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Kaiserpalast, Konstantinopel

Am Abend empfing eine sehr beherrscht wirkende Helena Palaiologina Loukas in ihrem Handarbeitszimmer. Sie hatte nach ihm geschickt. Ein leichter Luftzug wehte den lieblichen Geruch von Lavendel und Thymian herein. Die alte Kaiserin begrüßte den Kapitän kurz, wies ihm einen Platz auf dem Stuhl ihr gegenüber zu und machte ihm Vorwürfe, dass er es nicht für nötig befunden hatte, sie von der Geburt ihrer Urenkelin zu unterrichten. Loukas verteidigte sich und erinnerte die Kaiserin daran, dass Eirene als verstoßen und nicht mehr zur kaiserlichen Familie gehörend gelte.

»Unfug!«, fuhr ihm Helena energisch ins Wort. »Sie bleibt eine Palaiologina, so wie meine Urenkelin eine Palaiologina ist. Wie heißt sie eigentlich?«

»Anna.«

»Dann werde ich ihr morgen einen Besuch abstatten.« Loukas wollte sich erheben, doch die Kaiserin machte ihm ein Zeichen, sitzen zu bleiben. »Reden wir über die Familie, wenn wir die Familie verteidigt haben.« Während der Kapitän der Kaiserin zuhörte, bewunderte er seinen Vater. Es war so gekommen, wie Nikephoros es vorausgesehen hatte. Manuel oder Helena würden ihn in die Politik und an die Seite ihres Sohnes zurückholen.

Eine Stunde später saß er bereits zwischen den Oberbefehlshabern der Truppen und der Flotte im Geheimen Rat, den Kaiser Johannes VIII. im Geheimen Besprechungssaal abhielt. Da die Flotte nicht benötigt wurde, beschloss man, die Matrosen bis auf kleine Schiffswachen als Unterstützung gegen den türkischen Ansturm auf den Zinnen einzusetzen.

Johannes warf dem Kapitän einen müden Blick zu. »Gibt es die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung? Du kennst doch Murad.«

Loukas hatte diese Frage erwartet und sich zugleich vor ihr gefürchtet, zumindest vor ihrem zweiten Teil. Nach seiner Meinung hatte die Unterstützung, die Konstantinopel dem falschen Mustafa gewährt hatte, Murad lediglich verärgert. Die Eroberung von Gallipoli jedoch hatte die Tür für eine Verständigung krachend zugeschlagen. Politisch eine Meisterleistung!, dachte er. Er sagte es nicht, aber die Kritik stand im Raum. Die Männer starrten betreten zu Boden, und auch der Kaiser brachte alle Selbstbeherrschung auf, um nicht vor Scham den Blick zu senken, denn Gallipoli hatten sie nur wenige Monate besessen. Murad hatte sich die Stadt fast mühelos zurückgeholt. Für die kurze Zeit des Hochgefühls und des Triumphs hatten sie einen sehr hohen Preis bezahlt!

Die Anklage des Kapitäns wirkte umso stärker, als er in seiner Rede jeden Vorwurf vermied. Nun kam für ihn das Schwerste: Es existierte eine diplomatische Möglichkeit, von der jedoch nur er selbst etwas wusste. Sie in Erwägung zu ziehen bedeutete für Loukas, den Sultan, der ihm das Leben geschenkt hatte und dem er sich verpflichtet fühlte, zu hintergehen. Und damit nicht genug. Wollte er verhindern, dass ein Makel an ihm kleben blieb, musste er den Sultan sogar doppelt betrügen. Was ihn geradezu anwiderte, hatte er ins Werk zu setzen: ein doppeltes Spiel. Nicht für Helena, nicht für Manuel, nicht für Johannes noch für Konstantinopel, einzig und allein für seine Familie, für seine Tochter würde er es tun. Er bat den Kaiser um ein Gespräch unter vier Augen. Johannes schickte die Ratsmitglieder hinaus. Freundliche Blicke erntete Loukas dafür von den mächtigsten Männern des Reiches nicht, aber die Gefahr war zu groß, dass einer von ihnen ihn aus Gier oder aus Neid verriet.

»Georgios Sphrantzes bitte auch«, sagte Loukas.

Ihre Blicke kreuzten sich, kalt und hasserfüllt. Der Kaiser machte eine Handbewegung. Der Geheimsekretär verließ sein Stehpult und verfügte sich auf den Flur.

Sobald sie allein waren, berichtete der Kapitän dem Kaiser von dem Boten, den Ilyah Pascha ihm geschickt hatte und der auf Antwort wartete. Im Blick des Kaisers lag Bewunderung. »Wir haben dich unterschätzt!«, entfuhr es Johannes.

»Nur in diesem Punkt erlaubt mir, Euch zu widersprechen. Das habt Ihr nicht, denn Ihr selbst wart es, der mich damals mit der ehrenvollen Aufgabe betraut hat, Verbindung zu Murad und Mustafa, den Söhnen Mehmeds, aufzunehmen. In weiser Voraussicht habt Ihr, Erhabener Kaiser, mir, Eurem unwürdigen Diener, diese Mission übertragen.«

Loukas wusste, wie gefährlich ein Lob des Kaisers für ihn werden konnte, wenn es mit der Selbstkritik des Herrschers einherging. Deshalb warf er sich vorsorglich in den sprichwörtlichen Staub. Johannes lächelte, und Loukas spürte, dass dem Sohn Manuels das erste Mal der Gedanke kam, mit ihm zusammenarbeiten zu wollen.

»Was schlägst du also vor?«

»Lasst mich die notwendigen Schritte einleiten. Weil die Angelegenheit zu gefährlich ist, bitte ich darum, Euch unmittelbar Bericht erstatten zu dürfen. Im Interesse des Reiches sollte keine dritte Person davon erfahren.«

Der Kaiser nickte und entließ ihn.

Damit war die Mission beschlossene Sache, eine Mission, die Loukas alles andere als lieb war. Gegen Mitternacht beriet er sich mit seinem Vater. Sie mochten darüber so viel nachdenken, wie sie wollten – es gab einfach keine andere Lösung. Loukas musste sich selbst nach Bursa begeben, um mit Mustafa und Ilyah Pascha die Bedingungen auszuhandeln. Das konnte man keinem Boten überlassen. Also hieß es wieder, Abschied zu nehmen. Wie er das hasste!

Eines seiner fünf Schiffe würde ihn nach Chalkedon übersetzen. Die Stunden bis zum Morgengrauen verbrachte er bei seiner Tochter. Er sah ihr beim Schlafen zu. Als sie weinend und schreiend erwachte, weil sie etwas quälte, nahm er sie aus ihrer Wiege und legte ihren kleinen Körper an seine Brust, das Köpfchen mit der rechten Hand haltend. Er sang mit seinem Bariton Lieder von der See und von Gott und von den Taten des Odysseus, möglichst tief, möglichst brummend, denn er hatte die Erfahrung gemacht, dass der tiefe, vibrierende Ton das kleine Mädchen am schnellsten beruhigte.

So brach allmählich der Morgen an. Es war windstill. Glatt wie ein Spiegel lag das Meer da. Wie ein gewaltiger Feuerball ging die Sonne im Osten über dem Bosporus auf und färbte das Wasser in den Widerschein des Blutes.

Behutsam legte Loukas seine schlafende Tochter in die Arme der Amme. Den Duft seines Kindes wollte er nicht aus der Nase verlieren, dieses reine und süße Aroma, wie eine Frühlingswiese mit Anemonen und Melisse. Dann schlich er ans Bett seiner Frau. Sie hatte nicht tief geschlafen und schlug die Augen auf, weil sie seine Schritte vernommen hatte. Er setzte sich zu ihr aufs Bett. Sie wirkte noch immer sehr schwach, aber Martina Laskarina war zuversichtlich. Die Wunde hatte sich nicht entzündet. Der Kapitän küsste nachdenklich ihre Finger.

»Dich bedrückt doch etwas! Nur heraus damit«, ermunterte sie ihn.

Wie viel durfte er ihr zumuten?

»Sag schon, ich erfahre es ohnehin, dann möchte ich es lieber von dir hören.« Eirene hatte aufgehört zu lächeln und sah ihn fest an.

»Murad belagert die Stadt.«

»Ich weiß.«

»Woher?«, entfuhr es ihm überrascht.

Sie machte nur eine vage Handbewegung. »Die Dienstboten. Ist das so wichtig?«

»Nein, natürlich nicht. Ich muss nach Bursa reisen. Mustafa will sich mit uns verbünden.«

»Denkst du manchmal auch an uns?«

»Ich reise dorthin, weil ich an euch denke. Eudokimos hält im Hafen die ›Nike‹ seetüchtig. Sollten die Türken die Stadt stürmen, läuft die Galeere mit euch an Bord aus. Mein Vater und Eudokimos sind auf den schlimmsten Fall vorbereitet.«

Sie schüttelte den Kopf. »So meine ich es nicht. Ich zweifele nicht daran, dass du für uns Vorkehrungen triffst.« Er warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Was ist, wenn dir etwas passiert? Was wird dann mit uns, mit unserem Leben?«

Vorsichtig, um ihr nicht wehzutun, umarmte er sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Mir passiert nichts. Eure Liebe schützt mich, aber es ist nun einmal die beste Chance, die wir haben.«

»Wenn das die beste ist, möchte ich die anderen gar nicht erst kennen!«

»Sorge dich nicht«, rief er ihr von der Tür aus noch zu. Und hoffte inständig, dass es bei Weitem gewisser klang, als ihm zumute war. Dann war er bereits auf dem Weg zum Schiff.