22
Kaiserpalast, Konstantinopel
Ihm war schlecht. Alexios fühlte sich schlapp und hundeelend, und er fragte sich, ob es unter diesen misslichen Umständen nicht besser sei, die Augen geschlossen zu halten, um nichts von der Welt zu sehen. Aber es gehörte sich für einen Angelos nicht zu kneifen, also öffnete er die Lider, schnell und energisch. Brennend wie Ameisensäure ergoss sich das Licht auf seine Netzhaut, dennoch kämpfte er darum, die Lider offenzuhalten. Der Fürst konnte an einer Hand abzählen, wie oft er sein Ehebett, das sich in seinem Palast in Blachernae befand und in dem er jetzt lag, in dem letzten Jahrzehnt aufgesucht hatte. Er drehte langsam den Kopf nach links zum Fenster und entdeckte eine stille, blasse Frau mit langen, aschblonden Haaren. Teint wie Haarfarbe waren ungewöhnlich für eine Palaiologina. Übernächtigt lächelte sie ihn an. An seinem Krankenlager saß seine rechtmäßige Ehefrau, Ioanna. Obwohl er sie all die Jahre nicht beachtet hatte, kümmerte sie sich um ihn. Das rührte ihn.
»Ioanna, es …«, begann er.
»Ist gut. Du lebst, und das ist wichtig«, sagte sie sanft.
»Ich habe dich betrogen.« Er wunderte sich über die Worte, die über seine Lippen kamen.
»Du hättest mich betrogen, wenn diese Frauen etwas taugen würden«, sagte sie freundlich, aber bestimmt. Da begriff er, dass der Adel ihrer Seele sie vor der Gemeinheit der Welt, vor seiner Gemeinheit schützte. »Ich weiß nicht, ob ich dich eines Tages lieben werde, aber ich habe dich gern und ich will mit dir leben.«
»Ruh dich erst mal aus.« Das klang gut in seinen Ohren, aber dann setzte ihm die Erinnerung an Clara von Eger zu und dass er schon einmal leichtfertig Zeit verspielt hatte. »Mein Entschluss steht fest. Ich gebe den Stadtpalast auf und ziehe hier ein, wenn du mich aufnimmst.«
»Es ist dein Palast.«
»Nimmst du mich auf?«
»Du bist mein Gemahl und der Herr.«
»Nimmst du mich auf, Ioanna?«
»Ich kenne dich kaum.«
»Nimmst du mich auf, Ioanna?«
»Ich weiß es noch nicht. Wenn du es wirklich ernst meinst, werden wir sehen.«
»Was kann ich tun?«
»Gib uns, nein, schenke uns Zeit.«
Der Fürst wollte, erschöpft von der Anstrengung, wieder die Augen schließen, um sich auszuruhen, aber eine Frage schrillte überdeutlich in seinem Hirn. »Wo ist Înger?«
»Ihm widerfuhr leider, was sie dir zugedacht hatten«, antwortete sie betroffen, nicht weil sie den Hund besonders gemocht hatte, sondern weil sie wusste, wie viel der Kuvasz Alexios bedeutete. Von Seelenqualen getrieben richtete sich der Fürst auf. »Sie haben ihn vergiftet?« Ioanna nickte. »Er ist tot?« Alexios konnte es nicht fassen, wie konnte denn Înger tot sein. Er sprang aus dem Bett, entschlossen, seinen Hund zu rächen, wollte zu seinem Säbel gehen, doch brach er zusammen.
»Ruhe dich aus, du bist noch zu schwach«, sagt sie. Dann half sie ihm dabei, wieder ins Bett zu kommen. Zum ersten Mal kam er mit dem Körper seiner Frau in Berührung. Er fühlte sich knochig an. Sie wollte sich wieder hinsetzen, da griff er nach ihrer Hand. Ihr Mann hatte Tränen in den Augen, das erschütterte sie. Der Fürst schluckte, als müsse er die Worte herauswürgen. »Er ist ein Opfer meiner Geilheit! Wie Clara ein Opfer meiner Geilheit ist. Wie du in deiner Einsamkeit ein Opfer meiner Geilheit bist. Hätte Hunyadi den König doch damals nicht daran gehindert, mir das Teil herauszureißen.« Ioanna erblasste und begann zu zittern. Alexios begriff, dass er seine Frau, die fern von der Welt in diesem Palast lebte, überforderte. Mit dem Handrücken wischte er sich die Tränen aus den Augen.
»Rufe bitte den Schreiber, und komme mit ihm zurück, du sollst hören, was ich diktiere, du sollst an meinem Leben Anteil haben.« Ioanna stand auf und kehrte nach wenigen Minuten zurück. Der Schreiber, ein Eunuch unbestimmbaren Alters, schließlich wollte er seine Frau in seinen langen Abwesenheiten nicht in Versuchung führen, trug ein Brett wie ein Bauchladen vor der Brust, auf dem sich Papier, ein Tintenfass und ein Gänsekiel befanden.
»Schreib: Meinen Gruß und meine Ehrerbietung entrichte ich meinem Bruder Iancu Hunyadi. Ich habe dir eine traurige Mitteilung zu machen. Auf mich wurde ein Giftanschlag verübt, dabei hat man unseren treuen Înger getötet. Es ist meine Schuld. Ich kann es auch vor dir nicht rechtfertigen. Wer hinter dem Anschlag steht, kannst du dir denken. Das gekrönte Hurenstück hat einen serbischen Meuchelmörder namens Andreas und seine Metze Emilija beauftragt. Andreas ist tot. Gott hat es gefallen, dass ich ihm den Stahl in die Leber rammte. Die Metze hingegen ist auf der Flucht. Wenn du über sie oder über Mittelsmänner etwas in Erfahrung bringen kannst, teile es mir mit. Ich will sie zur Rechenschaft ziehen. Ihr Tod löscht nicht meine Schuld, aber ich will ihr Herz auf dem Grab meines treuen Hundes verbrennen, damit das meinige Ruhe findet.
So sei Gott befohlen,
Alexios Angelos.« Der Fürst befahl dem Schreiber, einen vertrauenswürdigen Kurier auszuwählen, der Hunyadi die Nachricht überbringen sollte.
»Gott will, dass wir uns in Vergebung üben«, mahnte Ioanna.
»Vergib mir, dass ich nicht vergeben kann«, antwortete Alexios leise.
*
Aus Ahnungen, die sie nicht zu deuten vermochte, gefiel es Anna überhaupt nicht, dass ihr Vater sie zu Bessarion begleitete. Sie hatte vor ihrem Vater keine Geheimnisse, und sie liebte ihn von ganzem Herzen, sogar etwas mehr als ihre Mutter, was sie für eine Sünde hielt, gegen die sie jedoch nichts tun konnte, dennoch warnte sie etwas in ihrem Herzen.
Bessarion staunte, diesmal Vater und Tochter zu begrüßen. »Willst du auch in Philosophie unterrichtet werden?«, fragte er scherzend.
»Wenn es meine Zeit erlaubte, nur zu gern«, erwiderte der Admiral etwas wehmütig. Loukas Notaras erfreute sich an dem Erfolg seiner Unternehmungen und an seiner stetig wachsenden Familie, zuweilen aber in stillen Momenten empfand er eine gewisse Trauer über das begrenzte Maß seiner Bildung. In diesen melancholischen Augenblicken suchte er sich mit dem Argument, dass man nicht alles haben konnte, zu trösten.
»Anna erzählte mir, dass du Besuch von einem Lateiner namens Nikolaus von Kues hattest.«
Bessarions Gesicht erhellte ein breites Lächeln. »Da du sicher gehört hast, dass er den Fürsten Angelos gerettet hat, fragst du dich, was den wackeren Mann, der bei mir und beim Fürsten verkehrt, nach Konstantinopel treibt?«
»In der Tat!«
Bessarion bot beiden Platz an, stöhnte und ließ sich auf einen Schemel nieder. »Ihr solltet endlich eure Feindschaft begraben. Sie ist nicht gut für die Stadt und für euch auch nicht.«
»Du hast leicht reden, dich wollte er nicht töten lassen. Hätte ja auch beinah geklappt.« Anna spitzte die Ohren, dass Alexios Angelos ihrem Vater einst nach dem Leben trachtete, wusste sie bisher noch nicht. Ihr ach so vertrauter Vater schien ein Mann mit Vergangenheit zu sein. Die Zeit vor ihrer Geburt kannte sie natürlich nur aus den Erzählungen ihrer Eltern, doch nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, dass Vater wie Mutter wichtige Episoden aussparten.
»Das ist lange her, Loukas«, versuchte der Abt dem Freund ins Gewissen zu reden, doch der machte ein Gesicht, das Bessarion verriet, dass der Admiral darüber nicht weiter reden wollte. Mit ihm nicht und auch nicht mit Anna, deren Neugier er damit weckte.
»Gut, zurück zu Nikolaus von Kues. Er ist ein hervorragender Philosoph und sucht nach Weisheit wie nach Büchern, gerade was unsere Philosophie betrifft, Schriften von Platon, Plotin, Proklos, Jamblichos, na von Leuten, die du leider nicht kennst.«
Die unbeabsichtigte Anspielung auf die mangelhafte Bildung des Admirals saß. Loukas Notaras ließ sich zwar nichts anmerken, aber Anna spürte, wie das Gesicht ihres Vaters undurchdringlich wurde.
»In seiner Suche nach Weisheit ist er bei Angelos ja an der richtigen Adresse«, spottete Loukas und verkniff sich eine Bemerkung, wo die ganze Weisheit des Fürsten zu finden wäre, da seine Tochter bei ihnen saß.
»Außerdem ist er der Legat des Papstes. Es geht um ein Unionskonzil.«
»Sind denn nicht schon Abgesandte der Ketzer in unseren Mauern, die den Kaiser zur Kirchenunion überreden wollen?«
Bessarion hob den Zeigefinger. »Abgesandte des Konzils von Basel, nicht aber Legaten des Papstes!«
»Wo ist da der Unterschied?«, fragte Loukas rhetorisch. Mit provozierender Nachsicht erklärte Bessarion dem Admiral, dass in Basel ein Konzil tagte, das den Papst abzusetzen gedachte, weil er nicht bereit war, sich dem Konzil unterzuordnen. Papst Eugen IV. bestand im Gegenteil darauf, dass sich das Konzil ihm beugte. Es ging um Prinzipielles, herrschten die Päpste über die Konzilien oder die Konzilien über die Päpste? Papst oder Konzil? Wem kam in der Kirche der Vorrang zu?
Loukas brach in schallendes Gelächter aus, sodass ihm Tränen in die Augen traten. »Sie wollen sich mit uns vereinigen und streiten sich untereinander wie die Kesselflicker? Sollen sie erst mal Einigkeit in ihrer Kirche herstellen, dann können wir darüber nachdenken, ob wir überhaupt mit den lateinischen Ketzern zusammengehen.«
»Sie sind keine Ketzer, sondern Christen wie wir.«
Loukas machte eine wegwerfende Handbewegung. Seit seiner Rückkehr aus Mistra vertrat sein Freund Bessarion seltsame Ansichten, die beim Thema der Reform des Reiches sich den Vorstellungen seines Erzfeindes gefährlich näherten. Anna beobachtete, dass sich der Körper ihres Vaters straffte, was nur bedeuten konnte, dass er begann, seinem Freund Bessarion das Vertrauen zu entziehen. Sie kannte die Ausdrucksweise ihres Vaters, was seinen Körper, aber auch seine Sätze betraf, und wusste, wann er befremdet reagierte und vorsichtig wurde. Nun erwärmte sich der Abt zu allem Überfluss auch noch für eine Kirchenunion mit den Lateinern, die Loukas Notaras aus zwei Gründen ablehnte.
Anna staunte über das, was sie zu hören bekam, denn vor allem verstand sie, dass dieser Gelehrte ein gefährlicher Mann war, anders als ihr gutmütiger Bessarion.
Loukas wünschte seiner Tochter viel Spaß beim Unterricht, verabschiedete sich und begab sich sogleich zum Patriarchen.
Anna indessen sann darüber nach, wie sie den Lateiner wiedersehen konnte, so intensiv, dass diesmal sogar Bessarion ihre Unaufmerksamkeit feststellte, der doch von Menschen nichts verstand, und sie dafür gutmütig rüffelte.
An der Pforte kam ihr eine Idee, und sie erkundigte sich beim Pförtner, wo Nikolaus von Kues im Kloster wohnte. Der Mönch musterte das Mädchen, doch Anna setzte ein so naives Gesicht auf, dass er ihr die Lage der Klause, nämlich zwei Zellen hinter der Wohnung des Abtes, verriet. Das Mädchen machte beherzt kehrt und ging den Weg zurück, sandte ein Stoßgebet zum Himmel, als sie Bessarions Tür passierte, dass der Abt nicht ausgerechnet in diesem Moment heraustrat und sie mit seiner Frage in Verlegenheit brächte.
Dann stand sie vor der Tür des Lateiners. Schon hob sie die Hand, um anzuklopfen, ließ sie aber wieder sinken, haderte mit sich, ob es nicht doch besser wäre, wieder zu gehen, wandte sich schon nach rechts, schalt sich aber als feige und fühlte sich von Neugier und Scheu hin und her gerissen.
Loukas Notaras verließ den Patriarchen Joseph II. tief verärgert, denn im Gespräch ließ das Oberhaupt der byzantinischen Kirche nicht nur Sympathien für ein Konzil und eine Union erkennen, sondern lehnte auch jede Mithilfe ab, einen Empfang des päpstlichen Legaten beim Kaiser zu verhindern. Wofür spendete man der Kirche so viel Geld, fragte er sich verärgert und erwog kurz die Möglichkeit, aus pädagogischen Gründen die Spenden für eine gewisse Zeit spürbar zu reduzieren, verzichtete dann aber doch darauf, weil er den Patriarchen nicht verärgern wollte. Wer Geld nahm, wollte nicht ständig daran erinnert werden, dass er sich bestechen ließ.
Der päpstliche Legat Nikolaus von Kues indes saß am Krankenbett des Fürsten Alexios Angelos. Er grüßte den Befehlshaber von Seiner Eminenz Giuliano Cesarini. Der kleine Kardinal hatte nicht nur den Papst überzeugt, einen Kreuzzug gegen die ungläubigen Türken und zur Befreiung der unter muslimischem Joch lebenden Christen auszurufen, sondern auch Sigismund bewegt, die Herren Europas für den Heiligen Krieg zu gewinnen. Einen euphorischen Mitstreiter hatte er schon gewonnen, den mächtigen Herzog von Burgund, Philipp den Guten.
»Jetzt müsst Ihr Euren Teil beitragen. Das Unionskonzil muss stattfinden.«
»Kommt zu uns!«, schlug der Fürst vor.
»Das geht nicht«, erwiderte Nikolaus von Kues. »Um endgültig das Konzil von Basel zu besiegen, benötigt der Heilige Vater ein erfolgreiches Unionskonzil auf italienischem Boden. Der Kaiser als Oberhaupt der orthodoxen Kirche, der Patriarch von Konstantinopel und andere große Kirchenfürsten und tonangebende Theologen müssen daran teilnehmen, sodass wir am Ende die Vereinigung der Kirche beschließen können.«
Alexios dachte nach. Er ahnte, dass es nicht leicht werden würde, das durchzusetzen. »Ihr seht keine andere Möglichkeit?«
»Bedaure, nein. Außerdem müssen wir auf der Hut sein, denn wie ich erfahre, hat auch das Konzil Gesandte geschickt, um den Kaiser nach Basel zu locken. Fürst, die Griechen sind das Zünglein an der Waage! Sowohl der Papst auf der einen Seite als auch das Konzil auf der anderen Seite brauchen den Erfolg.«
»Ich kümmere mich darum, dass Euch eine Audienz gewährt wird. Seid dann überzeugend. Redet mit dem Patriarchen. Sphrantzes wird für Euch ein Treffen mit der Kaiserin Maria arrangieren. Sie hat großen Einfluss auf ihren Mann.«
Um wie viel einfacher wäre das alles, dachte er, wenn er anstelle des unsicheren Johannes Kaiser wäre.
*
Schließlich hatte sie ihre Unsicherheit überwunden und angeklopft. Zu ihrer Enttäuschung blieb das erhoffte »Herein« aber aus. Der Legat schien sich nicht in seiner Unterkunft zu befinden. Sie wollte gerade unverrichteter Dinge aufbrechen, als ihr Nikolaus von Kues auf dem Gang entgegenkam, den Kopf gebeugt, tief in Gedanken versunken.
Plötzlich bereute Anna ihren Entschluss. Noch hatte er sie nicht bemerkt, noch konnte sie in die Tiefen des Klosters verschwinden, um ihm auszuweichen. Innerlich schalt sie ihren Übermut. Der Legat war nicht nur ein fremder Mann, sondern auch ein Ketzer, wenn ihr Vater recht hatte. Auf alle Fälle war er jemand, der gegen die politischen Vorstellungen ihres Vaters arbeitete. Ihren Vater liebte sie, während sie der Fremde hingegen abstieß, wenngleich sie an ihm auch liebenswürdige und vor allem interessante Seiten entdeckt hatte. Also, wie nun? Bleiben oder gehen? Die Zeit zur Entscheidung verrann. Sie wandte sich in die entgegengesetzte Richtung, stürmte los, da hörte sie in ihrem Rücken fragend: »Anna?« Schon wollte sie schneller laufen, drehte sich aber doch zu ihm. Und wäre am liebsten im Erdboden versunken.
»Anna«, strahlte jetzt der Gelehrte. »Welch schöner Zufall!« Er war klug genug, nicht zu fragen, ob sie zu ihm wollte. Damit hätte er sie nur noch mehr in Verlegenheit gebracht. Vielleicht kam es ihm auch nicht einmal in den Sinn, dass er der Grund wäre, weshalb sie hier stand.
»Wie war die Lehrstunde?«
»Lehrreich.«
»Ah ja. Lehrreich. Ich hoffe doch sehr lehrreich.«
»Ja, aber ja. Außerordentlich lehrreich.« Sie trat von einem Bein aufs andere und versuchte dabei noch, gelassen zu wirken.
»Und Spaß? Hat es auch Spaß gemacht?«
»Oh ja, sehr doch.«
»So, so. Gut, gut, ich meine sehr gut. Bei dem Lehrer!«
»Bei dem Lehrer sicherlich. Nun ja, mh, ich geh dann mal jetzt.«
»Mhmh. Natürlich.« Anna setzte sich in Bewegung und befand sich jetzt auf seiner Höhe.
»Habt Ihr etwas dagegen, dass ich Euch ein Stück begleite?«, preschte er hervor und schien selbst überrascht von seinem Angebot zu sein. Seine Unsicherheit verunsicherte sie vollends. »Nein! Ich meine, ja. Auf alle Fälle nur ein Stück, nicht mehr, schwört«, stotterte sie und hoffte, dass er den Eid ablegte, es wäre mehr als nur ein Schwur gewesen.
»Sicher, nur ein Stück, ich schwöre, natürlich schwöre ich bei allem, was mir heilig ist, bei der Jungfrau Maria, bei unserem Herrn Jesus, bei der Weisheit, ja bei der Weisheit schwöre ich. Ich meine, ich kann Euch ja auch nur ein Stück weit begleiten, sonst würde ich mich auf dem Rückweg hoffnungslos verlaufen.«
Das amüsierte Anna. »Ein so weltläufiger Mann wie Ihr?«
»Vielleicht liegt darin ja der Grund für meine Weltläufigkeit, in der Unfähigkeit, mich zu orientieren. Jedenfalls lerne ich so ungewollt immer neue Orte kennen.«
»Niemand verläuft sich nach Konstantinopel. Jedenfalls nicht aus Versehen.« Schweigend verließen sie das Kloster und gaben einen seltsamen Anblick ab. Ein Mann und ein Mädchen, das seine Tochter sein konnte, gingen stumm in einer merkwürdigen Spannung nebeneinanderher, gefolgt von vier bewaffneten Männern, die entweder auf beide oder auf das Mädchen oder auf den Mann achtgaben. Für einen außenstehenden Beobachter wäre das zumindest nicht leicht zu beurteilen gewesen. Das Mädchen konnte sich nicht daran erinnern, jemals so lange und erst recht nicht beim Gehen auf ihre Fußspitzen gestarrt zu haben, als würde aus ihrem großen Zeh die Erleuchtung hervortreten.
»Ihr könnt sehr gut Latein«, sagte er, um überhaupt etwas zu sagen.
»Oh, danke.«
»Es ist eine Schande.«
»Wie, dass ich so gut Latein kann?«, fragte sie erschrocken.
»Nein, nein, das ist wundervoll. Es ist eine Schande, dass ich des Griechischen nicht mächtig bin«, beeilte er sich zu versichern. »Wie kann man für gelehrt und für gebildet gelten, wenn man die Sprache Platons und Plotins nicht beherrscht. In welcher gelehrten Unwissenheit trotten wir wie die Schafe auf den fetten Weiden der Wissenschaft und sind obendrein noch stolz auf das Latein, indem wir blöken?«
»Ihr könntet Griechisch lernen.«
»Das will ich versuchen, wenn mir die Zeit dafür bleibt. Aber gerade jetzt, wo ich es dringend benötige, steht es mir nicht zur Verfügung.«
»Alle, mit denen Ihr sprechen wollt, verstehen Latein.«
»Aber die Bücher nicht. Ich stehe in wahren Schatzhäusern und kann die Juwelen nicht erkennen. Wenn man die Sprache, in der die Bücher verfasst wurden, nicht beherrscht, bleibt man blind in einer Welt aus Licht.«
»Blind in einer Welt aus Licht, taub für die Worte der Offenbarung«, sagte sie mehr für sich. Sie verstand seinen Schmerz, dass er Bücher in der Hand hielt und nicht herausfinden konnte, ob sie das Werk eines allseits gepriesenen Scharlatans oder eines wahren Philosophen waren. »Stimmt, Ihr seid in einem hohen Maß hilfsbedürftig. Ihr wisst, was wichtig ist, könnt es aber nicht erkennen. Ich kann es erkennen, weiß aber nicht, ob es wichtig ist. Vielleicht kann ich Euch ein bisschen helfen. Ich übersetze Euch, worum es in den Schriften geht, und von Euch erfahre ich, was in den Schriften steht. Wir haben beide eine Form von Blindheit, Ihr in der Sprache, ich im Inhalt. Nutzen wir das Geschenk, dass wir einander unsere Blindheit ausgleichen können. Ich helfe Euch, und Ihr belehrt mich dafür!«
»Das würdet Ihr tun, mir wirklich helfen?«
»Wenn Ihr im Gegenzug alle meine Fragen beantwortet.«
»Ob ich das kann? Ich werde es jedenfalls versuchen, versprochen.«
»Wir müssten natürlich zuerst mit Bessarion reden«, wandte sie ein, um die Form zu wahren.
»Ja, das müssen …«
Dem Lateiner blieb plötzlich das Wort im Halse stecken, und sein Gesicht verdüsterte sich. Vor ihm stand eine Gruppe von fünf Dominikanern, ganz vorn ein knochiger Mann, der ausgemergelt wirkte und dessen Augen fiebrig glänzten. Hass entdeckte Anna in ihnen.
»Der Verräter! Der Judas! Gehen wir schnell weiter, meine Freunde, es stinkt nach Hölle«, sagte der Mönch mit knarrender Stimme.
»Zorn ist eine Todsünde, Innocentius«, antwortet Nikolaus von Kues gelassen.
»Heiliger Zorn nicht, aber die Wollust ist es, die Gier nach Mädchenfleisch. Es stinkt nach Sünde! Sünde, meine Brüder in Christo, Sünde, uh, wie das stinkt!« Bei diesen Worten durchbohrte sie der Blick des Dominikaners. Ihr wurde eiskalt. Gleichzeitig empörte sie die Art und Weise, wie der Ausgemergelte über Nikolaus und über sie sprach. Nichts Weiches war an ihm, kein Gramm Fett. Nicht einmal an seinen Ohrläppchen, weil er keine besaß. Es hieß, Teufel besäßen an einem der beiden Füße, der andere war ja laut verlässlicher Berichte ein Pferdefuß, sechs Zehen und an den Ohren keine Läppchen. Sie ahnte, dass der Mönche in Phantasien schwelgte, die jenseits ihrer Vorstellungskraft lagen und in die sie nie zu gelangen wünschte. Sie zweifelte daran, dass die Welt, in die der Dominikaner vorgedrungen war, Gottes Welt war.
»Pfui, wie unanständig Ihr doch seid, wie geistlos, wie ohne Kultur!«
»Metze!«, schimpfte der Mönch in seinem Jähzorn, von ihrer Erwiderung angestachelt, und spie ihr auf die Füße. Den Auswurf hatte er von tief unten und aus dem letzten Winkel der Nase geholt. Die grüngelbe Masse breitete sich auf dem Leder ihrer Schuhe aus. Einer ihrer Diener packte den dürren Hals des Dominikaners, zwang ihn auf den Boden und brüllte auf Griechisch: »Mach das wieder sauber, du Schwein!«
Während seine Ordensbrüder tapfer Petrus am Tage von Jerusalem nacheiferten, nur dass kein Hahn krähte, und sich beeilten, fortzukommen, sagte Anna auf Latein: »Mein Diener ersucht Euch, die Schweinerei, die Ihr angerichtet habt, zu beseitigen. Und für das grobe Schimpfwort entschuldigt Ihr Euch, denn Ihr habt meine Ehre beleidigt, und darauf steht bei uns der Pranger. Es ist kein Vergnügen, am Pranger zu stehen, aber für einen häretischen Mönch geradezu lebensgefährlich!«, sagte Anna kalt. Im Blick des Legaten lag Bewunderung über die Souveränität des jungen Mädchens, wie sie eigentlich nur von einem gestandenen Mann zu erwarten war. Mit den weiten Ärmeln seiner Kutte polierte der Dominikaner Annas Schuhe. Nachdem er das Leder auf Hochglanz gebracht hatte, forderte ihn Anna auf, sich endlich zu entschuldigen.
Vom Diener wieder auf die Beine gestellt, keifte der Mönch sie an: »Lieber brenne ich!«
Anna setzte ein gelangweiltes Gesicht auf. »Wenn das Euer Wunsch ist, dann soll er erfüllt werden. Wünscht Ihr nasses oder trockenes Holz? Buche oder Fichte oder Weide? Grüne Routen glimmen schön, heißt es«, sagte sie geschäftig und rief dem Diener auf Griechisch zu: »Lass uns dem Kuttenträger noch etwas Angst einjagen. Strafe muss sein!« Der Diener verstand, grinste und zog den widerstrebenden Mönch mit sich. Dieser wehrte sich mit Händen und Füßen, doch vergeblich. Anna machte Anstalten, den Weg fortzusetzen, und Nikolaus wurde angst und bange. »Ihr könnt doch nicht …«
»Man sagt, dass Feuer reinigt. Und der Mann stinkt so, als habe der Teufel seinen ganzen Unrat über ihn entleert und von seiner faulen Speise tafeln lassen, da kann eine Reinigung innen wie außen nicht schaden«, antwortete sie laut genug, dass der Mönch sie noch hören konnte.
»Nein, halt, ich will mich doch entschuldigen«, schrie der Dominikaner bebend vor Angst.
Anna winkte Diener und Mönch zu sich. Sie wusste, dass ihr Gesicht jetzt so undurchdringlich war wie das ihres Vaters, wenn er Gedanken und Gefühle verbergen wollte. Der Mönch schaute gehetzt von Anna zu Nikolaus. »Ihr seht Euch das auch noch an, anstatt mir zu helfen«, warf er dem Legaten vor.
»In meiner Heimat in Kues wird Gotteslästerern die Zunge abgeschnitten. Und Ihr habt mit Euren unreinen Phantasien Gottes Geschöpfe gelästert«, stieg der Legat, der Annas Spiel durchschaute, ein. Anna schnitt eine bedauernde Miene und wollte sich schon umdrehen, um ihren Weg fortzusetzen, als der Mönch auf die Knie sank und um Entschuldigung bat. Das Mädchen machte dem Diener ein Zeichen, der den Dominikaner losließ, und ging weiter. In ihrem Nacken spürte sie einen hasserfüllten Blick.
»Was war das nur für ein unangenehmer Mensch?«, fragte sie den Legaten. Nikolaus von Kues erzählte ihr vom Konflikt zwischen Papst und Konzil, von dem sie in Andeutungen schon etwas aus dem Gespräch zwischen Bessarion und ihrem Vater erfahren hatte. Fra Innocentius gehörte zur Gesandtschaft des Johannes von Ragusa, die vom Baseler Konzil geschickt worden war, um den Kaiser und die Würdenträger der orthodoxen Kirche nach Basel einzuladen.
»Eure Konkurrenz?«, fragte Anna spitz.
»So würde ich es nicht nennen, denn der Papst als Stellvertreter Christi ist einzig und hat keine Konkurrenz.«
»Aber wie können Christen nur so erbittert aufeinander losgehen, wo es doch an Feinden nicht mangelt?« Anna verstand den Hass nicht, den Männer aufeinander entwickelten, die alle Christus folgten, der Religion der Liebe.
»Müsste Liebe Euch nicht versöhnen?«
»Sehr liebevoll gingt Ihr auch nicht mit dem Mönch um.«
»Das war unter Euren Möglichkeiten, Ihr weicht aus.« Ihr Vater schien recht zu behalten, dass man sich von einem untereinander so zerstrittenen Volk wie den Lateinern besser fernhielt und sich von ihnen nicht in ihre Händel ziehen lassen sollte. Erschrocken bemerkte sie, dass sie fast zu Hause war.
»Wir müssen uns verabschieden, schnell«, sagte sie.
»Wann sehe ich Euch wieder?«
»Ihr wisst, wann ich Unterricht im Kloster habe.« Mit diesen Worten ließ sie den Gelehrten stehen und eilte in Richtung des Palastes. Dabei wunderte sie sich, wie schnell sie sich mit dem Lateiner verabredet hatte. Sorgen darüber, dass die Diener etwas ihren Eltern berichten könnten, musste sie sich zum Glück nicht machen, denn von denen verstand keiner Latein. Und dass es auf den Straßen der Stadt zu unliebsamen Begegnungen kam, stellte nichts Neues dar, dafür hatte sie ja den Begleitschutz.
Nach dem Abendessen, das die Familie bei dem schönen Wetter im Garten eingenommen hatte, fragte sie ihren Vater, warum er sich so ablehnend gegen das Unionskonzil verhielt.
»Weil es Sünde ist, denn die Lateiner verbreiten häretische Vorstellungen und nehmen zur Eucharistie ungesäuertes Brot. Außerdem würden die Türken die Union zurecht als gegen sich gerichtet empfinden. Ein unnötiger Konflikt mit ihnen wäre die Folge.«
»Aber Bessarion ist dafür«, warf Eirene ein.
Loukas schüttelte den Kopf. »Bessarion ist ein Träumer, ein Philosoph. Er muss aufpassen, dass er eines Tages nicht einmal in ein Loch fällt, weil seine Augen immer am Himmel kleben.«
»Vor allem ist er unser Freund!«, sagte Eirene. Ihr gefiel es nicht, wie ihr Mann über ihren langjährigen Gefährten sprach.
»Das wird er auch bleiben, meine Liebe. Aber du könntest zur Abwechslung dem Kind einmal erklären, was die Lateiner in den fünfzig Jahren, in denen sie in Konstantinopel herrschten, alles zerstört und gestohlen haben!«, entgegnete Loukas schroff.
Eirene wurde blass. »Wie sprichst du eigentlich mit mir?«
Loukas entschuldigte sich.
Eirene verschränkte die Arme. »Du bist sehr angespannt, Loukas. Merkst du das eigentlich noch?«
»Du hast recht.« Loukas atmete tief ein und wieder aus. »Aber ich habe Angst vor einem Unglück, um nicht zu sagen vor einer Tragödie. 1422 konnten wir die Katastrophe, die von den Abenteuern einiger adliger Herren und auch des Kaisers ausgegangen war, im letzten Moment noch abwenden. Die Türken sind seitdem nicht schwächer geworden.«
»Müssten wir nicht gerade aus dem Grund Verbündete suchen und die Türken schlagen, bevor sie uns über den Kopf wachsen?«, fragte Eirene.
In Loukas’ Lächeln lag ein Hauch von Resignation. »Sie sind uns längst über den Kopf gewachsen.«