12
Notaras-Palast, Konstantinopel
Sein Leben sank in die Fieberwellen der Nacht. Klopfenden Herzens wartete Loukas unter den Augen des Pantokrators, der von der Kuppel herabschaute, auf Eirene. Tage? Wochen? Monate? Er hatte längst vergessen, wie lange er ihrer hier schon harrte. Wieder öffnete sich die linke der drei mächtigen Türen. Ungewöhnlich laut drang das kratzende Schaben von Metall auf Metall der Türangeln an seine Ohren. Tausende hatte er inzwischen eintreten und die Kirche wieder verlassen sehen. Alte, Junge, Männer, Frauen, Reiche, Glückliche und Unglückliche. Aber Eirene war nicht unter jenen gewesen, die – sei es aus Gewohnheit oder tiefem Glauben, aus Dankbarkeit oder in Bedrängnis, mit Hoffnung oder getrieben von Angst – Gottes Haus betraten, um unter seinen Fittichen Trost und Gewissheit zu finden.
Endlich erschien sie im Türrahmen. Sie hatte mit den langen, grazilen Fingern ihrer zierlichen Hand das schwere Türblatt aufgedrückt. Leichtfüßig, als schwebe sie über eine dünne Eisdecke, lief sie in die Mitte der Vierung. Aber was war dies? Sie kam zwar auf ihn zu, aber ihr Gesicht verriet keine Regung. Sie stand jetzt neben ihm und spürte ihn nicht! Sie griff durch ihn hindurch, als wäre er Luft. Er blickte ihr fest in die Augen, sie erwiderte seinen Blick nicht. Warum nahm sie ihn nicht wahr? Er war doch da!? Er lebte doch und war kein Geist. Oder irrte er sich?
Immer enttäuschter schweiften ihre Blicke umher. Schließlich ließ sie die Schultern fallen und wandte sich dem Ausgang zu. Er bemühte sich, ihr zu folgen, konnte sich aber nicht von der Stelle bewegen. Es war, als wänden sich die Schlangen der Pallas Athene um seine Schenkel und hielten ihn fest.
Eirenes ganze Körperhaltung drückte Kummer aus, aber auch verletzten Stolz. Verzweifelt schrie Loukas gegen die Lähmung an, gegen die Watte, die jeden Laut von ihm erstickte. Als die linke Tür wieder hinter ihr zuschlug, drang er endlich durch: »Eirene!«, rief er verzweifelt.
Zu spät. Keiner in der Hagia Sophia, der nicht zu ihm blickte, von diesem mächtigen Ton überrascht. Nur sie nicht, sie war fort!
»Es ist gut, ist ja gut, mein Sohn«, hörte er die beruhigende Stimme seiner Mutter, die ihm die Wadenwickel und das Stirntuch wechselte. In diesem Moment wusste Thekla Notaras, dass ihr Sohn verliebt war in eine Frau, die Eirene hieß. Niemals aber wäre sie auf die Idee gekommen, dass es Eirene Palaiologina, die Enkelin des Kaisers war, für die das Herz ihres Sohnes schlug.
Sie erhob sich und streckte sich ausgiebig. Das Seidentuch, das sie sich umgeschlungen hatte, glitt dabei zu Boden und gab den Teil der Schultern frei, den das dunkelrote Damastkleid nicht bedeckte. Theklas schlanke Gestalt verlieh ihr ein junges Aussehen. Sie rieb sich die übernächtigten Augen und reckte die von der unbequemen Haltung schmerzenden Glieder. Aber all das war nichts gegen die Sorge, die sie quälte: Unverändert kämpfte ihr Sohn unruhig im Schlaf mit dem Knochenmann auf Leben und Tod.
Thekla fühlte weder Hunger noch Durst, nur das Verlangen, bei ihm zu sein, wenn er die Augen aufschlug. Die Tür öffnete sich einen Spalt und zum Vorschein kam der völlig verunsicherte Demetrios, ihr jüngster Sohn. Sie winkte den vierzehnjährigen Knaben zu sich.
»Wie geht es Loukas?«
»Bete für deinen Bruder, Demetrios, dann wird alles gut.«
Der Knabe nickte eifrig.
»Willst du das tun?«
Demetrios versprach es. Dann verdunkelte Zorn seine weichen Gesichtszüge. »Ich will Rache!«
Thekla lächelte gerührt, weil ihr sanftmütiger Sohn, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, nach Vergeltung rief. Sie durfte nicht lachen, das hätte ihn verletzt, denn er war ein guter, aber auch ein sensibler Junge. »Die Rache ist mein, spricht der Herr. Du aber bete! Geh zu Vater Dionysios und gib eine Ikone in Auftrag, eine Hodegetria, wie es noch keine gegeben hat, mach, beeil dich. Die Gottesmutter wird uns helfen!«
»Die Gottesgebärerin wird uns helfen«, sagte Demetrios halblaut. Thekla sah ihn erstaunt an. War das eine Frage oder eine Feststellung gewesen? Demetrios fuhr ernst mit seiner Hand über die seines Bruders, dann stürmte er aus dem Zimmer, um zur Hagia Sophia zu eilen. Er war erleichtert, weil er endlich etwas für ihn tun konnte. Die Tür schlug laut hinter ihm zu. Loukas hob kraftlos die Lider. Thekla stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus und befahl den Dienstboten, Speis und Trank zu bringen.
Die Rinderbrühe quälte er sich unter dem guten Zureden seiner Mutter hinein. Ihm wurde ein Tee aus Eisenkraut und Kamille gereicht. Die Ärztin, die in einem der Gästezimmer genächtigt und die man verständigt hatte, kam und wechselte seinen Verband. Dann begab sie sich zum Spital, um nach dem Rechten zu sehen.
Kaum hatte Martina Laskarina den Notaras-Palast verlassen, da meldete die Torwache dem überraschten Nikephoros, dass Eirene Palaiologina ihn zu sprechen wünsche. Der erfahrene Politiker wunderte sich über den hohen Besuch, empfing die Enkelin des Kaisers aber lieber privat in seinem Arbeitszimmer, um dem Treffen keine offizielle Note zu verleihen.
Der wilde Ritt hatte Eirenes Frisur durcheinandergebracht, und ihre Augen verrieten höchste Erregung. Ihre unordentliche Erscheinung gab Nikephoros eine Ahnung, worum es ging, und einen vagen Hinweis auf den Grund des Mordanschlags. Doch er neigte nicht zu vorschnellen Urteilen.
»Wie geht es dem Kapitän?«, fragte Eirene, ohne sich mit einem Gruß aufzuhalten.
»Eure Anteilnahme tröstet uns, aber wie kommen wir zu der hohen Ehre Eures Besuches?«, erkundigte sich der Hausherr.
»Gleich, gleich, aber sagt mir erst, lebt er, ich sehe keine Trauer in Euren Augen, also lebt er? Ja?« Sie forschte nach jedem Anzeichen, das ihr Hoffnung geben könnte.
Nikephoros fragte sich, ob er der jungen Frau vertrauen durfte, aber für jemanden, der geschickt worden war, um die Familie auszuspionieren, hatte sie einfach einen zu hohen Rang inne. Außerdem wirkte ihre Erschütterung echt.
»Man hat versucht, ihn zu ermorden«, sagte Nikephoros vorsichtig, sie dabei nicht aus den Augen lassend.
Eirene raufte sich das Haar. »Das weiß ich, guter Mann, ich weiß auch, wer dahintersteckt, aber sagt endlich, wie es ihm geht!«
»Er lebt, oder besser, er kämpft um sein Leben. Jetzt verratet mir aber, wer meinen Sohn überfallen hat.«
»Wer ihn überfallen hat, weiß ich nicht, aber wer den Befehl dazu gegeben hat, kann ich Euch sagen. Alexios Angelos. Der Mann, der glaubt, dass ich jetzt seine Frau würde.« Sie kniete nieder, um ihrer Bitte Nachdruck zu verleihen. »Lasst mich zu ihm!«
Nikephoros räusperte sich. Das alles war doch etwas sehr weit vom Hofzeremoniell entfernt. Zu weit für seinen Geschmack. Und es verunsicherte ihn, was er sich aber wie immer nicht anmerken ließ.
»Bitte!«, sagte Eirene und senkte demütig den Kopf.
»Nun gut, aber steht endlich auf. Erhebt Euch, es ziemt sich nicht! Doch zuvor sagt mir alles, was Ihr wisst.«
Es sprudelte nur so aus ihr heraus. Die Begegnungen mit Loukas, ihre Gespräche und der Auftritt von Alexios Angelos während ihrer Lektüre. Der Alte benötigte Zeit, über diese ungewöhnliche, zugleich riskante Situation nachzudenken, deshalb brachte er die Enkelin des Kaisers erst einmal zu seinem Sohn. Außerdem wusste er ja jetzt, wo der Mann mit der Lederklappe vor dem linken Auge, von dem Eudokimos gesprochen hatte, zu suchen war – und dort würde er ihn auch finden. Es drängte ihn doch jetzt sehr nach einem Gespräch mit dem Waffenmeister des Fürsten.
Dass sich Loukas ausgerechnet den mächtigen Günstling des Mitkaisers Johannes zum Feind erkoren hatte, gefiel Nikephoros gar nicht. Jetzt hieß es, klug seine Züge zu wählen. Ein Fehler genügte, und die ganze Familie Notaras würde ins Bodenlose stürzen, verfolgt, enteignet, inhaftiert, ins Exil getrieben, womöglich getötet, ausgelöscht und dem Vergessen preisgegeben. Nikephoros trug nicht nur die Verantwortung für seine Frau und seine beiden Söhne, sondern auch für die Gefolgschaft, für das Unternehmen Notaras, für das allein in Konstantinopel zweihundertfünfzig Menschen arbeiteten – die Mitarbeiter in den Handelsniederlassungen in Kaffa, Gallipoli, Rhodos, Negroponte, Monemvasia und Genua nicht mitgerechnet. Feinde hatte er genügend, wie sich auch genügend Interessenten für seine Stellung und sein Vermögen finden würden.
Außer Atem betrat Demetrios die Werkstatt des berühmten Malermönches Dionysios, die sich in einem Nebengelass der Sophienkirche befand. Er war den ganzen Weg gerannt. Neben der Tür ließen sich die beiden Seeleute nieder, die Demetrios sicherheitshalber begleiteten und die dem Jungen ein wenig das Tempo verübelten, das er angeschlagen hatte. Ein rauchiger, gleichzeitig unangenehmer Geruch umfing ihn. Die Werkstatt war nicht sehr groß, aber es gab einen Kamin und einen beherrschenden Steintisch, auf dem ein Becken mit brennender Kohle stand. Demetrios schaute sich erstaunt um. Auf dem Steintisch lagen verschiedene Marmorplatten, auf dem sich wie Schlangen und Käfer feuchte Klumpen unterschiedlicher Farbe rekelten. Der Meister, ein gebeugter Mann unschätzbaren Alters, trug andächtig Gips auf eine Holztafel auf.
»Es gibt Maler, die lassen sich die Tafeln von ihren Schülern vorbereiten. Aber das sind keine Meister, sondern erbärmliche Sünder. Unser Handwerk ist heilig! Ein Maler muss die Ikone von Anfang an, von der Auswahl des Holzes für die Tafel bis hin zum Auftragen des Firnisses, allein herstellen, denn das Malen einer Ikone ist ein Gebet. Wenn das misslingt, ist das Bildnis verpfuscht. Die Bilder sind Abbilder Gottes in unserer Seele, und wir müssen ihr die Heimat bereiten.«
Der Blick des Jungen fiel auf einen schwarzroten Stein, der in der Glut brannte.
»Ocker für die Haare und den Bart Christi. Wer bist du?«, fragte der Maler, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen.
»Demetrios Notaras, und mein Vater schickt mich.«
»Was kann ich für deinen Vater tun?«
»Er bittet Euch, eine Maria Hodegetria anzufertigen.«
Das Gesicht des Mönches zeigte kurz den Ausdruck von Unwilligkeit. »Anfertigen kann ich sie nicht.«
»Ihr seid doch der Meister!« Demetrios verstand ihn nicht.
Dionysios sah den Jungen ernst an, wobei er heftig seine Stirn massierte. »Ich kann nur die Muttergottes bitten, dass sie durch mich ihr Abbild schickt.«
»So bittet sie! Und bittet sie sofort! Fangt gleich an!«
»Droht euch Gefahr?«
»Ich weiß es nicht! Ich weiß nur, dass mein Bruder überfallen wurde und um sein Leben ringt. Helft, Meister, helft. Ich bitte Euch!«
Gegen seinen Willen wurden die Augen des Jungen feucht. Mit einem Blick erfasste der Mönch die Situation. »Ich werde die Muttergottes um Beistand bitten. Willst du mir dabei helfen, so bete mit mir, denn dein Flehen kann die Himmelstür öffnen, mein Sohn.«
Mit ausgestreckten Armen warf sich Dionysios vor einer kleinen Christusikone nieder, die an der Ostwand der Werkstatt hing und vor der die Flamme eines Öllämpchens züngelte. Demetrios tat es ihm gleich.
»O Mutter Gottes, die du so glänzend bist wie die Sonne, liebliche und mit Liebreiz umkleidete Mutter Gottes Maria!«, betete Dionysios.
Voller Inbrunst sprach Demetrios die Worte des Mönches nach. Er wollte alles tun, um seinem Bruder zu helfen.
Nachdem der Mönch das Große Muttergottesgebet gesprochen hatte, mit dem seine Malerei stets begann, erhob er sich.
»Ich weiß nicht, wie lange ich brauchen werde. Es liegt allein in der Hand der Jungfrau Maria. Aber sei unbesorgt, schon der Beginn ist eine Anleihe auf das Ergebnis.«
Demetrios, den das Gebet beruhigt hatte, schaute sich aufmerksam um. Ihn faszinierten die Werkstatt, die vielen Säckchen und Gläser und Dosen, in denen Steine und Pulver aufbewahrt wurden. In einer Glasröhre lagen Blätter, von denen sich Schnecken ernährten.
»Ich brauche ihren Speichel für die Vergoldungen. Pass auf, ich erkläre dir, wie es geht. Zunächst musst du den Speichel der Schnecke gewinnen. Setze eine Schnecke in eine Muschel oder ein Gefäß. Lege angezündetes Wachs an die Öffnung, durch die die Schnecke atmet, und sie wird gleich Speichel von sich geben. Du sammelst ihn und legst ihn auf Marmor mit etwas Alraun und Gold. Reibe es gut und füge auch etwas Gummi hinzu. Notiere so, was du willst, und du wirst staunen. Christus wird eine Rolle in der Hand haben, doch ich werde sie öffnen und werde mit goldenen Buchstaben schreiben: ›Dich, die wahrhaftige Gottesmutter, lobpreisen wir.‹«
»Das ist aus der Liturgie des Johannes Chrysostomos: ›Wahrhaftig würdig ist, Dich seligzupreisen, die Gottesgebärerin, die ehrwürdiger als die Cherubim und unvergleichlich glorwürdiger ist als die Seraphim, die unversehrt den Gott-Logos geboren hat, Dich.‹« Ein seliges Strahlen breitete sich auf Demetrios’ Gesicht aus: »Dich, die wahrhaftige Gottesmutter, lobpreisen wir.«
»So sei es, amen!«, sagte Dionysios.
»Womit, Meister, beginnt man, wenn man die Kunst erlernen will?«, fragte Demetrios.
»Die Dialog mit Gott ist?«
Der Junge nickte.
»Wer die Wissenschaft der Malerei erlernen will, muss zuerst dazu angeleitet werden, dass er nur einfach zeichnet und sich darin übt und übt und übt. Alles beginnt mit der Nachahmung. In der Nachahmung erlernt man das Handwerk, und die Beherrschung des Handwerks macht dich frei. Wie man sich im Herzensgebet übt. Anfangs spricht man oft die Worte des Gebets, bis man sie auch leise, bis man sie auch ohne Ton sprechen kann, eben innerlich. Dann denkt man weder daran, dass man betet, noch wie man betet, sondern man betet, wie man atmet. Hat man diese Stufe erreicht, ruft man Christi Namen mit jedem Herzschlag, mit jedem Atemzug. Und so ist es auch mit dem Malen. Wenn du nicht mehr daran denkst, wie du den Pinsel führst, sondern deine Hand dem Atem folgt, dann beginnst du, wirklich und wahrhaftig zu malen. Aber in das Mysterium der Kunst wird nur eingeführt, wer es auch will und muss. Frage deinen Vater, ob ich dich unterweisen darf, dann werde ich es tun. Aber, junger Notaras, bedenke eins, es ist nur ein Handwerk, und gleichzeitig ist es die Begegnung mit dem Absoluten. Erforsche dein Herz, ob du das wirklich willst, denn wer es nur halbherzig anfängt, wird unglücklich werden. Viele gehen den Weg, die meisten aus Eitelkeit. Viele sind unberufen, die wenigsten nur kommen ans Ziel, und das Ziel selbst bietet ein herbes Glück. Überleg es dir genau, Demetrios Notaras.«
Doch der Knabe hörte schon dem Malermönch nicht mehr zu. In seinem Kopf explodierten die Farben, die er in der Werkstatt des Meisters gierig mit seinen Augen getrunken hatte.