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Bursa, Anatolien

Den jungen Mustafa bekam Loukas zum ersten Mal zu Gesicht, als der Prinz zum Freitagsgebet in die Grüne Moschee ging. Obwohl an ihr noch gebaut wurde, galt sie jetzt schon als das schönste Gotteshaus in Bursa, vielleicht sogar im ganzen Reich der Osmanen. Jakub hatte ihm erklärt, dass die Osmanen mit dieser Moschee sich das erschaffen wollten, was die Christen mit der Hagia Sophia besaßen, Gottes Paradies auf Erden, ein Raum, der zwar auf der Erde stand, aber aus dem Himmel errichtet worden war.

Loukas stand mit Jakubs Diener auf der gegenüberliegenden Seite der Straße im Schatten einer Platane und beobachtete die Muslime, die zum Gottesdienst strömten.

Zwei Tage später erreichte ihn eine Einladung des Verwalters Ilyah Pascha, des Hofmeisters des Prinzen. Sie tranken zu dritt in einem Pavillon Tee, der Prinz, der Hofmeister und der Kapitän. Der Prinz, ein hübscher Junge mit großen schwarzen Augen und einem wilden Lockenkopf, fragte ihn nach dem Abendland aus, nach Genua, nach Venedig, nach Konstantinopel. Mustafa erwies sich als höflich, gebildet und neigte zu Träumereien. Er liebte die Geschichten über Sindbad den Seefahrer und kannte die Abenteuer des Hajj ibn Jaqzan, der nach einem Schiffbruch viele Jahre auf einer unbewohnten Insel zubrachte, wohl auswendig. Das Gespräch plätscherte angenehm in den warmen Nachmittagsstunden dahin.

Ilyah Pascha begleitete den Kapitän nach der Audienz durch den Garten zum Ausgang. Beim Abschied sagte der Hofmeister: »Ich könnte die schützende Hand über Eure Geschäfte bei uns halten. Wenn Ihr das wünscht, gebt Herrn Jakub Bescheid, er wird alles regeln. Ach, Herr Kapitän, eines noch, im Vertrauen gesprochen.« Ilyah Pascha senkte die Stimme, obwohl sie auf dem Weg unter sich waren und die Wachen am Tor sich in ausreichender Entfernung befanden. »Vergesst Mustafa Pascha nicht, er könnte eines Tages ein wertvoller Verbündeter des Kaisers sein. Murad ist zwar als Nachfolger gesetzt, doch kennen wir Gottes Plan? Mehmed hängt stärker an seinem Zweitgeborenen. Vielleicht braucht Euch Mustafa, vielleicht braucht aber auch Ihr Mustafa? Gott will Frieden. Türken und Rhomäer müssen einander nicht bekriegen. Salam aleikum, Herr Kaufmann.«

»Aleikum salam, ehrenwerter Ilyah«, antwortete Loukas und verbeugte sich mit einem freundlichen Lächeln in den Augen. Es schien ihm trotz der Tarnung als Handelsmann geradezu an die Stirn geschrieben zu stehen, dass er in politischer Mission reiste. Ilyah Pascha schien zumindest ein Mann mit großen Ambitionen und einem wachen Geschäftssinn zu sein.

Beim Abschiedsessen am Abend vereinbarte er mit Jakub Alhambra, dass der Jude ihn in einem halben Jahr in Konstantinopel besuchen und dabei eine Ladung gefärbter Stoffe, gefärbten Garns und Seide mitführen würde. Seinen ältesten Sohn Moische wünschte er mitzubringen, damit er im Kontor der Notaras in die Lehre gehen konnte. Jakub hielt eine Ausbildung seines Sohnes in der fremden Metropole für eine gute Investition.

Von seinem Vater hatte Loukas gelernt, dass man, auch wenn man im Auftrag des Kaisers unterwegs war, niemals die Geschäfte der Familie Notaras vernachlässigen durfte, schließlich bezahlte der Kaiser selten und allenfalls symbolisch die Ausführung seiner Aufträge. Man musste sich die Gunst des Kaisers eben auch leisten können.

Bevor er sich zur Nachtruhe zurückzog, stellte er seinem Gastgeber eine Frage, die ihn, seit er in Bursa eintraf, immer stärker beschäftigte: »Würdet Ihr lieber in Konstantinopel leben?«

»Ihr meint unter der Herrschaft der Christen?« Loukas nickte.

»Nein. Meine Familie hat keine guten Erfahrungen mit den Christen gemacht. Vor knapp einhundert Jahren haben wir die schöne Stadt Straßburg verlassen müssen und hier nach langer Wanderung schließlich eine neue Heimat gefunden. Von einem Tag auf den anderen wurden unsere lieben, christlichen Nachbarn zu unseren ärgsten Feinden. Sie fielen über uns her, erschlugen, erhängten, ersäuften, verbrannten und beraubten uns.«

»Warum?«

»Sie bildeten sich ein, dass wir mit dem Teufel im Bunde stünden und die Brunnen vergifteten. Ihr müsst wissen, damals wütete der Schwarze Tod in deutschen Landen, und uns gab man die Schuld an dem großen Elend. Aber Juden starben wie Christen, Christen wie Juden. Die Pest unterschied nicht zwischen den Glaubensrichtungen. Meine Vorfahren hatten Glück, sie konnten zumindest ihr nacktes Leben retten.«

»Ist es denn unter den Muslimen so viel besser?«

»Niemand will mich hier bekehren, ich muss mir keine Predigten anhören, Pogrome brauche ich nicht zu fürchten, niemand sieht mich scheel an, weil wir Juden Christus getötet hätten, das Einzige ist, dass ich eine Steuer zahle, und kann dafür frei leben und handeln. Aber freilich, am besten wäre es natürlich in Jerusalem.« Jakub nickte seinem Gast zu, verwies darauf, dass es schon spät wäre, und zog sich zurück.

Loukas aber dachte die halbe Nacht über die Worte des Juden nach. Lateiner waren über die Juden hergefallen, Lateiner, allen voran die Venezianer und ihr blinder Doge Enrico Dandolo, hatten, eigentlich von den Rhomäern im Kampf gegen die Muslime zu Hilfe gerufen, Konstantinopel überfallen und für gut fünfzig Jahre ein lateinisches Kaiserreich errichtet. Sie sahen sich zwar wie die Rhomäer als Christen, doch hatte Loukas gelernt, dass sie in manchem häretische Ansichten besaßen und ketzerischen Bräuchen folgten. Wer stellte also die größere Gefahr für das alte Reich der Rhomäer dar, die Lateiner oder die Türken, der Papst oder der Sultan? Im Einschlafen kam ihm plötzlich in den Sinn, dass er Eirene geschworen hatte, immer stark genug zu sein, um die Familie zu beschützen. Im Traum kämpfte er gegen schwarze Ritter mit Eidechsenköpfen ohne Zahl, die auf riesigen Asseln ritten. Und er war allein!

Am nächsten Tag begab sich der Kapitän unwirsch und ungewohnt wortkarg, was seine Männer von ihm noch nie erlebt hatten, an die Spitze seiner Eskorte. Der Albtraum hing ihm in den Gliedern und er vermochte nicht, ihn abzuschütteln. Von einem blauen Himmel brannte schon am Morgen die Sonne. Wie heiß würde es erst gen Mittag sein? Um den schnellsten Weg nach Amasia, zu Murad, dem älteren Sohn Mehmeds, zu finden, stellte ihm Jakub einen wegekundigen Juden zur Seite.

Ritt Loukas nach Osten, zog es sein Herz jedoch nach Westen. Was mochte Eirene jetzt tun? Was gäbe er dafür, in ihre Augen zu sehen, ihren Duft nach Zimt und Mandelöl zu riechen. Unvorstellbar, dass es eine Zeit ohne sie gegeben haben sollte. Wovon hatte er damals nur gelebt, wenn nicht von den Berührungen ihrer Worte und Hände? Er verfluchte den Vizekaiser, dass er ihn in das Reich der Osmanen schickte. Der Sultan befand sich im besten Mannesalter. Welchen Nutzen sollte also seine Mission bringen?

In der größten Mittagshitze legten sie in einer kleinen Stadt, die sich an einen Wald schmiegte, eine Rast ein, um die Pferde zu tränken und sich selbst zu stärken. Loukas beobachtete einen Bauern, der sich vor dem Betreten der kleinen Moschee Nase, Mund, Achselhöhlen, Ellbogen und Füße wusch. Christen betraten, wie sie waren, schmutzig oder sauber, ihr Gotteshaus. Ein zweiter Mann, dann ein dritter, ein vierter taten es dem ersten gleich. Das beeindruckte den jungen Kapitän. Wer stark sein will, muss zuallererst Wissen erwerben. In ihm erwachte der Verdacht, dass die Mission vielleicht in Gottes Plan stand und es dabei gar nicht um Johannes ging, sondern vor allem um ihn, Loukas Notaras, darum, dass er diese neue Großmacht, die Konstantinopels Schicksal zu werden drohte, gründlich kennenlernte. Wollte Gott womöglich, dass er Kenntnisse erwarb und ein Netz von Beziehungen und Verbindungen knüpfte? Das würde diesem so scheinbar unnützen Unternehmen einen tieferen Sinn verleihen. Innerlich leistete er Johannes Abbitte, schließlich war es ja Loukas Notaras gewesen, der Kaiser Manuel empfohlen hatte, gleichen Abstand, aber eben auch gleiche Nähe zu den Türken wie zu den Lateinern zu halten. Sein Erkundungsauftrag stellte so gesehen nur die Konsequenz des Rates dar, den er selbst erteilt hatte. Der Kapitän verspürte auf einmal das unwiderstehliche Bedürfnis zu beten. Er ging in den Wald, der sich hinter der Moschee ausstreckte. Vor einer alten Pinie blieb er stehen. Die Äste rauschten im leichten Wind. Ihr Säuseln erinnerte ihn an die Beschwörungen weiser Frauen, die eine Gürtelrose besprachen. Unter dem Wispern wich allmählich der Druck des Traumes aus Hirn und Knochen. Er fühlte sich frei und beschwingt. Und dankte Gott. Er löste die Schnüre seines Hemdes, zog das kleine Kreuz an der goldenen Kette heraus und küsste es lang und innig.

Jetzt freute er sich sogar auf die Begegnung mit Murad. Als er zu seinen Männern zurückkehrte, wunderten sie sich nicht wenig, denn er wirkte wie ausgewechselt.