dass niemand ihn verstehen konnte – weder sein Kammerdiener, der hinter ihm ging, noch die Palastwachen, an denen er vorbeischlurfte: »Anna, pomogitje mnje, pomogitje, Anna, hilf mir, hilf!« Auf dem Gang zu ihrem Schlafgemach fühlte er sich plötzlich wie ein Märtyrer. Ein Märtyrer des ihm von Christus auferlegten Kaisertums. Mit diesem Gefühl betrat er Sophias Zimmer.

Da lag sie vor ihm. Mitten auf ihrem Himmelbett mit den an den Pfosten zusammengebundenen rosafarbenen Vorhängen. Ihr Körper, eine einzige Masse schieren, ungestalten Fetts, die kleinen, lappenartigen Brüste, der von Wülsten umreifte Bauch, die wuchernde, alles verschlingende Vulva. Alles in Johannes zog sich zurück. Er taumelte aus dem Schlafgemach seiner Frau, wankte den Flur entlang, die Treppen hinunter, rannte quer durch den Park zur Kirche der Gottesgebärerin. Vor der Ikonostase warf er sich auf den Mosaikboden und bat die Muttergottes um Hilfe. Wie diese Hilfe allerdings aussehen sollte, davon besaß er nicht einmal den Schatten einer Vorstellung.

Sophia von Montferrat beklagte sich bitterlich bei ihrer Schwiegermutter, der Kaiserin. Schließlich kam nur eine Möglichkeit infrage. Sie war nicht schön, aber notwendig.

In der Nacht darauf besuchte eine der erfahrensten Hetären der Stadt Johannes und brachte das kleine Wunder zustande, dass sich sein Gemächt aufrichtete. Dann verband sie ihm die Augen. Sophia schlich ins Zimmer und begann den Mitkaiser zu reiten, kurz nur, dafür mit umso größerer Hoffnung, dass der hastige Akt für die Sicherung der Dynastie genügt hatte und keiner Wiederholung bedurfte.