49.

Kalifornien, Amerikanischer Kontinent
Mount Whitney, Sierra Nevada
27. Juni 2081
Ortszeit: 16.35 Uhr
35 Tage nach dem Transporttest

Wilson zündete ein Streichholz an und hielt es an die Zigarette. Der Wind kam von hinten und wehte eine beständige Rauchfahne in die Gebirgslandschaft, die sich in der Ferne verlor. Wilson war nicht allein – ein zehn Mann starkes Sicherheitsteam in dunkelblauen Uniformen war rings um ihn und den Hubschrauber ausgeschwärmt.

Oben auf dem Gipfel des Mount Whitney konnte er nicht anders, als philosophisch zu werden. Barton hatte gesagt, dass hier alles gleich bleiben werde. Das kam ihm jetzt umso inhaltsschwerer vor, als Barton tot war und nur die Erinnerung an ihn an diesem wunderbaren Ort geblieben war. Wilson betrachtete den hohen grünen Wald und den langsam dahinströmenden Fluss, der sich im Tal ein Bett gegraben hatte. Eine weiße Wolkenbank zog sich über seinem Kopf zusammen.

In dem Moment drängte sich das Bild von Helena in seine Gedanken. Er hatte versucht, nicht so oft in Erinnerungen an sie zu schwelgen, doch nun schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. Sie fehlte ihm. Es tat einfach gut, an sie zu denken. Er fragte sich, wie ihr Leben wohl weiterging. Er korrigierte sich: weitergegangen war. Wenn sie noch am Leben wäre, dann wäre sie jetzt sehr alt. Er fragte sich, ob sie Kinder bekommen und geheiratet hatte und ob sie glücklich geworden war. Er brauchte seine ganze Entschlusskraft, nicht in den Archiven zu graben und ihre Geschichte ans Licht zu befördern. In einer Hinsicht wollte er nicht wissen, was aus ihr geworden war. So lebte sie in seinem Gedächtnis weiter als schöne, bewundernswerte junge Frau, mit der es ihm vergönnt gewesen war, auf seiner Reise durch die Vergangenheit zusammen zu sein.

Hoch oben über den Bergen legte sich ein Adler schräg in den Wind. Wilson musste daran denken, was Barton gesagt hatte: Es hat keinen Zweck, Sie auf solch ein Unternehmen vorzubereiten, wenn Sie nicht die richtige Einstellung haben. Dann nützt das ganze Training überhaupt nichts. Sie müssen zu jeder Zeit positiv denken. Sie müssen sich auf den Augenblick richten.

Wilson inhalierte einen weiteren Zug und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Er würde sein Bestes geben müssen, wollte er das Rätsel um Bartons Tod lösen. Er nickte. Positiv denken, sich auf den Augenblick richten.

Wilson hatte einen Plan, der aber keineswegs narrensicher war. Auf GMs Forderung hin hatte er an alle Beteiligten eine Mitteilung verschickt und darin seinen Auftrag und den Verlauf seiner Reise dargestellt. Das war der erste Austausch in der geistigen Schlacht zwischen ihm und dem Mercury-Team. Doch er hatte es nicht mit gewöhnlichen Menschen zu tun. Sie gehörten zu den scharfsinnigsten, findigsten Geistern der Welt. Die Frage war: Würde er die Wahrheit mit den Informationen, die er besaß, aufdecken können?

Denk positiv, befahl er sich.

Indem er die Szenarien durchdachte wie ein Schachspieler seine Züge, engte er den Kreis der Verdächtigen ein. Nur eine Handvoll Personen hatte die nötigen Mittel gehabt, um sein Unternehmen zu torpedieren, und genauso wenige die Möglichkeit, einen Gen-EP in die Vergangenheit reisen zu lassen. Um das zu bewerkstelligen, brauchte es mehr Leute, höchstwahrscheinlich das gesamte Mercury-Team. Dass der Inflator angeschlossen gewesen war, bewies, dass jemand das System vor kurzem noch benutzt hatte.

Wilson dachte an seine Schilderung in dem Rundschreiben an die Mitarbeiter. Nebenbei hatte er Helena Capriarty erwähnt, aber nicht unter ihrem richtigen Namen. Ihre übersinnliche Verbindung und ihre Unempfänglichkeit für eine optische trakenoide Reaktion musste er erst noch begreifen. Ihre Beteiligung aufzudecken war die einzige Möglichkeit, mehr über die Sache herauszufinden. Andernfalls würden die Antworten mit Geheimhaltungsstufe versehen.

Wilson dachte eine gute Stunde lang über das Problem nach.

Je mehr Leute involviert waren, desto größer waren seine Aussichten, die Verschwörer zu entlarven. Auf dem Gipfel sitzend ließ er sich den Wind um die Ohren pfeifen und dachte an seine Zeitreise wie an einen Traum. Es gab keinen besseren Vergleich. Die Schumann-Frequenz war am 21. Dezember 2012 – am Tag seines Rücktransports – wiederhergestellt worden, und die Zeit erschien wieder ausgedehnt, nicht zusammengedrängt. Er hatte seinen Auftrag ausgeführt; er hatte seinen Teil getan. Doch er war entschlossen, jeden Anflug von Selbstgefälligkeit zu unterdrücken. Er wollte herausfinden, wer Barton ermordet hatte und warum. Erst dann durfte er wirklich zufrieden sein.