17.

Houston, Texas
Richey Road, Bordersville
26. November 2012
Ortszeit: 15.36 Uhr
Unternehmen Jesaja – zweiter Tag

Mit beiden Händen zielte Helena auf den schmächtigen schwarzen Mann, aber der lächelte bloß. George saß breitbeinig und mit verschränkten Armen auf einer Bank vor der Tür seines Heims. Er sah nicht beunruhigt aus, kein bisschen. Helena hatte ihm unzählige Mal gedroht, hatte ihn eindringlich gebeten, hatte versucht, nett zu sein, und doch nichts aus ihm herausbekommen.

Die beiden Dobermänner saßen lässig im hohen Gras, als wäre das Ganze ein Picknick. Helena achtete sehr darauf, die Tiere nicht unnötig aufzuschrecken, doch es schien sie gar nicht zu interessieren, was vor sich ging.

»Um Himmels willen«, flehte Helena bestimmt zum zehnten Mal. »Machen Sie die Sache doch nicht so schwer.«

»Sie sind die kranke Schlampe«, entgegnete George. »Kein Zweifel.«

»Wieso meinen Sie das? Sagen Sie es doch!«

George verzog das Gesicht, als hätte er faulen Fisch gerochen. »Als Nächstes wollen Sie noch mit mir Krankenschwester spielen!« Er schüttelte sich übertrieben. »Auf keinen Fall! Diese kranken Spielchen machen Sie nicht mit mir, Frau. Ich arbeite in ’nem Krankenhaus, kapiert? Ich weiß genau, wie abgedreht diese Blut-Fetisch-Sache ist.«

»Ich weiß wirklich nicht, wovon sie reden«, stöhnte Helena. »Warum wollen Sie mir nicht glauben?«

»Weil Sie nicht vertrauenswürdig sind.«

»Nicht vertrauenswürdig? Ist das Ihr Ernst?«

»Ich bin immer ernst. Ich bin ein Washington!«

»Sie müssen mich mit jemandem verwechseln. Können Sie das nicht einsehen?«

»Ich habe Ihren Mann gesehen! O GOTT!« Wieder verzog George das Gesicht. »Der Typ ist hässlich wie King Kong

»Ich bin nicht verheiratet!«

»An Ihrer Stelle würde ich das auch abstreiten«, meinte George. »Ich kenne euch alle. Meine Frau leugnet auch, dass sie mich geheiratet hat. Und sie sagt, ich bin nicht vertrauenswürdig! Das ist gelogen! Ihr Frauen seid nämlich die Lügner.«

Helena wollte nichts mehr über Georges Eheleben hören. Er war schon oft genug auf dieses Thema ausgewichen. »Hören Sie, Mr. Washington, ich sage die Wahrheit. Sie müssen mir glauben.«

George bohrte ungeniert mit dem kleinen Finger in der Nase. »Wie kann ich Ihnen trauen, wenn die Mündung auf mich zeigt?«

Helena holte tief Luft. »Wollen Sie Geld? Ist es das? Sie griff in die Tasche und zog ein Bündel Zwanziger heraus. »Das löst Ihre Zunge, möchte ich wetten.« Sie warf ihm das Bündel in den Schoß.

George betrachtete die Scheine. »Sehe ich wie ’n Spitzel aus?« Er warf das Geld zurück. »Ich brauche kein Bares von ’ner abgedrehten Bullenbraut!«

»Soll das ein Witz sein?«

»Ganz bestimmt nicht!«

Helena kam zu dem Schluss, dass der Mann verrückt war und höchstwahrscheinlich auf Drogen.

»Ich mache keine Witze, wenn ein Packen Knete im Spiel ist«, sagte George. »Ich berufe mich auf den fünften Zusatzartikel.«

»Ich möchte nur den Mann finden, der in Ihrem Kofferraum gelegen hat.«

»Klar doch.«

»Ich will ihm nichts tun.«

George schüttelte den Kopf. »Und wenn Sie ein Engel aus dem Himmel wären, würde ich Ihnen nichts sagen.« Ein Linienjet brauste über sie hinweg und verschwand in der Ferne – der sechste in zehn Minuten. George sah ihm hinterher; dann fragte er beiläufig: »Was dagegen, wenn ich rauche? Ich möchte mich entspannen … im Gegensatz zu Ihnen.«

Resignierend zuckte Helena die Achseln. »Warum nicht.« Sie trat ein paar Schritte zurück, ließ die Waffe sinken und ging in die Hocke. »Ich geb’s auf, Mr. Washington. Aber ich kann beim besten Willen nicht begreifen, warum Sie sich so verhalten. Sie wissen doch nicht einmal, wer ich bin.«

»Ich würde niemals einen Freund verraten«, erklärte George. Das war es; das wurde ihm gerade klar. Wilson war sein Freund, und er würde für ihn tun, was er konnte, selbst wenn es ihn einen Packen Zwanziger kostete.

»Aber Sie haben diesen Wilson erst heute kennen gelernt. Warum machen Sie solch ein Geheimnis aus ihm?«

George nahm einen langen Zug von der Zigarette. »Das geht nur ihn und mich was an.«

Einer der Dobermänner trottete zu Helena und setzte sich neben ihre Füße. Sie streichelte das Tier am Kopf.

George war verwirrt, als er sah, wie sein Wachhund diese Aufmerksamkeit genoss. Er inhalierte und blies den Rauch durch die Zahnlücke. »Sie heißt Esther«, sagte er.

Eine nasse Zunge fuhr Helena über den Handrücken.

»Der Große heißt Tyson.«

»Hübsche Tiere«, meinte sie.

»Ich kapiere das einfach nicht. Die beiden waren die gemeinsten Viecher der Welt. Besonders bei Weißen.« Er stockte. »Und jetzt sehen Sie sich die beiden an. Das ist unbegreiflich.«

»Hunde haben eine gute Menschenkenntnis, Mr. Washington. Vielleicht eine bessere als Sie.«

George nahm einen weiteren Zug. »Das bezweifle ich.«

»Dieser Wilson hat Informationen, die ich brauche«, begann Helena von Neuem. »Darum bin ich hier.« Sie deutete auf das Mobilhaus. »Ich habe Ihr Haus gesehen, und Sie auch – durch seine Augen. Ich habe gesehen, wie er geduscht hat, dahinten. Ich habe ihn den Hund streicheln sehen.«

George musterte Helena fasziniert. Er wollte ihr gerne glauben, doch seine Logik untersagte es ihm. Sie war die schöne weiße Frau, von der Wilson ihm erzählt hatte. Es musste so sein.

»Dieser Wilson ist kein gewöhnlicher Mann«, fuhr sie fort. »Er hat Dinge getan, die sich nicht erklären lassen …« Sie ließ den Satz unvollendet, da sie sah, dass es keinen Zweck hatte. »Ich werde ihn finden«, sagte sie eher zu sich selbst.

»Ich habe Ihnen alles gesagt«, behauptete George. »Ich weiß gar nichts.«

Helena stand auf. »Würde es etwas nützen, wenn ich Ihnen noch einmal drohe?«

George blies den Rauch durch die Nasenlöcher und kicherte.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Helena und steckte die Pistole weg. »Ich weiß, Sie wollen ihn nur schützen, aber Sie irren sich.« Wie es schien, war ihr Ausflug nach Bordersville eine Sackgasse. »Auf Wiedersehen, Mr. Washington. Leben Sie wohl.«

George schlug die Beine übereinander. »War nett, Sie kennen zu lernen. Kommen Sie mich mal wieder besuchen.« Seiner Meinung nach brachten weiße Frauen immer nur Ärger.

Helena entfernte sich rückwärtsgehend, wobei sie ein wachsames Auge auf George hielt. Schließlich drehte sie sich um und ging zu ihrem Wagen. Das Dobermannweibchen trottete friedlich neben ihr her.

Helena war in gewisser Hinsicht zufrieden. Sie kannte jetzt Wilsons Namen, was eindeutig bewies, dass der Mann existierte, den sie gesehen hatte. Doch um mehr herauszufinden, würde sie auf eine neue Vision warten müssen – sofern eine käme.

Von Westen näherte sich ein Dröhnen, das diesmal nicht von einem Flugzeug stammte. Helena drehte sich nach dem anschwellenden Lärm um. Ein schwarzer Hubschrauber mit der Aufschrift »Polizei« erschien über den Bäumen.

Offenbar hatte Detective Olsen den Helikopter geschickt.

George, der das Schlimmste vermutete, sperrte den Mund auf, und die Zigarette fiel ins Gras. Der Mann der Blonden war da! Die schwarze Hightech-Maschine legte sich in die Kurve und wurde langsamer. Direkt hinter dem Grundstück auf dem offenen Gelände setzte sie zur Landung an.

Begleitet vom Getöse der Rotorblätter sank sie rasch herab und landete in einer Wolke auffliegenden Staubs. Die hinteren Türen öffneten sich, und vier Männer stiegen aus. Alle waren bewaffnet.

Helena drehte sich weg, als eine Staubwand auf sie zuraste.

George erspähte sein Gewehr im Gras, doch es war bereits zu spät. Tyson sprang auf die Eindringlinge zu. George versuchte, ihn zurückzuhalten, aber der große Hund schlüpfte ihm durch die Hände.

Während Helena sich den Staub aus den Augen rieb, erkannte sie einen der Männer. Sie hatte ihn ein paarmal in der Zeitung und im Fernsehen gesehen; die roten Haare und die imposante Körpergröße waren unverwechselbar. Der Mann war Commander Visblat von der Polizei Houston. Diese Reaktion hätte sie von Olsen nicht erwartet.

Tyson hetzte den Männern knurrend entgegen.

Visblat hob ruhig seine Dienstwaffe. Ein gedämpfter Schuss übertönte das Jaulen der Hubschrauberturbinen. Der Hund krümmte sich in der Luft und stürzte ins wehende Gras.

»Neiiin!«, schrie George, rannte mit ausgestreckten Armen los und warf sich neben sein verwundetes Tier ins Gras. Es atmete nicht mehr.

Aus dem wirbelnden Staub trat Visblat hervor. »Wo ist Wilson Dowling?«, brüllte er.

Georges Blick verschleierte sich vor Tränen. »Fahr zur Hölle!«, rief er. Auch er hatte Mühe, dem Blick des Commanders zu begegnen.

»Ich frage Sie noch einmal.« Visblat zielte auf den Mann, der vor ihm im Gras kniete. »Wo ist Wilson Dowling?«

»Sie haben meinen Hund erschossen!« Mit überschäumender Wut blickte George über die Schulter zu Helena. Sie ging in die Hocke, um Esther am Halsband festzuhalten. Sie rief etwas, doch beim Getöse der Rotoren konnte George nichts verstehen.

Visblat fasste die Frau ins Auge. »Eine Freundin von Ihnen?«

Der Polizeichef deutete schroff in Helenas Richtung, und seine drei Begleiter richteten die Waffe auf sie. George durchfuhr ein Schauder. In diesem Moment begriff er, dass Visblat sie gar nicht kannte – sie waren nicht Mann und Frau, wie er geglaubt hatte. Helena hatte die ganze Zeit die Wahrheit gesagt.

»Ich frage Sie zum letzten Mal!«, brüllte Visblat. »Wo ist Wilson Dowling?«

George nahm seinen Mut zusammen und blickte dem Commander in die Augen – der Kerl war noch größer und hässlicher als in seiner Erinnerung. »Ich habe eine Nachricht für Sie«, sagte er feixend.

Gespannt neigte Visblat sich herab.

»Wilson hat gesagt, ich soll Ihnen was ausrichten. Er hat gesagt«, und dann brüllte George aus Leibeskräften, »dass Sie ihn niemals kriegen, Sie ARSCHLOCH!« Er lachte hysterisch. »Er fand es geil, Ihre Frau zu ficken!«

Visblat schlug ihm mit der Waffe ins Gesicht. Das Blut spritzte aus der Platzwunde, und George kippte bewusstlos zu Boden.

Helena stand jetzt dem Commander Auge in Auge gegenüber. Houstons ranghöchster Polizist wirkte wie ein Besessener. Er strahlte etwas aus, das Helena in Panik versetzte. Esther begann zu knurren und zerrte an der Leine, doch Helena hielt sie fest.

Wäre es besser, aufzugeben?

Dann fiel ihr ein, was sie sich vor langer Zeit geschworen hatte: Sie würde sich niemals der Gnade eines anderen ausliefern, ganz gleich, um wen es sich handelte. Nicht einmal der Polizei.

»Ich will die Frau lebend!«, brüllte Visblat.

Die drei Polizisten liefen auf Helena zu, die Gewehre im Anschlag.

Helena hob die Pistole und gab einen Warnschuss ab. Die Männer tauchten ins hohe Gras. Plötzlich flogen Staub und Pflanzenteile in alle Richtungen, als der Hubschrauber sich ein Stück über den Boden erhob. Jetzt oder nie, dachte Helena, drehte sich um und rannte so schnell sie konnte zu ihrem Wagen. Esther sprang neben ihr her.

Der Hubschrauber landete wieder, und Commander Visblat sprang hinein. »Los!«, befahl er und deutete mit dem Daumen nach oben. »Ich will die Frau festnehmen!«

Der Pilot reagierte nervös. »Was ist mit ihm?« Er zeigte auf den Bewusstlosen im Gras.

Die blonde Frau erreichte soeben ihren Wagen. Visblat schlug dem Piloten gegen den Helm. »Egal! Diese Schlange hat auf uns geschossen! Fliegen Sie los!«

Der Pilot drückte einen Knopf und sprach ruhig in sein Helmmikrofon. »P-27 erbittet dringend Starterlaubnis. P-27 erbittet …«

Visblat packte den Piloten beim Helm und drehte dessen Kopf zu sich herum. »Abheben!«

»Sir, wir befinden uns im Bereich der Flugkontrolle! Der Wind ist …«

Visblat zog das Funkkabel heraus. »Bringen Sie die Maschine vom Boden weg, sofort! Das ist ein Befehl!«

Helena hörte das Rattern des Hubschraubers, als sie in den Wagen sprang. Bei einem Blick über die Schulter sah sie die drei Polizisten durch die Sträucher auf sich zurennen. Sie gab einen Schuss in die Richtung ab.

Esther sprang überraschend auf den Beifahrersitz. Es schien, als wollte der Dobermann beim nächsten Ausflug dabei sein. Da jetzt nicht der Moment für Diskussionen war, legte Helena den Rückwärtsgang ein und trat das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf, als der schwarze Mercedes in einer Staubwolke zurücksetzte. Mit durchdrehenden Rädern lenkte Helena den Wagen in die andere Richtung, legte den Gang ein und schoss in Schlangenlinien mit voller Beschleunigung davon.

Es kam ihr vor, als würde sie seit zwei Minuten zum ersten Mal Luft holen. Sie beschloss, schnellstmöglich zu ihrem Vater zu fahren; er würde wissen, was zu tun war. Sie schaltete ihr Mobiltelefon ein und wartete auf die Funkverbindung.

»Ich brauche einen besseren Winkel!«, brüllte Visblat. Er lehnte sich gefährlich weit aus der Tür des Hubschraubers, als sie den Sportwagen in Richtung Autobahn verfolgten. »Näher!«, brüllte er in die Kabine. »Sie darf nicht entkommen!«

Der Pilot ging auf Baumhöhe hinunter.

Der schwarze Mercedes kam Visblat vors Visier.

Er schoss.

Plötzlich strich ein massiger Schatten über den Himmel. Das Dröhnen war ohrenbetäubend. Für einen Moment wurde die Sonne verdeckt, als eine Boeing 767 mit ausgeklapptem Fahrwerk und offenen Landeklappen direkt über den Hubschrauber hinwegdonnerte.

Der Pilot neben Visblat arbeitete fieberhaft. Er riss das Höhenruder zurück, um so viel Höhe wie möglich zu gewinnen. Der Hubschrauber schoss aufwärts, sodass Visblat auf den Rücksitz stürzte. Die Kabine schwenkte ruckartig zur Seite und gierte sogleich zur anderen. Die Luftwirbel von den Tragflächen des Flugzeugs hatten eine katastrophale Wirkung.

Die Nase des Helikopters kippte nach vorn.

Es kam zu einem Flammabriss.

Helena machte eine Vollbremsung. Der Wagen schlingerte, doch der Sicherheitsgurt hielt Helena fest im Sitz. Durch die Windschutzscheibe sah sie entsetzt, wie der Hubschrauber abstürzte. Die Glaskanzel prallte mit unglaublicher Wucht auf die Straße. Die Rotorblätter zersprangen in tausend Stücke, die in alle Richtungen schossen, während die Kabine mitten auf der Straße schlitternd zum Liegen kam.

Ein paar Sekunden lang hielt das Bombardement der Stahlteile an.

»Großer Gott.« Helena starrte entsetzt auf die Reste der mehrere Millionen Dollar teuren Maschine. Ihr Blick schweifte zu einem Einschussloch in der rechten oberen Ecke der Windschutzscheibe. Dann blickte sie auf den Dobermann neben ihr. »Die haben versucht, uns umzubringen.«

Der Hund blickte sie verständnisvoll an.

Plötzlich rührte sich etwas in den Trümmern des Hubschraubers.

Die hintere Tür sprang auf, und Visblat stieg aus dem zerbeulten Rumpf. Aus einer Schnittwunde an der Stirn strömte ihm Blut übers Gesicht und aufs Hemd. Er hob die Waffe und taumelte vorwärts, hinkend und deutlich desorientiert.

Helena schnappte erschrocken nach Luft. Beim Anblick der stechenden blauen Augen Visblats stellten sich ihr die Haare auf. Sie trat das Gaspedal durch und raste mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf ihn zu.

In letzter Sekunde schwenkte sie ab.

Visblat zielte und feuerte, doch die Kugel schlug weit links in den Asphalt ein.